mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2023
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Fachbeitrag: Wirkfaktor Pferd?
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2023
Imke Urmoneit
Die heilpädagogische Förderung mit dem Pferd stellt auf der Grundlage neurobiologischer Erkenntnisse eine Ressource in der Begleitung von KlientInnen dar. Anhand dreier Fallbeispiele und der theoretischen Einordnung der zugrunde liegenden neurobiologischen Prozesse wird gezeigt, wie ein Erlebensraum entstehen kann, der den Aufbau grundlegender Kompetenzen wie der emotionalen Regulation und kognitiven Reflexion begünstigt. Das Gehirn eines Menschen kann konkrete Themen nur lösungsorientiert bearbeiten, wenn dafür die neuronalen Grundlagen in den Reaktionssystemen gelegt wurden.
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4 | mup 1|2023|4-12|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2023.art02d Imke Urmoneit Schlüsselbegriffe: Motivation, Belohnungssystem, emotionale Regulation, Stressreaktion, Bindung, Exekutivfunktion, Kognition Die heilpädagogische Förderung mit dem Pferd stellt auf der Grundlage neurobiologischer Erkenntnisse eine Ressource in der Begleitung von KlientInnen dar. Anhand dreier Fallbeispiele und der theoretischen Einordnung der zugrunde liegenden neurobiologischen Prozesse wird gezeigt, wie ein Erlebensraum entstehen kann, der den Aufbau grundlegender Kompetenzen wie der emotionalen Regulation und kognitiven Reflexion begünstigt. Das Gehirn eines Menschen kann konkrete Themen nur lösungsorientiert bearbeiten, wenn dafür die neuronalen Grundlagen in den Reaktionssystemen gelegt wurden. Neurobiologische Erkenntnisse treffen auf die heilpädagogische Förderung mit dem Pferd Wirkfaktor Pferd? Urmoneit - Wirkfaktor Pferd? mup 1|2023 | 5 Die Bedeutung des Aufbaus grundlegender Fähigkeiten Die Erkenntnisse über die Arbeitsweise des Gehirns legen nahe, dass Menschen für den Aufbau von Fähigkeiten, die Entwicklung von Resilienz sowie die Veränderung von Verhaltensweisen ganzheitliche Erfahrungen der Wahrnehmung, des Fühlens, Denkens und Handelns machen müssen. Grawe (2004, 443) geht davon aus, dass wir aufgrund des neurobiologischen Erkenntnisgewinns Konzepte der Psychotherapie überdenken müssen. Meines Erachtens muss diese Forderung auch auf Kontexte der Beratung und Pädagogik ausgeweitet werden. Da ich lange Zeit in der heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd gearbeitet habe, stellt sich mir die Frage, ob der Einsatz von Pferden dazu beitragen kann, diese ganzheitlichen Erlebensräume zu gestalten. In den im Folgenden beschriebenen Fallbeispielen wurden Angaben so verändert, dass eine Verbindung zu den KlientInnen nicht hergestellt werden kann. Ich erlebe in meiner beruflichen Tätigkeit einen Unterschied, ob ich mit den KlientInnen im Praxisraum oder am Pferd arbeite. In der Praxis liegt der Schwerpunkt auf dem Gespräch - die Reflexion von vergangenen Ereignissen und das Durchdenken von Lösungen. Menschen müssen meines Erachtens die besprochenen Veränderungen oder Problemlösungen nicht ausreichend im Hier und Jetzt erproben. Sie werden bei der Umsetzung auch nicht mit Störungen konfrontiert, die belastende Gefühle und alte Verhaltensmuster auslösen. Kindern, die bestimmte Kompetenzen erst noch entwickeln müssen, hilft es wenig, darüber zu reden, wie man sich beispielsweise auf eine Aufgabe einlässt, die Angst auslöst oder wie man bei der Klärung eines Konflikts die eigene Wut bremst. In der heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd