mensch & pferd international
2
1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2022.art18d
71
2022
143
Forum: Sich selbst erfahren mit Pferden
71
2022
Katrin Krivan
Die Arbeit mit Pferden ist aus vielen Fachbereichen wie etwa der Pädagogik, der Sozialen Arbeit und aus Therapie- und Beratungssettings nicht mehr wegzudenken. In diesem Artikel geht es um die unterstützende Wirkung der Pferde im Bereich der Selbsterfahrung.
2_014_2022_3_0006
mup 3|2022|111-119|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2022.art18d | 111 Forum Sich selbst erfahren mit Pferden Pferdegestützte Selbsterfahrung und bewährte Übungen aus der Praxis Katrin Krivan Die Arbeit mit Pferden ist aus vielen Fachbereichen wie etwa der Pädagogik, der Sozialen Arbeit und aus Therapie- und Beratungssettings nicht mehr wegzudenken. In diesem Artikel geht es um die unterstützende Wirkung der Pferde im Bereich der Selbsterfahrung. Pferde spiegeln das Verhalten der Menschen und unterstützen so bei der Reflexion der eigenen Identität, bei der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem eigenen Entwicklungsprozess. Begriffsklärung - Pferdegestützte Selbsterfahrung Durch die natürlichen Eigenschaften von Pferden ergeben sich gewisse Vorteile, welche bei der Selbsterfahrung genutzt werden können. Pferdegestützte Selbsterfahrung meint das Kennenlernen und Reflektieren der eigenen Persönlichkeit, des eigenen Erlebens und das Agieren in der Interaktion mit Pferden und / oder anderen Menschen. Selbsterfahrung ist ein wesentlicher Bestandteil in vielen psychosozialen Ausbildungen (Soziale Arbeit, Psychologie, Psychotherapie, Lebens- und Sozialberatung u. a.). Im Vordergrund stehen dabei immer die Selbstexploration und Selbstreflexion der eigenen Persönlichkeit. In dieser intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst unterstützt der Berater oder die Beraterin, das Verhalten zu erkennen, um in weiterer Folge in eine selbstreflektierende Haltung zu kommen. Pferdegestützte Selbsterfahrung vs. Training und Coaching Beetz, Riedel und Wohlfarth (2021, 20) definieren tiergestütztes Coaching als eine zielgerichtete, geplante und strukturierte Intervention. Es soll die Verbesserung von persönlichem inneren Wachstum und der sozialen und / oder sozioemotionalen Funktionen angeregt werden, es bietet Unterstützung bei gruppenbildenden Prozessen. Die Grenzen zu anderen Disziplinen wie dem tiergestützten Training und Coaching oder der pferdegestützten Persönlichkeitsentwicklung sind fließend. Konir (2012, 16) definiert pferdegestütztes Coaching als Prozess im Sinne einer persönlichen Weiterentwicklung und Selbsterkenntnis mit dem Pferd als Partner. Anhand dieser Beispiele lässt sich erkennen, dass Selbsterfahrung oft auch als Coaching, Training oder auch Persönlichkeitsentwicklung bezeichnet wird. Warum pferdegestützte Selbsterfahrung? Tiere wirken als „soziale Katalysatoren“: Der Kontakt mit „freundlichen“ Tieren oder die bloße Anwesenheit von Tieren kann die nonverbale und verbale Kommunikation und Interaktion zwischen den anwesenden Menschen verbessern. Der Kontakt gestaltet sich freundlicher, es wird mehr gelächelt und über Positives kommuniziert (Beetz, Riedel, Wohlfarth 2021, 25). 