mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Forum: HIPS-Reittherapie bei Zehenspitzengang
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Natalie Schnitzler
Im Rahmen meiner Abschlussarbeit beschäftigte ich mich mit dem Zehenspitzengang eines 7-jährigen Mädchens und dokumentierte die Auswirkungen der HIPS-Reittherapie auf ihr Gangbild.
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mup 3|2023|109-115|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2023.art14d | 109 Natalie Schnitzler, BA, MA Forum HIPS-Reittherapie bei Zehenspitzengang Im Rahmen meiner Abschlussarbeit beschäftigte ich mich mit dem Zehenspitzengang eines 7-jährigen Mädchens und dokumentierte die Auswirkungen der HIPS-Reittherapie auf ihr Gangbild. Als Therapieziele wurden eine Verbesserung des Gangbildes sowie des Gleichgewichtes angestrebt. Zu erwähnen ist noch, dass bei dem Mädchen der Tonische Labyrinthreflex aktiv war und sich vor allem in Schwierigkeiten beim Gleichgewicht sowie im Zehenspitzengang zeigte. Was ist unter Zehenspitzengang zu verstehen? Wie der Name Zehenspitzengang (ZSG) schon schließen lässt, handelt es sich dabei um eine vermehrte Belastung des Vorfußes bis hin zum Gang auf den Zehen. Der habituelle Zehenspitzengang ist eine Ganganomalie. Der Mensch als Sohlengänger wechselt dabei auf den Vorfußgang oder zwischen den beiden (Pomarino et al. 2012, 12). Wenn habituelle Zehenspitzengänger plantigrad, also auf der Sohle anstatt auf dem Vorfuß stehen, dann wird die fehlende Beweglichkeit kompensiert, indem sie den Oberkörper in den Hüftgelenken beugen und eine Außenrotation der Beine zu sehen ist. Die Füße stehen dann in V-Haltung (Pomarino et al. 2012, 22). Der habituelle ZSG gilt als Randerscheinung in der Pädiatrie, Orthopädie und Neurologie. Für die Untersuchungen und Therapien gibt es kaum Standards. Bei einem über längeren Zeitraum persistierenden habituellen ZSG kommt es oft zu Rücken-, Knie- und Fußschmerzen, aber auch Rücken- und Fußdeformitäten sind möglich (Pomarino et al. 2012, 1). Der ZSG steht im Zusammenhang mit Muskelstörungen, Fehlfunktionen des Gleichgewichts und anderen Sinnen, Entwicklungsverzögerungen und familiärer Häufung (Pomarino et al. 2012, 15). Betroffene zeigen oft auch eine verkürzte Wadenmuskulatur (Pomarino et al. 2012, 21). Zehenspitzengang durch persistierende frühkindliche Reflexe Frühkindliche Reflexe sichern dem Menschen das Überleben. Durch verschiedene Reize, wie Berührungen, Geräusche, Licht oder Veränderung der Lage, werden diese unbewusst auf der Hirnstammebene ausgelöst. Diese Bewegungen sind unwillkürlich und werden benötigt, damit das Neugeborene unter neuen Bedingungen fortbestehen kann. Nicht nur für das Neugeborene sind die frühkindlichen Reflexe essenziell, sondern auch für das Ungeborene. So kann das Ungeborene im Mutterleib verschiedene Stellungen einnehmen, die wesentlich für die Entwicklung der Motorik und Sensorik sind. Je älter ein Kind wird, umso mehr werden diese Reflexe abgebaut und das Kind lernt, auf Reize bewusst zu reagieren (Beigel 2003, 83 f). Während der reittherapeutischen Einheiten muss darauf geachtet werden, die persistierenden Reflexe nicht versehentlich auszulösen. Deshalb ist es essentiell zu wissen, welche Reflexe aktiv bzw. möglicherweise noch aktiv sind und 110 | mup 