tauchen wir mit den KlientInnen nicht in ihr reales Leben, wohl aber in ihr Erleben ihrer Kompetenzen oder des Fehlens von Kompetenzen ein. Das Pferd bietet keine Unterstützung bei der Frage an, wie am Morgen der Antrieb aufzustehen gesteigert werden kann. Auch das Lösen von Paarkonflikten oder der Aufbau von Kompetenzen in der Erziehung der Kinder können am Pferd nicht über den direkten Weg angegangen werden. Sehr wohl ist es jedoch möglich, im Setting der heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd die dafür notwendigen Kompetenzen einzuüben. Wie erlebe ich mich in einem Kontext, in dem ich Motivation entwickle, aktiv zu werden? Wie kann ich lernen, andere besser zu verstehen? Wie kann ich meine Emotionen regulieren, wenn das Gegenüber nicht so reagiert, wie ich es mir vorstelle? Wie kann ich klar und deutlich ausdrücken, was ich brauche? Dem Einüben von Kompetenzen und dem Abrufen dieser Kompetenzen liegen neuronale Prozesse zugrunde. „Veränderung erfordert, dass Synapsen, die noch nicht gut gebahnt sind, über möglichst lange Zeit hin immer wieder so oft und so intensiv wie möglich aktiviert werden. […] Der Schwerpunkt muss also überwiegend auf der Veränderung des Problems liegen, auf der Herausbildung neuer Gedanken, Verhaltensweisen und Emotionen“ (Grawe 2004, 55). Die Möglichkeit im Rahmen pferdegestützter Settings die neuronale Bahnung grundlegender Fähigkeiten zu unterstützen, wird anhand der folgenden drei Aspekte dargestellt: 1. Die Entwicklung von Motivation 2. Bindungsmuster - die Grundlage für die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen 3. Exekutivfunktionen - das eigene Leben lenken lernen Die Entwicklung von Motivation Für das Einüben von Fähigkeiten, die Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und Gedanken, die Bewältigung von Herausforderungen oder das Erarbeiten von Verhaltensveränderungen muss ein Mensch Motivation aufbauen und sich Ziele setzen. Auf der unbewussten Ebene lenken die im impliziten Gedächtnis gespeicherten emotionalen 6 | mup 1|2023 Urmoneit - Wirkfaktor Pferd? und körperorientierten Erinnerungen unsere Motivation, einer Aufgabe oder Situation passiv oder aktiv zu begegnen. Diese Prozesse laufen in der Amygdala - dem Gefühlszentrum des Gehirns - ab. Auf der bewussten Ebene, die im präfrontalen Cortex verankert ist, denkt der Mensch über seine Ziele und seine Bereitschaft, sich für das Erreichen der Ziele anzustrengen, nach (vgl. Urmoneit 2022). Dadurch, dass diese beiden Regionen im Gehirn eng miteinander vernetzt sind, entwickeln sich Motivation und Annäherungsverhalten an eine Situation oder Aufgabe immer im Zusammenspiel zwischen unbewussten und bewussten Prozessen. „Unser Handeln wird von Motiven und Beweggründen bestimmt, die unbewusst, vorbewusst-intuitiv oder bewusst vorliegen können. Allen diesen Motiven liegt das universelle Prinzip zugrunde, das anzustreben, was in irgendeiner Weise angenehm oder vorteilhaft erscheint, und das zu meiden oder zu beenden, was schmerzhaft oder nachteilig ist“ (Roth / Strüber 2015, 147). Gelingt es einem Menschen, Motivation aufzubauen und sich über die Entwicklung des Annäherungsverhaltens einer Herausforderung zu stellen, wird bei einer erfolgreichen Bewältigung das Belohnungssystem aktiviert. Es werden Endorphine ausgeschüttet, die beim Anbinden an Rezeptoren im Gehirn das „Mögen“ markieren. Der Botenstoff Dopamin übernimmt durch die Anbindung an Rezeptoren das Auslösen des „Wollens“, sodass der Mensch Annäherungsverhalten zeigt. Dies erlebt der Mensch als Motivation