112 | mup 3|2022 Forum: Krivan - Sich selbst erfahren mit Pferden Diese Wirkung machen wir uns auch in der pferdegestützten Selbsterfahrung zunutze. Pferde sind dem Menschen nicht nur körperlich überlegen, durch ihre Kraft und Größe wecken sie beim Menschen Faszination und legen damit den Grundstein für eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung und somit auch zur Selbsterfahrung. Pferde spiegeln uns Menschen, in unserem Verhalten und auch unsere Emotionen. Sie reagieren dabei völlig wertfrei auf unsere Präsenz und auf die der Kundinnen und Kunden, in jedem einzelnen Augenblick. Kleinste Veränderungen in Mimik, Gestik, Körperhaltung und Verhalten werden vom Pferd wahrgenommen und rückgemeldet. Die Rolle der Beraterin oder des Beraters ist in diesem Fall die eines Dolmetschers. Wir sprechen diese Veränderungen an und machen sie dadurch für unsere Kundinnen und Kunden sichtbar, erleb- und begreifbar. Pferde reagieren auf unsere Körpersprache, nicht auf das gesprochene Wort. Pferde lügen nicht, sondern spiegeln menschliches Verhalten. „Sie reagieren prompt auf das nonverbale Verhalten, das anders als verbale Kommunikation nur schwer gefälscht werden kann, und reagieren damit in gewisser Weise sensitiver auf den tatsächlichen Zustand oder das Verhalten des Menschen. Dies wiederum spiegelt den wahren emotionalen Zustand des Menschen wider, der weiß, dass er sich beim Tier nicht verstellen kann oder muss, oder dass das Tier entsprechend reagiert“ (Beetz, Riedel, Wohlfarth 2003, 82). Pferdegestützte Selbsterfahrung soll es möglich machen, Authentizität zu erfahren und diese hautnah zu erleben. Es geht darum, Vertrauen in sich selbst und in die eigene Intuition aufzubauen. Motivation spielt dabei natürlich eine große Rolle - diese ist notwendig, um sich auch vertrauensvoll auf den Selbsterfahrungsprozess einzulassen. Es ist mir dabei ein persönliches Anliegen, Menschen einen Weg zu eröffnen, sich ihrer Bedürfnisse, Gefühle, Wünsche und Ziele wieder bewusst zu werden. Oft bleiben diese im Alltag unbewusst oder werden unterdrückt. In der pferdegestützten Arbeit ist der richtige Platz diese aufzuarbeiten. Nach Konir (2012, 21) sind Pferde Meister der präzisen Wahrnehmung. Durch ihre natürlichen Verhaltensweisen als Flucht- und Beutetiere müssen Pferde kleinste Hinweise auf Gefahren rechtzeitig erkennen und in Handlungsabfolgen umsetzen. Diese Eigenschaften werden auch in der pferdegestützten Selbsterfahrung genutzt. Abb. 1: Gegenseitiges Beobachten Forum: Krivan - Sich selbst erfahren mit Pferden mup 3|2022 | 113 Spiegelneuronen, Vorgänge im Gehirn und deren Bedeutung für die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Pferd Spiegelneurone sind Nervenzellen im Gehirn von Säugetieren (also auch im menschlichen Gehirn) und ermöglichen uns unter anderem empathisch zu sein. Sie harmonisieren unser Verhalten und sind auch für die Stimmungsübertragung verantwortlich. Nach Beetz, Riedel, Wohlfarth (2021, 30) bilden Spiegelneurone vermutlich die Grundlage, sich in andere hineinversetzen zu können, also „emotional empathisch“ zu sein. Jegliches Sozialleben beruht auf der Kommunikation über Emotionen. Dafür sind Spiegelneurone ein wichtiges Werkzeug und bilden die Grundlage für die einfachste Form der empathischen Zuwendung, dem reflexartigen Mitgefühl. Olbrich und Otterstedt (2003, 84) sind der Meinung, dass Menschen offenbar genug von der Sprache der Tiere und Tiere genug von der