3|2023 Forum: Schnitzler - HIPS-Reittherapie bei Zehenspitzengang durch welche Bewegungen oder Reize diese ausgelöst werden können. Beim Tonischen Labyrinthreflex (TLR) wird unterschieden zwischen dem TLR vorwärts und dem TLR rückwärts. Beide gehören zum Bereich des Gleichgewichtes (Beigel 2003, 95). Durch bestimmte Bewegungen des Kopfes können der TLR vorwärts oder der TLR rückwärts ausgelöst werden. Beim TLR vorwärts nimmt der Körper eine fötale Beugestellung ein, sobald der Kopf nach vorne, über die Mittellinie nach oben gebracht wird. Der TLR rückwärts wird ausgelöst, wenn der Kopf in Rückenlage fällt, sprich unter die Mittelinie nach unten und zeigt sich durch eine Streckung der Arme und Beine. Durch den TLR ist es dem Säugling möglich, während seiner ersten Lebensmonate auf die Schwerkraft zu reagieren. Der Muskeltonus wird ebenfalls vom TLR beeinflusst und auch die Propriozeption (Tiefensensibilität) wird trainiert. Die Bewegungen können erst verfeinert werden, wenn der Reflex allmählich unterdrückt oder integriert wird. Dadurch können sich notwendige Halte- und Stellreaktionen entwickeln, die für einen kontrollierten Muskeltonus essenziell sind (Beigel 2003, 95). Wenn der TLR nicht integriert wird, kann das Kind die Kopfstellreflexe nicht vollständig entwickeln. Dies beeinflusst ebenso die Funktion der Augen und andere Systeme können auch dadurch beeinflusst sein. Das Gleichgewicht wird durch fehlerhafte visuelle Informationen manipuliert und wiederum das Sehvermögen durch das mangelnde Gleichgewicht beeinflusst (Goddard Blythe 2018, 46). Mit etwa sechs Monaten sollte es dem Kind möglich sein, seinen Kopf kontrolliert zu bewegen. Nicht nur das ist durch einen persistierenden TLR kaum möglich, sondern es kommt auch zu Problemen im Umgang mit der Schwerkraft und das Kind kann nur schwer räumliche Beziehungen herstellen. Dadurch kann es Entfernungen, Tiefe und Geschwindigkeit kaum einschätzen (Beigel 2003, 96). Weiters wirkt sich ein aktiver TLR nicht nur auf Balance und Bewegung aus, sondern langes Stehen kann dadurch sehr anstrengend sein. Auch kann es dazu kommen, dass das Kind dazu neigt, den Kopf allgemein vorzubeugen. Die Bewegungen wirken allgemein ruckartig und steif. Oft wird eine Höhenangst aufgrund der schlechten Balance entwickelt. Veränderungen des Bodens werden mit großer Empfindlichkeit wahrgenommen, da die Kinder den Boden mit ihren Füßen greifen wollen, um so das Gleichgewicht leichter halten zu können (Goddard Blythe 2018, 48). Zu schnelle und ruckartige Bewegungen des Pferdes während der reittherapeutischen Einheiten hätten den persistierenden TLR auslösen können. Beispielsweise wenn das Pferd zu schnell bzw. ohne Vorankündigung losginge, wäre der Kopf des Kindes in Rückenlage gekommen. Daraufhin hätte das Kind die Arme und Beine vom Körper weggestreckt. Um dies zu vermeiden, braucht es, wie für fast alle Problematiken, ein ruhiges und verlässliches Pferd. Der Erfolg der HIPS-Reittherapie hängt damit nicht nur vom fachlichen Wissen des Reittherapeuten bzw. der Reittherapeutin, sondern auch vom Therapiepferd ab. Anzeichen für einen persistierenden Tonischen Labyrinthreflex: Der Tonische Labyrinthreflex vorwärts (vgl. Goddard Blythe 2018, 49): ■ Schlechte Haltung, z. B.: krummer Rücken ■ Schwacher Muskeltonus (Hypotonie) ■ Gleichgewichtsprobleme wie: kein ausgereifter Gleichgewichtssinn und Reiseübelkeit, vor allem im Auto ■ Wenig Interesse an Sport, Laufen etc. ■ Okulomotorische Dysfunktionen: Probleme in der visuellen und räumlichen Wahrnehmung Forum: Schnitzler - HIPS-Reittherapie bei Zehenspitzengang mup 3|2023 | 111 ■ Probleme beim Einhalten und Erkennen von Abfolgen ■ Kaum Zeitgefühl Der Tonische Labyrinthreflex rückwärts (vgl. Goddard Blythe 2018, 49): ■ Schlechte Haltung und Neigung, auf Zehenspitzen zu gehen ■ Probleme beim Balance halten und Koordination ■ Hypertonie: Bewegungen sind steif und ruckartig, die Streckmuskeln sind aktiver als die Beugemuskeln ■ Gleichgewichtsprobleme wie: kein ausgereifter Gleichgewichtssinn und Reiseübelkeit, vor allem im Auto ■ Okulomotorische Dysfunktionen: Probleme in der visuellen und räumlichen Wahrnehmung ■ Probleme beim Einhalten und Erkennen von Abfolgen ■ Kaum Organisationsfähigkeit vorhanden Bei dem Mädchen machte sich der persistierende TLR unter anderem bemerkbar durch den Zehenspitzengang, das fehlende Gleichgewicht, die zum Teil steifen und ruckartigen Bewegungen sowie der mangelnden Organisationsfähigkeit. Innerhalb der reittherapeutischen Einheiten versuchten wir diese Problematiken zu verbessern. Ablauf der reittherapeutischen Einheiten Um den TLR nicht auszulösen, wurde darauf geachtet, keine zu schnellen bzw. ruckartigen Bewegungen mit dem Pferd zu machen. In den ersten fünf Einheiten lag der Fokus darauf, dass sich das Mädchen sicher fühlte, sprich Beziehungen zwischen Mädchen, Pferd und Reittherapeut bzw. Reittherapeutin sollten aufgebaut werden. Auch sollte ihr Gleichgewicht geschult werden - denn ohne ein gutes Gleichgewicht ist es kaum möglich ein Gangbild zu verändern. Zu Beginn wurden auf dem stehenden Pferd Übungen wie: ■ die Ohren des Pferdes berühren, ■ den Schweif des Pferdes berühren, ■ das Pferd umarmen, ■ nach den eigenen Zehen greifen ■ und eine Mühle versucht. Zu erwähnen ist hier, dass es bei der Mühle nicht um die korrekte Ausübung ging, sondern um die Raumlageveränderung, um dadurch möglichst viele Impulse an das Gleichgewichtssystem zu senden. Auffällig war, dass es für jede Übung eine Idee gab, wie diese auszuführen war, jedoch haperte es bei der Umsetzung. Beim ersten Greifen nach den Ohren griff das Mädchen zwar mit einer Hand Richtung Pferdeohr, jedoch bewegte sich ihr Oberkörper dabei kaum nach vorne. Durch das Umarmen des Pferdes bekam sie ein Gefühl davon, wie es ist, ihren Oberkörper über den Pferdehals zu beugen und konnte dies in die vorher genannte Übung integrieren. Zum Sitz ist zu sagen, dass das Mädchen ihr Becken nach hinten gekippt hatte, ihr Rücken war rund und sie „lümmelte“ wie auf einem Stuhl. Ihre Knie und Zehen waren nach außen gerichtet, sprich in V-Haltung. Dies versuchten wir spielerisch zu verbessern. Dabei legte ich ihr eine Hand auf den Bauch und sagte ihr, sie solle meine Hand mit ihrem Bauch wegdrücken. Je nachdem wo genau die Hand lag, kippte sie das Becken mehr oder weniger vor. Das gleiche versuchten wir auch am Rücken, damit sie sich nicht selbst ins Hohlkreuz setzte. Da sie ein gutes Gespür hatte und ihr Becken selbstständig in Position bringen konnte, reichten kleine Impulse meinerseits vollkommen aus, denn sie konnte sich nach ein paar 112 | mup 3|2023 