und es fällt ihm leichter, aktiv zu werden (vgl. Urmoneit 2022, 228 ff). Damit dieses System anspringt, muss das Gehirn die Prozesse generell ausreichend trainiert und neuronale Strukturen aufgebaut haben: Botenstoffe müssen gebildet und ausgeschüttet werden - Rezeptoren für die Anbindung der Botenstoffe müssen aufgebaut sein. Verfügt der Mensch über ein neuronal stabil verankertes Motivationssystem, wird dadurch auch das Erleben von Stress gedämpft, sodass Irritationen nicht gleich dazu führen, sich zurückzuziehen oder in Anspannung zu geraten (vgl. Cozolino 2007, 153 ff). Im Setting mit Pferden kann diese „Grundausstattung“ trainiert werden, bevor die KlientInnen sich der Lösung ihres eigentlichen Anliegens zuwenden. Ist die Grundlage durch die Verankerung des motivationalen Systems auf der neuronalen Ebene gelegt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die KlientInnen ihr Verhalten hinsichtlich ihres Themas verändern können. Das Problem hat sich nicht verändert, indem es kleiner oder größer geworden ist, sondern dadurch, dass der Mensch über mehr Fähigkeiten verfügt, es zu lösen. Im übertragenen Sinne können wir es uns vielleicht so vorstellen: Habe ich mit Hanteln, die immer ein wenig schwerer werden, meine Armmuskeln trainiert, wird es mir leichter fallen, mein Ziel zu erreichen, die Wasserkiste die Treppen hochzutragen. Ich werde die Kiste dann nicht mehr als zu Abb. 1: Die Bewältigung von Herausforderungen aktiviert das Belohnungssystem, sodass sich Motivation entwickelt. Alle Fotos: Charlotte Olchmann und Ute Fingerle Die Bewältigung von Herausforderungen aktiviert das Belohnungssystem und löst Motivation aus. Urmoneit - Wirkfaktor Pferd? mup 1|2023 | 7 schwer empfinden. Viele KlientInnen kommen in die Beratung oder Therapie, weil es ihnen generell und nicht nur in Bezug auf ihr Anliegen schwerfällt, Motivation zu entwickeln. Dies gilt nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder. Der hohe Aufforderungscharakter des Pferdes lädt Menschen und insbesondere Kinder ein, Vermeidungsverhalten zu minimieren und Annäherungsverhalten zu üben. Lilly kann durch das Erleben des Wechsels von Sicherheit und Unsicherheit in realen Situationen ihr Motivationssystem trainieren und lernen, durch die haltgebende Funktion der Pädagogin nicht auf das Vermeidungsverhalten auszuweichen, wenn es schwierig wird. Außerdem ist es am Pferd möglich, die Aufgaben und Ziele sehr flexibel zu wählen und kleine Zwischenziele zu definieren. Mit den Eltern wird ein Plan für zu Hause gemacht, sodass Lilly im Alltag in kleinen Schritten übt, sich einzulassen und dabei die emotionale Regulation aufrechtzuhalten, sodass das Belohnungssystem wieder „normal“ arbeiten kann. Bindungsmuster - die Grundlage für die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen Das Bedürfnis nach einer Bindung zu anderen Menschen und das Erleben von vertrauensvollen Lilly ist 9 Jahre alt und zeigt in der Schule und auch zu Hause wenig Motivation, aktiv zu werden - auch wenn die Handlungsdurchführung an sich für sie kein Problem darstellt. Sie mag morgens nicht aufstehen, sie kann sich nicht entscheiden, was sie essen mag, auf das Spielen lässt sie sich nur kurz ein. Die Eltern beschreiben, dass Lilly ungern in die Schule geht, dass das Erledigen der Hausaufgaben ein täglicher Kampf und Lillys Lieblingssatz „Das kann ich nicht“ ist. Sie machen sich große Sorgen, dass ihre Tochter depressiv ist und die Lebenslust verliert. Auf das Pferd reagiert Lilly mit Neugier. Sie möchte wissen, wie das Pferd heißt. Als ich mit