eJournals mensch & pferd international 14/2

mensch & pferd international
2
1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2022.art13d
41
2022
142

Praxistipp: Logopädie und Pferd - aus der Praxis für die Praxis

41
2022
Dagmar Löbbert
Unter den vielen verschiedenen Ausbildungsmodulen zum Reitpädagogen oder zur Reitpädagogin auf HorseHill, gibt es ein Wochenendmodul „Logopädie und Pferd“, welches einmal im Jahr stattfindet und immer großen Anklang findet.
2_014_2022_2_0007
mup 2|2022|73-76|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2022.art13d | 73 Dagmar Löbbert Praxistipp Logopädie und Pferd - aus der Praxis für die Praxis Unter den vielen verschiedenen Ausbildungsmodulen zum Reitpädagogen oder zur Reitpädagogin auf HorseHill, gibt es ein Wochenendmodul „Logopädie und Pferd“, welches einmal im Jahr stattfindet und immer großen Anklang findet. Aus langjähriger Erfahrung in der Praxis der Logopädie erzählt die Sprechwissenschaftlerin Dagmar Löbbert M. A. über ihre Herangehensweise bei Sprachstörungen in der Praxis, die sie mit dem Pferd unterstützt. Es gibt viel Theorie über Spracherwerb, Sprachstörungen und Interventionsmöglichkeiten in der Logopädie, aber auch sprachfördernde Möglichkeiten durch ReitpädagogInnen mit Pferd, die dann am zweiten Tag im Selbstversuch auf dem Pferd getestet werden. Was ist denn nun am Pferd so sprachfördernd? Viele Kinder haben bereits ein Störungsbewusstsein entwickelt, sie müssen zur Therapie, zur Logopädie, und es macht einen enormen Unterschied, wenn die Sprachförderung mit dem Pferd stattfindet, dann nämlich dürfen die Kinder zum Reiten. Natürlich kann eine Pferdestunde keine Logopädiestunde ersetzen, aber um die Motivation hochzuhalten und Störungsbewusstsein abzubauen und eine Unterstützung für die Therapie zu bieten, dafür sind die Pferde goldrichtig. „Nur ein entspanntes Gehirn lernt“, und da Pferde keine sprachlichen Ansprüche an uns stellen, können sich gerade Menschen mit Sprachproblemen völlig entspannen. Der Viertakt des Schrittes beim Reiten ist unserem Atemrhythmus sehr ähnlich, durch die gleichmäßige, dreidimensionale Bewegung ist eine Entspannung des Körpers und der Atmung möglich. Auch die aufrechte Haltung beim Reiten unterstützt das Sprechen, weil so das Zwerchfell frei schwingen kann und der Resonanzraum für die Stimme erweitert wird. Pferde urteilen nicht, auch nicht, wenn wir einen Laut oder Satz nicht bilden können; sie hören uns wertfrei zu und „verstehen“ uns. Dies erhöht das Selbstwertgefühl ungemein und trägt zu einer Erweiterung der sprachlichen Kompetenz bei, ohne Druck zu erzeugen. Die Herangehensweise im Kurs „Pferd und Logopädie“ ist spielerischer Art. Mund- und Zungenmotorik werden durch lustige Übungen trainiert, Laute werden durch Gesten „greifbar“ gemacht und Sprechhemmungen werden durch Unterhaltungen mit dem Pferd erleichtert. Die Freude an der Kommunikation mit dem Pferd ermöglicht ein neues Erlebnis des eigenen sprachlichen Könnens. Mund- und Zungenübungen ■ Pusten ist eine sehr gute Übung, um die für das Sprechen so wichtige Wangenmuskulatur aufzubauen. Ob auf dem Pferd Mähne verpusten oder auf einem selbstgemachten Minireitplatz (Holztablett mit Vogelsand und Bahnfiguren- 74 | mup 2|2022 Praxistipp: Löbbert - Logopädie und Pferd - aus der Praxis für die Praxis buchstaben) mittels Strohhalm Bahnfiguren zu pusten, ob Seifenblasen pusten auf dem Pferd oder Wettpusten von Wattebällchen über den Tisch: es macht Spaß und kräftigt die Muskeln. ■ Ansaugen kann man auch sehr gut mit Pferdebezug spielen. Man stempelt Pferdemotive (z. B. Hufeisen) und lässt diese ausschneiden (während dieser Zeit kann man die Zunge an verschiedenen Punkten z. B. am Gaumen „warten lassen“ - was die Zungenmuskulatur trainiert), um dann die ausgeschnittenen Schnipsel mit einem Strohhalm anzusaugen und auf ein grünes Blatt (Wiese) mit Klebestiftpunkten zu kleben. Grimassen und Zungenspiele werden am besten vor