Forum: Schnitzler - HIPS-Reittherapie bei Zehenspitzengang Wiederholungen selbstständig mittig ausrichten und ihr Sitz verbesserte sich von Mal zu Mal. Bei der fünften Reiteinheit konnte sie alle Übungen schon mühelos im Schritt durchführen, nur die Mühle machte ihr noch Schwierigkeiten. Diese schaffte sie, während das Pferd im Schritt ging, bis zum Rückwärtssitz. Die Schwierigkeit darin lag an ihrem Handlungsplan und dem fehlenden Gleichgewicht, zusätzlich konnte sie im Außensitz keinen Blickkontakt zu mir aufbauen, was ihr etwas die Sicherheit nahm. Trotzdem gehörte die Mühle zu ihren absoluten Highlights und sie erzählte nach jeder Einheit ihrer Mutter, wie weit sie es geschafft hatte. Nach den Erfolgen der anfänglichen Einheiten wurden folgende Bewegungs- und Raumlageveränderungsübungen erarbeitet: ■ Knien ■ Prinzensitz ■ Prinzessinnensitz ■ Stehen (Wunsch des Mädchens) Die Übungen sind an den Voltigiersport angelehnt, jedoch wird keine korrekte Ausführung auf Basis des Turnierreglements angestrebt. Bei den Übungen stehen vor allem die Schulung des Gleichgewichtssinns sowie die Dehnung der Wadenmuskulatur im Vordergrund. Weiters wurde das Ausstreifen der Beine (angelehnt an Centered Riding) nach der ersten Schrittrunde eingeführt. Die vorherigen Bewegungsübungen wurden nach Einheit 8 eingestellt, da sie erstens problemlos ausgeführt werden konnten und zweitens die Zeit für die neuen Übungen benötigt wurde. Lediglich die Mühle wurde beibehalten. Das Knien auf dem Pferd fiel dem Mädchen besonders leicht. Bei dieser Übung traute sie sich schon bald eine Hand bzw. beide Hände loszulassen und zu klatschen. Dabei konnte sie die Balance im Schritt gut halten. Die Übung Stehen auf dem Pferd wurde hinzugefügt, da es ein großer Wunsch von ihr war, im Stehen zu reiten, so hatte sie einen eigenen Ansporn, der sie zusätzlich motivierte. Beim Prinzensitz, bei dem ein Bein auf dem Pferd liegt und das andere aufgestellt sein soll, hatte sie zu Beginn Probleme, ihre Ferse auf dem Pad abzustellen. Durch Abstreifen ihrer Wade bis über die Ferse hinaus, konnte so mit einer provozierenden Berührung die Ferse immer besser abgestellt werden, bis sie schließlich diese Berührung nicht mehr benötigte und die Ferse selbstständig abstellen konnte. Um ihr die Mühle zu erleichtern, wurde der Prinzessinnensitz - Seitwärtssitz mit überschlagenen Beinen - eingeführt. So konnte sie ohne in Stress zu geraten - da die größten Schwierigkeiten bei der letzten Drehung waren - davor nochmal im Prinzessinnensitz verweilen, bis sie bereit war, die letzte Drehung zu versuchen. Das nahm ihr nicht nur den Druck, der Seitwärtssitz wirkte Abb. 1: Vergleich Sitz nach der 2. und 4. Einheit. Forum: Schnitzler - HIPS-Reittherapie bei Zehenspitzengang mup 3|2023 | 113 sich auch positiv auf ihr Gleichgewicht aus, denn wer seinen Schwerpunkt zu weit nach vorne oder hinten verlagert, rutscht seitlich vom Pferd. Bei den Übungen im Seitsitz wurde vor allem darauf geachtet, dass das Mädchen die Balance gut halten kann, gerade in dieser Position hätte es schnell passieren können, dass sie den Kopf zu weit nach vorne oder hinten bewegt und der persistierende TLR ausgelöst wird. Durch die damit einhergehende Bewegung wäre die Wahrscheinlichkeit groß gewesen, dass sie vom Pferd fällt. Deshalb wurden