dem Putzen anfange und ihr anbiete, mir zu helfen, willigt sie ein. Bewegt sich das Pferd, ist sie irritiert und geht ein paar Schritte zurück. Ich erkläre ihr das Verhalten des Pferdes und sage ihr, dass es immer mal wieder so sein wird, dass sie ein wenig unsicher wird, wenn das Pferd sich bewegt. Sie kann mich dann fragen und so Sicherheit aufbauen, damit sie wieder aktiv werden kann. Außerdem sage ich ihr, dass sie genau deswegen hier ist: Sich nicht so schnell verunsichern zu lassen, sodass sie wieder mehr Dinge machen kann und Freude erlebt. In den nächsten Wochen trainieren wir diesen Wechsel zwischen „ich werde aktiv - ich werde unsicher - ich werde wieder aktiv“. Beim Traben an der Longe klappt es schon ganz gut. Am Anfang ist Lilly schnell erschöpft, weil ihr Gehirn nicht daran gewöhnt ist, so lange die Motivation und das Annäherungsverhalten zu halten. Deswegen bauen wir zu Beginn viele Schrittpausen ein und ruhen uns gemeinsam ein wenig aus. In diesen Pausen reden wir darüber, was ihr gelungen ist und welche Fähigkeit sie hat, Aufgaben zu bewältigen. Als ich sie auffordere, den Galopp auszuprobieren, zieht sie sich erstmal zurück. „Nein, auf keinen Fall - das kann ich nicht.“ Auf meine Frage, ob sie wieder das alte Verhalten üben will, weiß sie gleich, was ich meine. Sie überlegt einen Moment und verhandelt dann mit mir, wie sie den Galopp ausprobieren könnte. Ganz kurz, ganz langsam. Das Pferd galoppiert an und pariert nach drei Sprüngen zum Schritt durch. Lilly strahlt und fordert einen zweiten Versuch ein. Ihr Belohnungssystem ist aktiv. Fallbeispiel 1 Der Aufbau von Kompetenzen legt die Grundlage für die Bewältigung von Herausforderungen. 8 | mup 1|2023 Urmoneit - Wirkfaktor Pferd? und haltgebenden Beziehungen ist eines der psychischen Grundbedürfnisse des Menschen. „Hat ein Kind ein sicheres Bindungsverhalten aufgebaut, entsteht ein Urvertrauen in sich selbst und die Welt, sodass sich das Kind Herausforderungen annähern kann“ (Urmoneit 2022, 138). Neuronal betrachtet, basiert Bindungsverhalten auf der Anbindung des Botenstoffes Oxytocin an Rezeptoren entsprechender Nervenzellen. Wird durch die Begegnung mit einem anderen Menschen Oxytocin ausgeschüttet und angebunden, wird dadurch auch das oben beschriebene Belohnungssystem aktiviert. Dadurch entsteht Motivation, Verhaltensweisen zu zeigen, die dazu beitragen können, den wohltuenden Kontakt nochmals zu erleben. Gleichzeitig wird das Stressreaktionssystem gedämpft, sodass Gefühle der Angst oder der Wut abnehmen. Bevor Menschen komplexe „Beziehungsaufgaben“ bewältigen können, müssen sie die neuronale Grundlage in ihrem Gehirn aufbauen: Die Ausschüttung von Oxytocin und der Aufbau von Rezeptoren für die Anbindung des Botenstoffs (vgl. Urmoneit 2022, 228 ff). Insbesondere Menschen, die in den ersten drei bis vier Lebensjahren kein intaktes Bindungssystem aufbauen konnten, geraten in Beziehungen schnell unter Stress und können dann Frau B. beschreibt, dass sie als Kleinkind Verwahrlosung und Gewalt erlebt hat, bis sie vom Jugendamt in Obhut genommen wurde. Sie erlebt in Beziehungen immer wieder Angstmomente, für die es aus ihrer Sicht keinen Grund gibt. Kann sie die Situation dann nicht verlassen, wird sie wütend und greift das Gegenüber verbal an. Dadurch entstehen immer wieder Konflikte mit Menschen, die ihr wichtig sind. Sie möchte lernen, ruhiger zu bleiben und sich emotional regulieren zu können. Frau B. reagiert auf das Pferd zunächst mit Euphorie. So ein schönes und großes Tier, mit einem weichen Fell und dem sanften