Sprache der Menschen verstehen, um miteinander in Beziehung zu treten. Überwiegend „antworten“ Pferde auf die analogen Anteile unserer Kommunikation (non-verbale Anteile wie Mimik und Gestik). Sie verlangen somit eine stimmige Bezogenheit von unseren Kundinnen und Kunden. In vielen Fällen wird dies während der pferdegestützten Arbeit sichtbar. Landgraf und Neuse (2021, 15) beschreiben, dass emotionale Intelligenz und Kompetenz als Voraussetzung für „gelingendes Leben“ gelten. Erst wenn jemand gelernt hat, den Umgang mit sich selbst zu regulieren und zu gestalten, ist er zur Gestaltung des Umgangs mit anderen in der Lage. „Die Beobachtung, der Umgang und die Arbeit mit den Tieren lässt uns genau die oben genannten Fähigkeiten (weiter-)entwickeln: Wir schärfen die Wahrnehmung für uns selbst und andere. Wir lernen zu verstehen, warum wir und andere so und nicht anders reagieren (können). Und wir können ausprobieren und üben, unsere Emotionen aktiv zu steuern und einzusetzen und werden uns ihrer Wirkung auf andere bewusst“ (Landgraf, Neuse 2021, 16). Das innere Pferd, das innere Kind und das innere Team Wenn Kundinnen und Kunden zum ersten Mal am Pferd sitzen und die dreidimensionale Bewegung spüren dürfen, das erste Mal getragen werden und Gewicht abgeben dürfen - dann erzähle ich die Geschichte vom inneren Pferd. Diese hat mich in meiner Ausbildung, Entwicklung und Laufbahn besonders geprägt. Kundinnen und Kunden sollen sich vorstellen, dass sich im eigenen Bauch, unter dem Nabel, ein kleines inneres Pferd befindet. Dieses lässt sich durch die eigenen Gedanken und Empfindungen in Bewegung oder auch in Ruhe versetzen. Das äußere (reale) Pferd fungiert dabei als ein Spiegelbild des kleinen inneren Pferdes. Galoppiert das innere Pferd wie wild, durch heftige Emotionen - dann wird auch das äußere Pferd nicht stillstehen. In der Selbsterfahrung lernen Kundinnen und Kunden dieses innere Pferd zu entdecken und zu kontrollieren. Die Arbeit vom Boden aus ist dabei genauso wichtig und einprägend wie die Arbeit vom Pferderücken. In weiterer Folge geht es in den Selbsterfahrungseinheiten um Gleichschritt, Takt, Rhythmus, Gefühl und vor allem Vertrauen. Für mich als Beraterin steht die professionelle Begleitung der Begegnung zwischen Mensch und Pferd im Vordergrund. Ein wesentlicher Bestandteil in der Selbsterfahrung ist auch der Kontakt zum inneren Kind und dem inneren Team. Angelehnt an Techniken von Friedemann Schulz von Thun (2005) (Das innere Team) und Bradshaw (Das innere Kind) nehmen wir in den Einheiten Kontakt zu unseren inneren Anteilen, wie auch zum inneren Pferd auf und entdecken alte Glaubenssätze und Persönlichkeitsstrukturen. Oftmals ist es notwendig, alte und vielleicht auch negativ formulierte Glaubenssätze umzuformulieren, Anteile der Persönlichkeit kennenzulernen und die Führung über das eigene innere Team zu übernehmen. Das Pferd ist dabei ein wichtiger Wegbegleiter und unterstützt diesen Prozess maßgeblich, zum Teil nur durch bloße Anwesenheit und die Reaktion auf körpersprachliche Signale. 