eJournals mensch & pferd international 15/2

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2023.art08d
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2023
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Forum: HIPS-Reittherapie bei Kindern und Jugendlichen mit frühkindlichen Gewalterfahrungen

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2023
Theresa Szabo
In meiner Arbeit als Sozialpädagogin bin ich bereits vielen Kindern und Jugendlichen begegnet und einige davon durfte ich persönlich ein Stück auf ihrem Lebensweg begleiten und sie bei ihrer Entwicklung beobachten und unterstützen. In den letzten Jahren habe ich beobachtet, dass Kinder und Jugendliche, die schwere traumatische Erlebnisse hatten, veränderte Körperschemata aufweisen - also sich selbst in ihrer Umwelt verzerrt wahrnehmen. Die verzerrte Vorstellung vom eigenen Körper scheint sich besonders in der Bewegung und der Körperhaltung von Kindern, die bereits früh in ihrem Leben Gewalt erfahren haben, zu zeigen. Bewegungsabläufe sind oft ungeschickt, wenig geschmeidig oder die Körperhaltung zeigt ein In-sich-gekehrt-Sein, wie ein Abwenden von der Welt.
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mup 2|2023|57-64|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2023.art08d | 57 Theresa Szabo Forum HIPS-Reittherapie bei Kindern und Jugendlichen mit frühkindlichen Gewalterfahrungen In meiner Arbeit als Sozialpädagogin bin ich bereits vielen Kindern und Jugendlichen begegnet und einige davon durfte ich persönlich ein Stück auf ihrem Lebensweg begleiten und sie bei ihrer Entwicklung beobachten und unterstützen. In den letzten Jahren habe ich beobachtet, dass Kinder und Jugendliche, die schwere traumatische Erlebnisse hatten, veränderte Körperschemata aufweisen - also sich selbst in ihrer Umwelt verzerrt wahrnehmen. Die verzerrte Vorstellung vom eigenen Körper scheint sich besonders in der Bewegung und der Körperhaltung von Kindern, die bereits früh in ihrem Leben Gewalt erfahren haben, zu zeigen. Bewegungsabläufe sind oft ungeschickt, wenig geschmeidig oder die Körperhaltung zeigt ein In-sich-gekehrt-Sein, wie ein Abwenden von der Welt. Meine wissenschaftliche Abschlussarbeit, die ich im Rahmen meiner Zusatzqualifikation zur akademischen Expertin für HIPS®-Reittherapie geschrieben habe, trägt den gleichnamigen Titel dieses Beitrages. Ich konnte zwei Probandinnen für meine Arbeit gewinnen, die ich bereits aus der sozialpädagogischen Wohngruppe meines Arbeitsplatzes kenne. Beiden nahmen jeweils 8-mal an HIPS-Einheiten teil, die über 10 Wochen verteilt waren. Ich habe die Einheiten nach den Methoden und Konzepten der HIPS-Reittherapie durchgeführt und dokumentiert. Jeweils nach den Einheiten wurden die Bezugssozialpädagoginnen und -pädagogen interviewt. Diese Interviews wurden ausgewertet und mit meinen Dokumentationen und Beobachtungen verglichen und in Bezug zu meinen theoretischen Recherchen gebracht. Ich möchte in diesem Bericht auszugsweise einen Einblick in meine Arbeit geben. Theoretische Grundlagen meiner Arbeit Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung des Kindes ist die sichere Bindung zu seinen direkten Bindungspersonen. Die Phase des Bondings ist ausschlaggebend für die weitere Bindung zwischen den Eltern und dem Kind sowie für die gesunde, altersadäquate Entwicklung des Kindes. Grund dafür ist die gegenseitige Wirkung von Bindungsperson und Säugling aufeinander. Bindung entsteht dadurch, dass die ausgesendeten Signale nach Bedürfnissen des Säuglings durch die Bindungsperson aufgenommen, wahrgenommen und so darauf reagiert wird, dass das Bedürfnis befriedigt ist. Hier handelt es sich nicht lediglich um körperliche Bedürfnisse, wie Hunger, Durst und so weiter, sondern auch um den Wunsch nach Zuwendung, Fürsorge, Nähe, Schutz, Trost, Zärtlichkeit und vielem mehr. So wird Bindung zum Motivsystem, das Sicherheit schafft und Exploration ermöglicht. Der Psychoanalytiker René Spitz zeigt in seiner Studie zum Hospitalismus, dass durch das Entziehen emotionaler Bindungsmöglichkeiten massive Entwicklungsrückstände entstehen. Weiter lässt sich entnehmen, dass Kinder, die in den kritischen ersten drei Jahren ohne die Möglichkeit zur Bildung einer tragfähigen Beziehung zu einem Menschen aufwachsen, 58 | mup 2|2023 Forum: Szabo - HIPS-Reittherapie bei Kindern und Jugendlichen in ihrer Entwicklung zurückbleiben. Kleinkinder können sich also nur dann entwickeln, lernen und sich in die Welt der neuen Erfahrungen wagen, wenn sie aus einer gesicherten emotionalen Bindung zu einer nicht wechselnden Bindungsperson kommen, in deren Schutz sie jederzeit zurückkehren können (Schenk-Danzinger 2006, 125 f). Somit ist es nur logisch davon auszugehen, dass Kinder, die bereits früh in ihrem Leben mit Gewalt konfrontiert sind, in ihrem Bedürfnis nach Exploration eingeschränkt sind und somit bis zu einem gewissen Grad aufhören, sich selbst und ihre Umwelt zu