dem Spiegel oder auch auf dem Pferd durchgeführt. Man spannt verschiedene Gesichtsmuskeln nacheinander an, die Entspannungsphase dazwischen ist genauso wichtig wie die Anspannung: Augenbrauen hoch, Augenbrauen zusammen, Nase krausziehen, Mund spitzen, Mund breit ziehen, mit geöffneten Lippen von „O“ zu „E“ oder von Kussmund zu Breitmaulfrosch mit geschlossenen Lippen, Wangen aufblasen, zum Fischmund reinziehen, Zungenspitze an die Oberlippe, Unterlippe, den rechten und linken Mundwinkel, eine Beule in der Wangentasche zuerst auf der einen, dann auf der anderen Seite, Zähne putzen mit der Zunge. Atemerfahrungen und Atemvertiefung ■ Auf dem Pferd sitzend, liegt eine Hand am Gurt zum Festhalten und die andere liegt auf dem eigenen Bauch. Aufgabe ist es durch die Nase einzuatmen und dabei den Bauch „rauskommen“ zu lassen, beim Ausatmen durch den Mund geht der Bauch „wieder rein“. Auf diese Weise kann man mit und ohne Pferd seine Atmung sehr gut und leicht vertiefen. ■ Auf dem Pferd sitzend, wird man geführt und erspürt mit geschlossenen Augen seinen Atemrhythmus und den Schrittrhythmus des Pferdes. Man versucht die beiden aneinander anzupassen. ■ Auf dem Pferd sitzend, wird man geführt und legt bei jedem Einatmen und bei jedem Ausatmen abwechselnd eine Hand auf die gegenüberliegende Halsseite des Pferdes. Die Atmung vertieft sich, man findet seinen eigenen zum Pferd passenden Rhythmus und man überkreuzt die Mittellinie, um so auch noch beide Gehirnhälften anzusprechen. ■ Auf dem Pferd sitzend, wird man geführt und atmet tief durch die Nase ein und lässt den Atem in der Vorstellung durch die Fingerspitzen in Richtung Pferdemaul oder Richtung der eigenen Zehenspitzen oder als Verlängerung des Steißbeins nach unten strömen. Wichtig ist, die Reaktion des Pferdes zu beobachten. Meist werden sie ruhiger, fangen an, abzuschnauben oder sich zu entspannen. ■ Wahrnehmungsspiele auf dem stehenden Pferd: Das Kind liegt bäuchlings auf dem Pferd und der Reitpädagoge / die Reitpädagogin berührt z. B. mit einem Igelball das Kind an verschiedenen Körperstellen und fragt dann, wo es den Igel spürt. Viele Kinder kennen die Aus- Abb. 1: Seifenblasen pusten ist eine gute Übung, um die Wangenmuskulatur zu stärken Praxistipp: Löbbert - Logopädie und Pferd - aus der Praxis für die Praxis mup 2|2022 | 75 drücke für die Körperstellen jedoch noch nicht und brauchen die verbale Unterstützung des Reitpädagogen / der Reitpädagogin. Sprech- und Lautübungen ■ An den Bahnpunkten werden Tierlaute nachgeahmt. Bei „A“ quietscht der Affe, bei „K“ miaut die Katze, bei „B“ brummt der Bär. Entweder man gibt Tiere vor, oder lässt auch die Kinder überlegen, was es für Tiere mit diesem Anfangsbuchstaben gibt. Für größere Kinder bietet sich an, sich Tiere zu den Bahnpunkten einfallen zu lassen und mit diesen Sätze zu bauen. Die Steigerung ist z. B. durch die ganze Bahn wechseln (von „K“ zu „M“ zu reiten) und damit den Satz „Die Katze fängt die Maus.“ zu äußern. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. ■ Der Reitpädagoge / die Reitpädagogin gibt den Anfang einer Tiergeschichte vor und fordert das Kind auf, dem Pferd das Ende der Geschichte zu erzählen. Damit die Geschichte nicht zu kurz wird, kann man 5 W-Fragen vereinbaren, die der Reitpädagoge / die Reitpädagogin erweiternd stellen darf. ■ Wortfelder können gut geübt werden: „Was sieht man alles auf dem Reitplatz? “, „Was ist alles grün? “, „Welche Tiere leben auf dem Hof? “ usw. ■ Silbenklatschen im Schrittrhythmus. Anfangs überlegen wir uns Wörter mit zwei Silben; wenn dies gut funktioniert, erweitern wir die Silbenanzahl. Zuerst klatschen wir in die Hände, dann auf den Pferdehals und schließlich über Kreuz (linke Hand auf der rechten Halsseite und umgekehrt). Durch die die Körpermitte überkreuzenden Bewegungen wird die Vernetzung beider Hirnhälften aktiv gefördert. Kinesiologische Übungen, die ebenfalls sowohl die Sprache als auch den Energiefluss