114 | mup 3|2022 Forum: Krivan - Sich selbst erfahren mit Pferden Bei gemeinsamen Visualisierungen kann die Kundin oder der Kunde den Kontakt zum eigenen inneren Kind herstellen und mithilfe des Pferdes eigene Emotionen und Gefühle zum Ausdruck bringen. Oft hält das Pferd an dieser Stelle auch seine „starke“ Schulter zum Anlehnen bereit. Die Arbeit mit dem inneren Team (ein Persönlichkeitsmodell nach Friedemann Schulz von Thun) ist in vielen Selbsterfahrungsprozessen ein wesentlicher Bestandteil. Dieses Modell beschreibt sechs Lehren: ■ die innere Pluralität des Menschen, ■ die innere Führung, ■ das innere Konfliktmanagement, ■ den Aufbau der Persönlichkeit, ■ die Variation innerer Aufstellungen, ■ den Gehalt einer Situation (vgl. von Thun 2005, 18 f). Die innere Pluralität und verschiedenen Teile der Persönlichkeit eines Menschen werden mithilfe der Metapher eines inneren Teams dargestellt. In verschiedenen Situationen werden diese inneren Anteile einmal lauter und einmal leiser. Das Wissen darüber soll die Voraussetzung für eine klare und authentische Kommunikation schaffen. Landgraf und Neuse (2021, 240) sind der Ansicht, dass durch die emotionale Ebene im Umgang mit Tieren die „Teammitglieder“ ans Licht kommen, welche man im Alltag eher ungern zeigt. Die Arbeit mit dem inneren Team kann mit vielen Übungen wie Beobachten, Führen, Nähe und Distanz etc. verknüpft werden. Das Modell des inneren Teams geht davon aus, dass jeder Mensch verschiedene Teammitglieder und Stimmen in sich hat. Viele kennen diese aber nur oberflächlich. Als Beraterin oder Berater kann man zum Beispiel folgende Fragestellungen nutzen, um innere Stimmen und Teammitglieder aufzuzeigen: ■ „Welche inneren Stimmen wurden während der Übung wahrgenommen? “ ■ „Wurde ein Gegenspieler zu diesen Stimmen laut? “ ■ „Machen sich diese Stimmen der Teammitglieder auch in gewissen Alltagssituationen bemerkbar? “ ■ „Welche gute Absicht steckt hinter den verschiedenen Stimmen? “ ■ „Welche Strategien können in Zukunft helfen, die gute Absicht der inneren Stimmen im Alltag zu erkennen? “ ■ „Was wird gebraucht, um eine Stimme leiser oder lauter zu machen? “ ■ „Wodurch werden gewisse Stimmen angeschaltet und welche Auswirkungen haben sie dann auf das Verhalten? Was sind die Auslöser? “ ■ „Welche Gefühle und Gedanken habe ich, wenn einzelne Teammitglieder aktiv sind? “ (vgl. Landgraf und Neuse 2021, 241) Themen, welche in der Selbsterfahrung behandelt werden können Folgende Bereiche können in der pferdegestützten Selbsterfahrung und / oder Beratung unter anderem bearbeitet werden: ■ Kommunikationsstrukturen ■ Selbstbewusstsein ■ Erkennen von eigenen und fremden Grenzen ■ Körpersprache, eigene Präsenz ■ Selbst- und Fremdwahrnehmung ■ Mut und Vertrauen gewinnen, Gelassenheit finden ■ Umgang mit Krisensituationen ■ Prioritäten und Grenzen im Leben erkennen und setzen Forum: Krivan - Sich selbst erfahren mit Pferden mup 3|2022 | 115 ■ Eigene Kraftquellen entdecken ■ Zugang zu inneren Bildern ■ uvm. Wie in Selbsterfahrungsprozessen und / oder psychologischen Beratungseinheiten üblich: Der Kern der gemeinsamen Arbeit mit dem Pferd ist, dass das Erlernte und Erlebte in den Alltag der Kundinnen und Kunden übertragen werden muss, um wirksam zu werden. Im besten Fall erfährt der Kunde oder die Kundin neue Handlungsmöglichkeiten und kann diese im Alltag umsetzen. Bei all den Übungen, welche gemeinsam mit dem Pferd gemacht werden, steht nicht der Erfolg im Mittelpunkt. Es gibt somit kein Richtig oder Falsch. Das Beobachten und Reflektieren von eigenen Verhaltensweisen, eine gute Balance zwischen Nähe und