Blick. Beim Putzen berührt sie das Pferd häufig mit den Händen, redet mit ihm und meldet mir zurück, dass sie sich wohl fühlt. Dies verändert sich, als wir mit dem Pferd auf den Platz gehen. Frau B. hat sich das Ziel gesetzt, zu lernen, das Pferd sicher zu führen. Wir sprechen darüber, welchen Einfluss die Beziehung zwischen dem Menschen und dem Pferd auf das Gelingen der Aufgabe hat. Da Frau B. die klare Körpersprache noch nicht eingeübt hat, verweigert das Pferd das Mitgehen und rührt sich nicht vom Fleck. In Sekundenschnelle gerät Frau B. emotional in Anspannung und fängt an, am Führstrick zu reißen. Das Pferd geht widerwillig ein paar Meter, um dann wieder stehenzubleiben. Meine Frage, wie es ihr jetzt geht, beantwortet Frau B. eindeutig: „Sie haben mir ein störrisches Pferd gegeben. Das ist doch Mist! “ Im Gespräch mit mir wird ihr deutlich, dass sie sehr schnell und sehr heftig in Stress geraten ist, weil sie sich vom Pferd nicht verstanden gefühlt hat. Das Pferd konnte sie jedoch nicht verstehen, weil sie nicht mit ihm im Kontakt war. Der Stress hat dann bei ihr verhindert, zu reflektieren, woran es liegt und das eigene Verhalten zu verändern. Frau B. möchte lernen, den Stress anzuhalten, um bewusst darüber nachdenken zu können, wie sie dem Gegenüber zuhören und vermitteln kann, was sie möchte. Dies üben wir in den nächsten Stunden in sehr kleinen Schritten ein. Wie kann ich dem Pferd erstmal zuhören und wie kann ich mich verständlich machen? Fallbeispiel 2 Die Entwicklung von Annäherungsverhalten wird in kleinen Schritten geübt. Urmoneit - Wirkfaktor Pferd? mup 1|2023 | 9 nicht mehr adäquat auf das Gegenüber reagieren. „Ist die Bindungsperson nicht in der Lage, auf diese Bedürfnisse des Kindes adäquat zu reagieren, also die Freude des Kindes zu teilen und das Kind in seinem Autonomiestreben anzuerkennen, bedeutet dies für das Kind eine starke Stressreaktion“ (Garbe 2016, 88). Haben Menschen nicht gelernt, dass Beziehungen sie nicht beim Bremsen der Stressreaktion unterstützen, brauchen sie ein Übungsfeld, in dem sie korrigierende Erfahrungen machen können. Frau B. erlebt am Pferd ein Übungsfeld für den Aufbau tragfähiger Beziehungen, das weniger komplex und weniger kompliziert ist als die Beziehungsgestaltung mit Menschen (vgl. Urmoneit 2015; Kröger 2005). Das neuronal instabil aufgebaute Bindungssystem ihrer Kindheit wird durch neue Verhaltenskompetenzen zwar nicht „gelöscht“, wohl aber beruhigt. In den Beratungsgesprächen zwischen den Einheiten am Pferd besprechen wir, wie sie die neuen Kompetenzen in ihrem Alltag auf zwischenmenschliche Beziehungen übertragen und festigen kann. Dadurch lernt sie eine alternative Verhaltensweise, die einen Unterschied zu den in der Kindheit angelegten Verhaltensmustern macht, kennen. Auf diese Weise erwirbt sie vermehrt Autonomie und baut Beziehungskompetenzen auf. Exekutivfunktionen - das eigene Leben lenken lernen Die Regionen, die für die unbewusst ablaufenden Prozesse im Gehirn zuständig sind, reifen bereits im Mutterleib und in der frühen Kindheit heran. Die Amygdala (Gefühlszentrum) ist bereits im 8. Schwangerschaftsmonat voll funktionsfähig. Sie löst somit bereits vorgeburtlich unterschiedliche Gefühlszustände als Reaktion auf Reize aus. Damit das Kind den emotionalen Zustand nicht nur unbewusst auf der körperlichen Ebene erlebt, sondern bewusst registrieren und auch in Worte fassen kann, müssen der Hippocampus (Lernender / Lernende im Gehirn) und der präfrontale Cortex (Professorin / Professor) ihre Arbeit aufnehmen. Der Hippocampus sorgt dafür, dass Menschen explizite Erinnerungen anlegen und auch wieder abrufen können (vgl. Urmoneit 2022, 274 ff). Er nimmt seine Arbeit zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr auf und ist erst im Alter von ca. 12 Jahren ausgereift (vgl. Cozolino 2007). Im präfrontalen Abb. 2: Eine sichere Bindung ist die Grundlage für die Entwicklung von Vertrauen in Beziehungen. 