diese Übungen im Seitsitz zuerst im Stehen gefestigt und die Phasen im Schritt waren zu Beginn eher kurz, um das Mädchen nicht zu überfordern und ich ging neben ihr mit, um sie sichern zu können. Bis zur 12. Einheit gelang ihr eine dreiviertel Mühle, die sie recht flott ausführen konnte. Das anfängliche Zögern wurde immer weniger und das Umgreifen an den Griffen wurde immer koordinierter, sicherer und schneller. Langsam hatte sie den Ablauf verinnerlicht und konnte sich darauf verlassen, beim Umgreifen nicht vom Pferd zu rutschen. Die Bewegungsübungen und Raumlageveränderungen wirkten sich auch positiv auf den Sitz des Mädchens aus. Je nach Tagesverfassung saß sie leicht im Stuhlsitz bzw. waren ihre Beine zu weit vorne und der Schwerpunkt dadurch zu weit hinten. Nach den Übungen konnte immer eine Verbesserung des Sitzes festgestellt werden und sie saß ausbalancierter auf dem Pferd. Weiters konnte sie das Aussteifen der Beine sehr gut annehmen. Dies fand immer nach der ersten Schrittrunde statt. Der ZSG kann mit einer verkürzten Wadenmuskulatur einhergehen und der Gastrocnemius (Wadenmuskel) des Mädchens war zu Beginn sehr deutlich zu spüren und fühlte sich sehr angespannt an. Mit jeder Einheit wurde dieser weniger spürbar und je entspannter und lockerer ihre Beine waren, umso leichter konnte sie die Ferse auf das Voltigierpad stellen. Beim Prinzensitz und auch bei der Mühle konnte sie die Beine flüssiger über den Pferdehals bzw. über die Kruppe bringen. Ebenso wirkte sich das Ausstreifen auf den Sitz aus. Ihre Beine wurden dadurch länger und wenn sie leicht zu weit vorne waren, fanden sie danach die richtige Position. In der 13. Einheit konnten gleich mehrere Durchbrüche erzielt werden. Insgesamt war der Sitz des Mädchens viel ausbalancierter und ihre Wadenmuskeln waren kaum noch angespannt; durch das Abstreifen der Beine, das schon ein Ritual unserer Einheiten geworden war, konnte immer überprüft werden, ob die Muskulatur angespannt war. Die Verbesserung war somit in jeder Einheit deutlich spürbar. Durch die gelockerten Waden und dem sicheren Stand im Prinzensitz konnte sie so gut die Balance halten, dass sie diese Übung auch freihändig schaffte. Auch wenn sie sich nur für ein paar Sekunden traute, war dieser Erfolg für sie riesig und half ihr enorm, Abb. 2: Vergleich Sitz nach der 2. und 16. Einheit. 114 | mup 3|2023 Forum: Schnitzler - HIPS-Reittherapie bei Zehenspitzengang um sich bei der Mühle zu überwinden, die letzte Drehung im Schritt zu wagen, die sie kurz darauf schaffte. Sie freute sich so sehr über ihren eigenen Erfolg, dass sie richtig hibbelig auf dem Pferd wurde und es selbst kaum glauben konnte. Die letzte Drehung erfolgte zwar eher schnell und etwas unkoordiniert, jedoch war es ein Schritt in die richtige Richtung und gab ihr enorm viel Selbstvertrauen. Als sie abgeholt wurde, gab es für sie nichts Wichtigeres, als ihrer Mutter von ihrem Erfolg zu erzählen. Bevor unsere Einheit jedoch beendet war, sagte das Mädchen noch zu mir, dass sie Reiten liebt. Auf meine Frage, warum sie denn das Reiten liebt, antwortete sie, dass danach ihre Beine immer so entspannt sind und sie so besser laufen kann. Auch ihre Mutter bestätigte, dass der ZSG besser geworden war, denn es gab mehr Phasen, in denen sie kaum auffällig bis „normal“ ging. In den