Distanz und den Umgang mit einer (womöglich) ungewohnten Situation zu erlernen, stehen im Mittelpunkt der pferdegestützten Arbeit. Übungen aus der Praxis - Für den Einstieg: Motivation zur Selbstöffnung stärken (aus Brüderl, Riessen, Zens 2021, 30ff) Ziel: Motivation stärken, um sich voll und ganz dem Prozess der Selbsterfahrung widmen zu können. Einnehmen einer reflektierten Haltung. Stärkung der Persönlichkeit. Motivation, sich selbst zu öffnen. Ängste und Befürchtungen müssen am Anfang des Prozesses bewusst gemacht werden. Ebenso sind Wünsche und Erwartungen abzuklären. Setting: Einzel- und / oder Gruppenselbsterfahrung Dauer: Für diese Übung sollten etwa 60-90 Minuten eingeplant werden. Gerade am Anfang eines Selbsterfahrungsprozesses bietet sich diese Übung an, da man eventuelle negative Vorerfahrungen und Befürchtungen aufdecken und bearbeiten kann. Ablauf: Der Kunde oder die Kundin geht mit dem Pferd durch die Reithalle. Auf einer Seite hängt ein Flipchart-Papier mit der Überschrift „Erwartungen und Wünsche“ und auf der anderen Seite eines mit der Überschrift „Befürchtungen und Ängste“. Im gemeinsamen Gehen mit dem Pferd soll sich der Kunde oder die Kundin darüber Gedanken machen und diese schriftlich auf dem Flipchart-Papier festhalten. In einer Gruppenselbsterfahrung können die Punkte in Kleingruppen erarbeitet und danach präsentiert werden - auf diese Weise werden Vergleichsprozesse indiziert. Wichtig für eine Gruppenselbsterfahrung: Gruppenregeln aufstellen! „Die Auseinandersetzung mit den Erwartungen und Befürchtungen ermöglicht eine achtsame, selbstfürsorgliche und bewusste Entscheidung für ein vertrauensvolles Einlassen auf Selbsterfahrungsprozesse“ (Brüderl, Riessen, Zens 2021, 32). In einer Einzelselbsterfahrung hat es sich bewährt, die Themen vom Boden aus (das Pferd führend) zu sammeln und danach ggf. vom Pferderücken aus zu arbeiten. Sind die Themen gesammelt, wird der Kunde oder die Kundin gebeten, die drei für ihn / sie bedeutsamsten Erwartungen und Wünsche bzw. Be- Tabelle 1: Häufig genannte Erwartungen und Befürchtungen Erwartungen und Wünsche Befürchtungen und Ängste Selbstwert stärken Schwäche zeigen und Hilflosigkeit erleben Selbst- und Fremdbild erarbeiten Übungen mit dem Pferd falsch ausführen, sodass das Pferd nicht mitmachen will Neue Erkenntnisse über sich selbst erhalten Überforderung erleben Sich mit eigenen Stärken und Schwächen auseinandersetzen Sich verletzlich machen Wertschätzung durch das Pferd erfahren … 116 | mup 3|2022 Forum: Krivan - Sich selbst erfahren mit Pferden fürchtungen und Ängste zu benennen. Dabei werden die Themen von der Kundin oder dem Kunden laut ausgesprochen. Die Körpersprache und die Reaktion des Pferdes darauf wird reflektiert und zurückgespiegelt. Es soll in einem weiteren Schritt überlegt werden, was es braucht, um Erwartungen zu erreichen bzw. was nötig ist, um die Befürchtungen begrenzen zu können. Eine Relativierung der eigenen Bedenken und Wünsche wird erarbeitet. Übung: Nähe und Distanz (aus: Landgraf und Neuse 2021, 133 ff) Ziel: Signale des Gegenübers wahrnehmen und richtig deuten. Eigene und fremde Grenzen erkennen. Es soll eine Intuition für den angemessenen Umgang mit Druck entwickelt werden. Die Kundinnen und Kunden erfahren ihren eigenen Umgang mit Druck und Gegendruck sowie Distanz und Nähe. Zur