10 | mup 1|2023 Urmoneit - Wirkfaktor Pferd? Cortex sind die sogenannten Exekutivfunktionen im Gehirn verankert: Bewusste Wahrnehmung, Reflexion, Prüfen von Auswirkungen, Treffen von bewussten Entscheidungen, Steuerung der Sprachzentren. Unter dem Begriff der Exekutivfunktion werden Kompetenzen zusammengefasst, die für die emotionale Regulation und die Kognition entscheidend sind. In der Region des präfrontalen Cortex denken wir nicht nur „einfache“ Gedanken, sondern auch über unsere Gefühle und Gedanken nach. Diese Region braucht bis ins frühe Erwachsenenalter, bis sie ihre endgültige Leistungsfähigkeit erreicht hat (vgl. Carter 2019, 208 ff). Wird uns etwas bewusst, hat der Hippocampus Erinnerungen in der Großhirnrinde abgerufen und für kurze Zeit in das Arbeitsgedächtnis des präfrontalen Cortex überführt. Dadurch wird uns der Inhalt bewusst und wir können ihn verändern und für das Treffen von Entscheidungen nutzen. Geraten wir unter Anspannung, sodass das Gehirn die Stressachse aktiviert, wird im Gehirn Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol an Juri ist 7 Jahre alt und lebt zusammen mit seiner Mutter in einem kleinen Dorf. Seine Mutter ist an Schizophrenie erkrankt, sodass Juri Situationen erlebt, die ihm vertraut sind, obwohl seine Mutter ein für Kinder schwieriges Verhalten zeigt: Seine Mutter ist manchmal für kurze Momente nicht ansprechbar, weil sie in ihrer inneren Welt versunken ist und sich von Reizen von außen abschottet. Außerdem wechseln die emotionalen Zustände seiner Mutter schnell hin und her. Juri hat Karten gemalt, auf denen Menschen und Gegenstände zu sehen sind. Einer macht pantomimisch vor, was auf der Karte steht und der andere muss es raten. Seine Mutter sagt, dass sie das Gefühl des Menschen auf der Karte nicht spielen kann (der Mensch auf der Karte hüpft vor Freude in die Luft), sie fühle gerade etwas anderes und beginnt zu weinen. Sobald Juri etwas „falsch“ macht, kann seine Mutter sich nur schwer regulieren und wird laut. Juri tobt dann, versteckt sich und ist auch für mich nicht mehr ansprechbar. Sobald sich die Situation beruhigt, beteuert die Mutter, wie sehr sie ihn lieb hat und dass doch jetzt alles wieder in Ordnung ist. Sie spricht mit ihm nicht über die Situation. Juri kann mir nicht sagen, was er fühlt und denkt. Er will immer bei seiner Mutter sein. Zur Schule zu gehen fällt ihm schwer und er sucht in der Freizeit keinen Kontakt zu anderen Kindern. Seit fast drei Jahren geht er jede Woche in die pferdegestützte Psychotherapie. Im Kontakt mit den Pferden erlebt Juri eine Eindeutigkeit und Klarheit, die ihm fremd war. Die Pferde bleiben freundlich, auch wenn er sich emotional nicht regulieren kann. Seine Therapeutin arbeitet (im Rahmen einer Therapie in einem Zentrum für Tiergestützte Therapie) in kleinen Schritten mit ihm daran, wahrzunehmen und zu verbalisieren, was ihm im Kontakt mit den Pferden gut tut und was er nicht mag. Juri hat Zeit und Ruhe, um zu spüren, was passiert. Er wird nicht damit konfrontiert, dass Reaktionen des Gegenübers plötzlich kippen. Sie bietet ihm durchgehend Halt in einer verlässlichen Beziehung an. Außerdem erlebt Juri, dass er durch sein Verhalten