positiv beeinflussen, werden von den Teilnehmenden sowohl am Boden wie auch auf dem Pferd geübt. Stimmübungen Die Übungen für die Stimme sind sowohl für Personen mit Stimmproblemen, die zur Reitpädagogik kommen, als auch für die ReitpädagogInnen selbst, die ja erfahrungsgemäß viel und laut sprechen müssen, hilfreich. So sollen die Teilnehmenden ihre Wahrnehmung für ihre Körperanspannung, für gesunde Körperspannung und gute Körperaufrichtung (auch durch Übungen des Faszien-Yoga am Boden und auf dem Pferd) entwickeln. ■ Stimmhygiene und Stimmpflege bei bereits erkannten Stimmschwierigkeiten werden besprochen und ausprobiert. ■ Redegeschwindigkeitsübungen, die wieder von der Pferdeschrittbewegung beeinflusst werden, können im Selbstversuch viele wertvolle Erkenntnisse für die eigene Sprechweise bringen. ■ Durch Übungen wird die Erweiterung der stimmlichen Möglichkeiten wie Deutlichkeit der Aussprache, lautere Stimme, die nicht ermüdet, etc. trainiert. Abb. 2: Übungen mit dem Igelball fördern die Wahrnehmung 76 | mup 2|2022 Praxistipp: Löbbert - Logopädie und Pferd - aus der Praxis für die Praxis Stimmspiele Stimmmodulationen: Man stellt sich drei Tiere vor, die sich stimmlich unterscheiden, eines spricht hoch, eines tief und eines flüstert (Wechsel z. B. bei den Bahnpunkten; bei „B“ spricht der Bär ganz tief…). Kommunikationsübungen ■ Selbst ein gutes Sprachvorbild sein. ■ Interaktion - also Zuhören und Sprechen müssen sich abwechseln. ■ Aussprechen lassen, höchstens nachfragen, um zu erweitern. ■ Einfache, aber vollständige und korrekte Sätze bilden. ■ Positives Lernbzw. Sprechumfeld schaffen, welches zum Sprechen anregt. ■ Blickkontakt, auch um die Möglichkeit zum Lippenablesen zu bieten und die uneingeschränkte Aufmerksamkeit liegt beim Kind. Lieblingsspiel der Kinder: Dem Pferd Stimme verleihen, mit verstellter Stimme so tun, als ob das Pferd sprechen würde. Rollenspiele und Fantasiegeschichten, aber auch Beschäftigung mit der Sprache über Unsinnssätze, Witze oder Zungenbrecher erweitern das „Handwerkszeug“ Sprache für das Kind. Wichtig: Bei allen sprachfördernden Ansätzen ist es von enormer Wichtigkeit, dass man das Kind nicht zwingt, die richtige Lösung nachzusprechen. Wenn ein Kind eine „falsche Äußerung“ macht, z. B. „Pferd Wasser trinken“, erweitert man die Aussage richtig, indem man sagt „Genau, das Pferd trinkt Wasser“. Man korrigiert also nur indirekt und erweitert somit den Input des Kindes, ohne es auf seinen Fehler hinzuweisen. Man nennt dies korrektives Feedback. Wenn ein Kind ein Wort immer wieder falsch ausspricht, baut man selbst Sätze drumherum, in denen das Wort immer wieder richtig vorkommt. Das Kind äußert z. B. „den Simmel finde ich sön“, so erweitert der Reitpädagoge: „Du findest den Schimmel schön? Ja, ich finde den Schimmel auch schön. Am schönsten ist der Schimmel, wenn er schön sauber ist. Weißt du, im Sommer kann man den Schimmel waschen, damit er schön sauber ist.“ Dazu würde man nun bei jedem „Sch“ die passende Geste anbieten, damit das Kind diesen Laut erkennt und „begreifen“ kann. Oft fehlen Kindern mit Sprachproblemen feste Strukturen, die man mit ausreichend Zuwendung und gleichzeitig klaren Regeln bieten kann. Damit stellt man einen sicheren Rahmen für die Kinder bereit, in dem sie den Mut finden können, ihre Sprache neu zu entdecken. Anspannungen, körperliche Verspannungen und Stress, die entstehen, wenn das Kind merkt, dass es mit der Sprache Probleme hat, nicht verstanden oder gehänselt wird, lassen sich am besten mit Bewegung und hier mit der dreidimensionalen Bewegung des Pferdes lösen, Pferde stärken das Selbstbewusstsein, weil sie uns immer nehmen und akzeptieren, wie wir sind. Die Autorin Dagmar Löbbert geb. 1976, verheiratet, zwei Töchter, viele Tiere M. A. Sprechwissenschaft, Sprachheilpädagogik, Neuropsychologie (LMU München) Arbeit mit Kindern und Erwachsenen und Tieren zur besseren Kommunikation Kontakt info@kommisall.de