Durchführung wird ein abgegrenzter Bereich benötigt, der dem Bewegungsradius des Pferdes angepasst sein sollte (Reithalle, Longierzirkel). Zusätzliches Material wie eine Fahne, Gerte, Parelli-Stick o. ä. sind hilfreich. Bei dieser Übung wird mit einem freien Pferd (ohne Halfter und Strick) gearbeitet. Für die Beraterin oder den Berater sollte der Sicherheitsaspekt immer im Mittelpunkt stehen, um gegebenenfalls eingreifen zu können. Gangarten wie Schritt und / oder Trab sind für diese Übung geeignet, es sollte nicht so viel Druck aufgebaut werden, dass das Pferd in den Galopp fällt. Anweisung an die Kundin oder den Kunden: „Bitte bewege zunächst das Pferd um Dich herum. Dazu kannst du als Hilfsmittel die Fahne / Peitsche benutzen. Du entscheidest über Tempo und Richtung des Pferdes. Achte auf den Augenblick, wann es deine Führung akzeptiert. Nimm dann den Druck raus und lade das Pferd ein, Dir zu folgen“ (Landgraf, Neuse 2021, 133). Bei dieser Übung ist Feedback der Beraterin oder des Beraters über Beobachtungen besonders wichtig. Die gemeinsame Reflexion könnte folgende Fragen beinhalten: ■ „Wie war die Körperhaltung (von Mensch und Pferd) zu Beginn, während der Übung und danach? “ ■ „Welche Hilfsmittel wurden genutzt? Wie war das Empfinden beim Gebrauch dieser? “ ■ „Wer hat mehr Energie investiert, Pferd oder Mensch? “ Übung: Das innere Team mit Pferden kennenlernen Ziel: Kundinnen und Kunden sollen sich ihrer inneren Pluralität bewusst werden. Kontakt und Vertrauen sollen gefördert werden. Eine Grundlage für ein Selbstverständnis und persönliche Entwicklungswünsche können erarbeitet werden. Diese Übung kann vom Boden aus, aber auch auf dem Pferderücken begonnen werden. Zur Einleitung kann man die Kundin oder den Kunden bitten, sich „in sich selbst zurückzuziehen“, vielleicht die Augen zu schließen. Man fragt nach einem Thema, welches innerlich unklar wirkt, in welchem man sich „hin- und hergerissen“ fühlt. Im weiteren Verlauf werden mittels systemischer Fragetechniken die inneren Teammitglieder benannt. Welche Stimmen melden sich dabei und wie werden diese benannt? Zum Beispiel können das sein: Der Ängstliche, der Übermütige, der Kindliche, der Perfektionist usw. Es ist hilfreich, wenn der Kunde oder die Kundin sein / ihr Team aufzeichnen oder mithilfe von bereitgestellten Utensilien aufstellen kann. Die Visualisierung hilft beim Erarbeiten und Bewusstwerden. Mehr zum Thema „inneres Team“ kann im Buch „Miteinander reden: 3“ von Friedemann Schulz von Thun nachgelesen werden. Forum: Krivan - Sich selbst erfahren mit Pferden mup 3|2022 | 117 In weiterer Folge könnte man Übungen wie zum Beispiel „Nähe und Distanz“ mit verschiedenen Varianten ausführen: ■ „Wie gelingt die Übung, wenn ‚der Ängstliche‘ sie ausführt? Was für Gefühle sind dabei spürbar? “ ■ „Wenn ‚der Perfektionist‘ versucht mit dem Pferd auf Distanz zu gehen, wie ist dabei die Körperhaltung und Atmung? “ ■ „Worin unterscheiden sich die Herangehensweisen, wenn verschiedene Teammitglieder die Übung ausführen? “ Diese Fragen sind nur Beispiele und beliebig erweiterbar. Im ersten Schritt geht es darum, der Kundin oder dem Kunden ein Gefühl für seine innere Pluralität zu geben und seine inneren Anteile kennenzulernen. Die Übertragung und der Transfer in den Alltag können mithilfe der systemischen Fragestellungen