Einfluss nehmen kann und auch in der Lage ist, sich selbst emotional zu beruhigen, wenn er nicht überfordert ist. In meiner Arbeit in der Familie helfe ich ihm, diese Fähigkeiten zu übertragen, indem ich mir viel Zeit nehme, ihm zuzuhören und ihn beim Nachdenken über Situationen, die er mit seiner Mutter erlebt, zu unterstützen. Heute ist Juri 10 Jahre alt. Er kann sagen, wie er sich fühlt und ausdrücken, was er braucht. Juri ordnet das Verhalten seiner Mutter immer leichter ein und kann sehen, dass vieles nichts mit ihm zu tun hat. Er fühlt sich in der Schule wohl, hat feste Freundschaften aufgebaut und übernachtet immer mal wieder bei seinen Freunden. Die Nähe zu seiner Mutter ist ihm immer noch sehr wichtig, aber er verschwindet nicht mehr mit ihr in ihrer Welt. Fallbeispiel 3 Urmoneit - Wirkfaktor Pferd? mup 1|2023 | 11 Rezeptoren angebunden. Hohe Dosen des Botenstoffs Cortisol schränken die Arbeit des Hippocampus erheblich ein. Dadurch können die aktuellen Erfahrungen nur unvollständig oder gar nicht mehr abgespeichert werden. Außerdem kann der Hippocampus die neuronal gespeicherten Inhalte nicht mehr abrufen, sodass sie dem präfrontalen Cortex nicht zur Verfügung stehen. Eine klassische Situation, in der Menschen diesen Vorgang spüren, ist der Blackout in Prüfungen, wenn der Hippocampus aufgrund der stressbedingten Cortisolausschüttung nicht gut arbeiten kann (vgl. Cozolino 2007, 277 ff). Die oben beschriebenen Regionen müssen ihre Aufgaben und die Vernetzungsleistungen von früher Kindheit an trainieren, damit das bewusste Spüren von Emotionen, die Regulation der Emotionen und das bewusste Nachdenken über sich selbst und die Welt in kleinen Schritten aufgebaut wird. Dieser Übungsprozess ist nicht abhängig von einem bestimmten Thema, sondern muss ganz unabhängig eingeübt werden, sodass die neuronalen Grundlagen gelegt werden. Erst dann ist der Mensch in der Lage, größeren Herausforderungen in seinem Leben zu begegnen. Einige Menschen - auch Kinder - leben in Kontexten, in denen es schwierig ist, Resilienz aufzubauen. Resilient ist ein Mensch dann, wenn er eine seelische Robustheit gegenüber Belastungen aufgebaut hat und damit Herausforderungen leichter meistern kann. Eröffnen wir ihnen dann Erlebensräume, in denen sie insbesondere Kompetenzen, die auf der bewussten Ebene des Gehirns verankert sind, einüben können, fällt es ihnen leichter, die Herausforderungen zu bewältigen und gut für sich zu sorgen. Die Ruhe und der besondere Kontext am Pferd bieten KlientInnen einen Abstand von ihren überfordernden Situationen an, sodass sie stressfrei Kompetenzen in den Exekutivfunktionen aufbauen können. „Für die Reflexion unserer Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen brauchen wir Distanz zur Situation, sodass die emotionalen Regionen im Gehirn zur Ruhe kommen, bevor wir nachdenken“ (Urmoneit 2022, 324). Zusammenfassung und Schlussfolgerung Aufgrund der Erkenntnisse der Hirnforschung werden sich bestehende Konzepte in Beratung, Pädagogik und Psychotherapie anpassen müssen, damit Menschen wirksame Unterstützung beim Aufbau von Fähigkeiten, der Bewältigung von Herausforderungen und die Aufarbeitung von belastenden Erfahrungen erfahren. Die heilpädagogische Förderung mit dem Pferd stellt aus meiner Sicht eine Ressource dar, die bei der Veränderung dieser Konzepte bisher zu wenig Berücksichtigung findet. Insbesondere Menschen, die sich, wie in den Fallbeispielen beschrieben, Grundlagen in den neuronalen Systemen erarbeiten müssen, brauchen ganzheitliche Erlebensräume. Entstehen in