Einheiten 14 bis 18 wurden vor allem die Übungen Mühle, Knien und Prinzensitz deutlich verbessert. Die Wadenmuskulatur wurde immer lockerer bzw. war teils gar keine Anspannung mehr spürbar, da nicht nur das Ausstreifen entspannend wirkte, sondern durch die Übungen die verkürzte Muskulatur gedehnt wurde. Positiv war auch, dass sich nach den Übungen der Sitz verbesserte, bis sie schließlich in einem gut ausbalancierten Reitsitz auf dem Pferderücken saß. Insgesamt war auch ihr ganzes Auftreten viel selbstsicherer geworden. Die Übungen wirkten sich nicht nur auf ihr Gleichgewicht und Gangbild positiv aus, sondern auch auf ihr Selbstvertrauen. Um sie weiter zu fördern, begannen wir mit Indianerzügeln, so nannten wir die Balancezügel, zu reiten. Diese hingen um den Hals des Pferdes. Durch die Balancezügel bekam sie weiteren Input vom Pferd und dessen Bewegung. Je öfter wir mit den Zügeln arbeiteten, umso besser konnte sie die Pferdebewegung aufnehmen und ausbalanciert sitzen, denn anfangs war es für sie schwierig, den Bewegungsimpulsen in ihren Händen und Armen nachzugeben. Da einer ihrer Wünsche das freie Reiten war, konnte ich mit Langzügeln hinter ihr gehen und sie genoss die „Freiheit“. Durch diese Position konnte ich ihren Sitz von hinten analysieren. Sie saß immer in der Mitte des Pferderückens, ihre Beine waren gleich lang und selbst in den Kurven war sie ausbalanciert. In Einheit 15 fand ein Bodensetting statt, bei dem wir einen großen Parcours für ein Pony aufbauten. Beim Führen war das Mädchen viel sicherer geworden, sie verlor zwar immer noch ab und an die Spur, jedoch konnte sie diese schnell wiederfinden. Ihr Gangbild wirkte insgesamt stabiler und ausbalancierter als zu Beginn der Reittherapie. Die Schwung- und Standbeinphasen waren denen des physiologischen Ganges schon viel ähnlicher geworden. Auffällig beim Führen war, dass, wenn sie die Spur verloren oder der Boden zu starke Unebenheiten hatte, die Tendenz im ZSG zu laufen, größer war. Da sich ihr ZSG über Jahre hinweg manifestiert hatte, war es anzunehmen, dass sie in unsicheren Phasen in den ihr vertrauteren Gang wechseln wird. Während der letzten Einheit im Erhebungszeitraum (Einheit 19), wurde ein großer Wunsch des Mädchens erfüllt. Aufgrund ihres ausbalancierten Sitzes und der Verbesserung des Gleichgewichts, erarbeiteten wir das Stehen auf dem Pferd im Schritt. Dies war auch nur mit Pferdeführerin möglich, um das Mädchen optimal sichern zu können. Zuvor hatte sich das Mädchen natürlich schon des Öfteren mit dieser Übung auf dem stehenden Pferd vertraut gemacht in den vorherigen Einheiten. Bevor mit der Übung begonnen wurde, wurden die bekannten Übungen mit Pferdeführerin geübt. Das Mädchen sollte sich sicher fühlen und sich mit der neuen Situation anfreunden. Die neue Gegebenheit, eine fremde Person die das Pferd führt, machte dem Mädchen nichts aus. Sie wirkte bei jeder Übung sehr sicher und zielstrebig. So begannen wir in der Hocke, jede Hand auf einem Griff und die Fußsohlen auf dem Voltigierpad, zu reiten. Dabei wurde geschaut, ob sie die ganze Sohle auf dem Pad abstellen konnte und wie stabil sie blieb. Weiters wurde geübt, den Popo so hoch zu strecken wie möglich und sich dabei an den Griffen festzuhalten. Danach wurde angehalten und wir wiederholten das Aufrichten auf dem