gelingen. Allgemeine Fragestellungen in der pferdegestützten Selbsterfahrung: Während der praktischen Übungen mit dem Pferd ist es die Aufgabe der Beraterin oder des Beraters auf folgende Verhaltensweisen zu achten und diese auch zurückzumelden (vgl. Landgraf und Neuse 2021, 117): ■ „Wie verändert sich die Körperhaltung der Teilnehmerin / des Teilnehmers während der Übungen? “ ■ „Gibt es Parallelen zwischen der Haltung des Pferdes und der Kundin / des Kunden? “ ■ „Wie ist die Blickrichtung von Pferd und Kundin / Kunde? Wie verändert sich diese? “ ■ „Von welcher Position führt die Kundin / der Kunde das Pferd? Wer hat die Führung? “ ■ „Tauchen Anspannung und Entspannung auf? Wenn ja, auf wessen Seite? “ ■ „Wie ist die Atmung? Ändert sich diese im Laufe der Übung (sowohl beim Menschen als auch beim Pferd)? “ ■ „Wie geht die Kundin / der Kunde mit den Reaktionen des Pferdes um? Werden darauf Schlussfolgerungen gezogen? “ ■ „Ist die Konzentration bei der Übung / Aufgabe oder eher beim Pferd? “ ■ „Wie läuft die Interaktion zwischen Pferd und Mensch? Wie wird der Kontakt zum Pferd aufgenommen? Wie läuft die Kommunikation (direkt, verbal oder non-verbal)? “ Abb. 2: Pferde sind Meister der nonverbalen Kommunikation 118 | mup 3|2022 Forum: Krivan - Sich selbst erfahren mit Pferden Feedback, Reflexion und Transfer in den Alltag Wie oben schon beschrieben, ist jede pferdegestützte Selbsterfahrung nur so gut wie der Transfer des Erlernten und Erlebten in den Alltag der Kundinnen und Kunden. Auch Landgraf und Neuse (2021, 116) sind der Meinung, dass alles, was auf dem Reitplatz oder in der Halle passiert, in den Alltag der TeilnehmerInnen übertragen werden muss, um wirksam zu werden. Wichtig ist dabei auch, dass es keine Bewertung im Sinne von richtig oder falsch gibt, wie eine Übung auszusehen hat. Es geht vielmehr darum, etwas über sich selbst zu erfahren und zu lernen. Oft fällt es besonders pferdeerfahrenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern schwer, denn sie wollen alles „richtig“ machen. Erst wenn die innere Stimme (alles richtig machen zu wollen) abgestellt wird, kann ein guter Entwicklungsprozess starten. Besondere Herausforderungen Im pferdegestützten Beratungssetting, so auch in der Selbsterfahrung, hat man als Beraterin oder Berater immer die „doppelte“ Herausforderung. Man muss sowohl Mensch als auch Pferd im Blick haben, um auch richtiges und gutes Feedback geben zu können. Die Aufmerksamkeit muss immer beim Wesentlichen sein, damit wichtige Schlüsselmomente nicht entgehen (Filmen und anschließendes Video-Feedback hat sich in vielen Fällen bewährt). Bei Gruppenveranstaltungen gilt es, auch die Beobachtungen und Rückmeldungen der anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer einzufangen. Pferde, welche im beraterischen Kontext eingesetzt werden, sollten an den vertrauensvollen Umgang mit dem Menschen gewöhnt sein und über eine solide Grundausbildung verfügen. Sie müssen in allen Situationen instinktsicher reagieren, um das menschliche Verhalten in den jeweiligen Situationen zu spiegeln. Im Idealfall hat man mehrere Pferde zur Verfügung, um die Übungen und den Charakter des Pferdes für den passenden Mensch wählen (oder wählen zu lassen). Das sagen Teilnehmerinnen und Teilnehmer ■ „Für meine Ausbildung brauche ich eine Menge Stunden an Selbsterfahrung. Aber keine waren bis jetzt so intensiv wie die mit und am Pferd. Das genaue Hinspüren und Erleben - das kann man in einem Praxisraum nie erreichen.