der konkreten Situation nicht nur Gefühle und Gedanken, sondern auch die Notwendigkeit, ins Handeln zu kommen, sich an Situationen anzupassen, Störungen zu bewältigen, erlebt das Gehirn ein „Trainingslager“ für den Aufbau neuer synaptischer Verbindungen. Erst wenn diese Grundlage gelegt ist, fällt es den KlientInnen leichter, Lösungen Die heilpädagogische Förderung mit dem Pferd bietet ganzheitliche Erlebensräume. Die Autorin Imke Urmoneit Dipl. Sozialpädagogin, Systemische Therapeutin und Supervisorin (SG), Reit- und Voltigierpädagogin (DKThR), Master of Arts Organisationsentwicklung, Seminarangebot rund um das Thema Neurobiologie in Beratung und Pädagogik. Anschrift Wölblinstrasse 48 · 79539 Lörrach · Imke.urmoneit@t-online.de www.systemische-praxis-loerrach.de · www.litfor.de 12 | mup 1|2023 Urmoneit - Wirkfaktor Pferd? für ihre Anliegen zu entwickeln. Damit diese Ressource der heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd eine größere Verbreitung finden kann, ist es meines Erachtens wichtig, drei Aspekte auf der übergeordneten Ebene voranzubringen: ■ Durchführung von Forschungsprojekten, die sich der Frage zuwenden, ob die Arbeit am Pferd die Hirnentwicklung und den Aufbau von Resilienz unterstützt ■ Professionalisierung der Fachkräfte durch die Anbindung an etablierte Berufsbilder und die Organisation von Weiterbildungen hinsichtlich der neurobiologischen Grundlagen ■ Erwirken der Kostenübernahme durch Jugendämter und Krankenkassen, insbesondere für KlientInnen, die Übungsfelder für den Aufbau grundlegender emotionaler, kognitiver und verhaltensbezogener Kompetenzen brauchen Die Darstellung der drei Fallbeispiele und ihre theoretische Einordnung sollen einen Beitrag leisten, diese Entwicklung anzustoßen. Literatur ■ Carter, R. (2019): Das Gehirn. 3. Aufl. Dorling Kindersley, München ■ Cozolino, L. (2007): Die Neurobiologie menschlicher Beziehungen. VAK Verlag, Kirchzarten ■ Garbe, E. (2016): Das kindliche Entwicklungstrauma. Verstehen und bewältigen. 2. Aufl. Klett- Cotta, Stuttgart ■ Grawe, K. (2004): Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen ■ Kröger, A. (2005): Partnerschaftlich miteinander umgehen. 2. Aufl. FN Verlag, Warendorf ■ Roth, G., Strüber, N. (2015): Wie das Gehirn die Seele macht. 5. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart ■ Urmoneit, I. (2015): Pferdgestützte systemische Pädagogik. 3. Aufl. Ernst Reinhardt, München ■ Urmoneit, I. (2022): Wie wir fühlen, denken und handeln. Einblicke in die Neurobiologie menschlichen Lebens. Litfor, Lörrach Weiterbildung Qualitätssicherung in der pferdgestützten Therapie, Förderung und im Sport Medizin Psychotherapie Psychologie Pädagogik Sport Weiterbildung Qualitätssicherung in der pferdgestützten Therapie, Förderung und im Sport Medizin Psychotherapie Psychologie Pädagogik Sport Lorem ipsum • Assistent im Therapeutischen Reiten (DKThR) • Pferdefachliche Eingangsqualifikation „UPSG“ • Pferdgestützte Heilpädagogik • Pferdgestützte Traumapädagogik • Pferdgestützte Pädagogik • Pferdgestützte Psychotherapie • Pferdgestützte Physiotherapie „Hippotherapie (DKThR)®“ • Pferdgestützte Ergotherapie • Pferdesport für Menschen mit Behinderung • Fachseminare - laufend aktualisiert Alle Angebote unter www.dkthr.de ... von der Grundlagenqualifikation bis zum Fachseminar, von analog, hybrid bis digital, von zu Hause aus bis zur Praxisarbeit in der Präsenz. Wir freuen uns auf Sie und sind für Sie da. Nutzen Sie auch gerne unseren Service der persönlichen Beratung. 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