stehenden Pferd. Zuerst hielt sich das Mädchen an meiner Hand fest, als sie sich aufgerichtet hatte, ließ sie los und ich sicherte sie rumpfnah und erinnerte sie daran, ihre Knie nicht ganz durchzustrecken, damit sie besser mit der Bewegung des Pferdes mitgehen kann und in Balance bleibt. Auf der langen Seite der Bahn war es dann soweit und das Forum: Schnitzler - HIPS-Reittherapie bei Zehenspitzengang mup 3|2023 | 115 Mädchen durfte langsam aufstehen, während das Pferd im Schritt geführt wurde. Sie stand ähnlich wie beim Skifahren in einer leichten Hocke. Ihr Blick war konzentriert nach vorne gerichtet und gleichzeitig strahlte sie über das ganze Gesicht. Ihr Wunsch, im Stehen zu reiten, war endlich wahr geworden. Während sie auf dem Rücken des Pferdes stand, konnte man gut beobachten, wie ausbalanciert sie geworden war. Sie konnte mit der Pferdebewegung mitgehen und wirkte insgesamt sehr durchlässig. Dieses Erlebnis hatte nicht nur ihren Selbstwert enorm gesteigert, sondern ihr auch gezeigt, dass sie gesetzte Ziele schaffen kann und sich über ihre eigenen Grenzen trauen darf. Insgesamt hatten sich ihr Gleichgewicht und ihr Gangbild deutlich verbessert. Während und auch nach der HIPS-Reittherapie konnten vermehrt Phasen festgestellt werden, in denen sie die Ferse beim Gehen auf dem Boden hatte. Sie war nun explorativer und handlungsfähiger als zu Beginn der Reittherapie. Um die Wirkung festzuhalten, wurde das Mädchen vor und nach jeder Einheit beim Gehen gefilmt und diese Aufnahmen sind wirklich sehenswert. Abschließend ist zu sagen, dass unsere reittherapeutischen Einheiten, die im Jahr 2021 gestartet haben, auch heute noch mit dem Mädchen durchgeführt werden. Mittlerweile hat sich ihr Gangbild nochmals verbessert, ebenso wie ihr Gleichgewicht. Heute kann sie schon traben sowie galoppieren und frei reiten. Im Allgemeinen kann ich sagen, dass die HIPS-Reittherapie eine geeignete Methode ist, um dem ZSG entgegenzuwirken. Trotzdem weise ich darauf hin, dass dieser Erfolg von verschiedenen Faktoren abhängig ist. Durch mein eigenes Interesse an frühkindlichen Reflexen und dem Austausch mit Experten war die Reittherapie nicht nur erfolgreich, ich konnte ebenso Wissen für zukünftige Klienten und Klientinnen sammeln. Nicht außer Acht zu lassen ist die hohe Motivation und Bereitschaft des Mädchens, mitzuarbeiten - dadurch konnten viele Dinge schnell und einfach umgesetzt werden - sowie die Kooperation mit den Eltern und deren Glauben an ihr Kind, die Reittherapie und an mich. Literaturverzeichnis ■ Beigel, D. (2003): Flügel und Wurzeln. Persistierende Restreaktionen frühkindlicher Reflexe und ihre Auswirkungen auf Lernen und Verhalten. Modernes Lernen, Dortmund ■ Goddard Blythe, S. (2018): Greifen und BeGreifen. Wie Lernen und Verhalten mit frühkindlichen Reflexen zusammenhängen. 12. Aufl. VAK, Kirchzarten bei Freiburg ■ Pomarino, D., et al. (2012): Der habituelle Zehenspitzengang. Diagnostik, Klassifikation, Therapie. Schattauer, Stuttgart Die Autorin Natalie Schnitzler BA Erziehungswissenschaften, MA Psychomotorik, Motopädagogin, HIPS-Reittherapeutin, Reitpädagogin FEBS & GRIPS, Lern-, Legasthenie- und Dyskalkulietrainerin EREL, Voltigierwart FENA, Senso-Reflex-Coach i. A. Kontakt office@lernenmit4hufen.at · Tel. 0664 36 43 851 www.lernenmit4hufen.at