“ ■ „Noch nie habe ich eine Beratung so intensiv erlebt.“ ■ „Der Unterschied zu einer Einheit im Praxisraum? Die Einheiten mit Pferd sind nachhaltiger und somit unglaublich wertvoll für meine persönliche Weiterentwicklung.“ ■ „Die Erlebnisse, die bei der Selbsterfahrung mit Pferd gemacht werden, bleiben im Gedächtnis. Es ist im Alltag viel einfacher, diese abzurufen. Man sagt immer, dass man das Erlebte in den Alltag übertragen muss jetzt weiß ich, was das bedeutet.“ Die Autorin Katrin Krivan, MA Pädagogin und Sozialarbeiterin, Fachkraft für Heilpädagogische und Therapeutische Förderung mit Pferden, Integrative Voltigier- und Reitpädagogin, Akademisch geprüfte Fachkraft für Tiergestützte Therapie und Tiergestützte Fördermaßnahmen, Psychologische Beratung, Supervision und Coaching in eigener Praxis Kontakt EntwicklungsECK · Katrin Krivan, MA www.entwicklungseck.at · info@entwicklungseck.at Standort Reit- und Therapiezentrum im Prater - Verein Alisequus Kontakt: Dammhaufengasse 1A · 1020 Wien · Österreich www.alisequus.at Forum: Krivan - Sich selbst erfahren mit Pferden mup 3|2022 | 119 Quellen und weiterführende Literatur: ■ Beetz,A., Riedel, M., Wohlfarth, R. (2021): Tiergestützte Interventionen. Handbuch für die Aus- und Weiterbildung. 3. Aufl. Ernst Reinhardt, München ■ Bradshaw, J. (2018): Das Kind in uns. Wie finde ich zu mir selbst. 3. Aufl. Knaur Leben Verlag, München ■ Friedl, D. (2016): Selbstreflexion & Entspannung mit Pferden. Lerne Dich und Dein Pferd neu zu betrachten. BoD - Books on Demand ■ Konir, G.(2012): Pferdegestütztes Coaching. Menschliche Potenzialentwicklung durch tierische Hilfe. BoD - Books on Demand ■ Landgraf, D., Neuse, V. (2021): Praxisbuch tiergestütztes Training und Coaching. 1. Aufl. Beltz Verlag, Weinheim / Basel ■ Olbrich, E., Otterstedt, C. (2003): Menschen brauchen Tiere. Grundlagen und Praxis der tiergestützten Pädagogik und Therapie. Kosmos Verlag, Stuttgart ■ Von Thun, F. S. (2005): Miteinander Reden. Das „innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation. Kommunikation, Person, Situation. 14. Aufl. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg Weiterbildung Qualitätssicherung im Therapeutischen Reiten Medizin Pädagogik Psychologie Sport L Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e.V. • Assistent im Therapeutischen Reiten (DKThR) • Pferdefachliche Eingangsqualifikation „UPSG“ • Pferdgestützte Heilpädagogik • Pferdgestützte Traumapädagogik • Pferdgestützte Pädagogik • Pferdgestützte Psychotherapie • Pferdgestützte Physiotherapie „Hippotherapie (DKThR)®“ • Pferdgestützte Ergotherapie • Pferdesport für Menschen mit Behinderung • Fachseminare - laufend aktualisiert Alle Angebote unter www.dkthr.de ... von der Grundlagenqualifikation bis zum Fachseminar, von analog, hybrid bis digital, von zu Hause aus bis zur Praxisarbeit in der Präsenz. Wir freuen uns auf Sie und sind für Sie da. Nutzen Sie auch gerne unseren Service der persönlichen Beratung. Foto: Juliette Kovacs Weller Freiherr-von-Langen-Straße 8 | 48231 Warendorf Tel. 0 25 81/ 92 79 19-0 | Fax 0 25 81/ 92 79 19-9 E-Mail: dkthr@fn-dokr.de | www.dkthr.de DKThR 174x122-2002.indd 1 26.02.22 13: 24 Anzeige