erforschen. Die HIPS-Reittherapie (HIPS = Heilsames, Intuitives Pferdesetting) gründet sich unter anderem auf Konzepte der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie. In dieser wird zwischen dem Leib, der ich bin, und dem Körper, den ich habe, unterschieden. Mit dem „Leib“ wird die Einheit von körperlicher, geistiger und seelischer Dimension des Menschen in Raum und Zeit beschrieben, während der „Körper“ den anatomisch-physikalischen Teil des Menschen meint (Höhmann-Kost 2002, 18). Das Fernbleiben von Bindung kann in der Entwicklung eines Menschen eine Störung in ebendieser Leibentwicklung hervorrufen. Gewalt und ihre Folgen sowie die HIPS-Reittherapie und ihre positive Wirkung auf den Menschen Die Folgen von Gewalt an Kindern sind in den verschiedensten Bereichen erkennbar. Körperliche Verletzungsmerkmale können beispielsweise als blaue Flecken oder Striemen sichtbar sein. Es liegen jedoch häufig auch körperliche Merkmale vor, die auf den ersten Blick nicht erkennbar sind. Dazu zählen Skelettverletzungen, Kopf- und Nackenverletzungen, innere Verletzungen und Wachstumsstörungen. Neben den körperlichen Verletzungsmerkmalen sind es erfahrungsgemäß häufig die unspezifischen Signale - wie ungeschickte Bewegungsabläufe oder emotionale Befindlichkeiten, die sich in Mimik und Körperhaltung zeigen, die oft nicht in Zusammenhang mit Gewalt- oder Missbrauchserfahrungen gebracht werden und auch nicht automatisch gebracht werden können - die beachtet werden müssten. Diese Vielfalt an Erkennungsmustern erschwert eine eindeutige oder genaue Zuordnung von Gewaltopfern. Unumstritten ist wohl, dass Gewalt kognitive und / oder körperliche Schädigungen nach sich ziehen kann. So können sich Misshandlungen unter Umständen auf die Sprachentwicklung von Kindern auswirken: Lispeln, Pieps-Stimme, ein begrenzter Wortschatz, ständige Wortwiederholungen, Sätze nicht zu Ende zu bilden, Babysprache oder auch eine altkluge Redensweise können Anzeichen sein, die es zu beachten gilt. Weiter sind Schädigungen im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung möglich, welche einen wesentlichen Eingriff in die weitere Entwicklung zur Adoleszenz bedeuten. Erkennbar werden diese in folgenden Bereichen: Essstörungen, psychiatrische Auffälligkeiten (Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen, Zwangsstörungen etc.), Autoaggressivität, soziale Kontaktstörungen, Verhaltensauffälligkeiten (Aggressivität, Enuresis, Enkopresis, Hyperaktivität, beeinträchtigtes Selbstwertgefühl etc.), Depressionen, Freudlosigkeit, Niedergeschlagenheit, Gefühl der Hilflosigkeit und vieles mehr (Kaselitz / Lercher 2002, 32 ff). Außerdem ist an diesem Punkt zu erwähnen, dass alle diese Symptome Folgen von psychischer, physischer und / oder sexueller Gewalt sein können, jedoch nicht sein müssen. Meine Erfahrung als Sozialpädagogin hat mir bereits des Öfteren gezeigt, dass mit solchen Informationen beziehungsweise Erkenntnissen unter allen Umständen achtsam umgegangen werden muss. Denn unachtsames Handeln hat massive Folgen für die Kinder und kann zu sekundären Traumaerlebnissen oder Bindungsabbrüchen führen. Die positive Wirkung von Pferden auf vielen Ebenen des menschlichen Lebens ist bekannt und auch durch Studien belegt. Das sensitive Pferd ist als Herdentier auf Beziehungen angewiesen. Es ist auch in der Lage, Beziehungen zwischen den Arten einzugehen und sich auf Menschen einzu- Forum: Szabo - HIPS-Reittherapie bei Kindern und Jugendlichen mup 2|2023 | 59 lassen. Seine Intelligenz und Sensibilität gepaart mit dem Bedürfnis nach Beziehung - das Pferd braucht in der Gemeinschaft mit Menschen Fürsorge und Pflege, Angebote für seine Intelligenz und eine Umgebung der Beständigkeit, um sich gut entwickeln zu können - öffnen unzählige Erfahrungsräume für gemeinsame partnerschaftliche Entdeckungen. Man kann aber auf dem Pferd auch sitzen, sich tragen lassen, sich von ihm bewegen lassen. In der Bewegungsübertragung liegen wunderbare Erfahrungswelten für den Menschen, heilsame Prozesse können angestoßen werden und neue Leiberfahrungen in den Alltag übertragen werden. So wird beispielsweise dem, im Sinne des hilfesuchenden Menschen, „richtigen“ Führen des Pferdes großer Wert beigemessen. Es kommen in der HIPS-Reittherapie zehn Führtechniken zum Einsatz, die, je nach Situation und Symptomatik, angewandt werden. Das Führen des Pferdes in einem taktvollen Schritt, kann sich positiv auf die Motorik, Balance und Sprachmotorik auswirken. Aber auch psychosoziale Aspekte, wie beispielsweise Depressionen, regressives Verhalten und Ängstlichkeit, können durch die reittherapeutischen Settings mit dem Partner Pferd positiv beeinflusst werden. Die HIPS-Reittherapie nach Dell’mour beschreibt das heilsame, intuitive Pferdesetting mit und auf dem Partner Pferd. Im Fokus der Umsetzung stehen wesentliche und ausschlaggebende Tools, die von der akademischen Expertin oder dem akademischen Experten für HIPS-Reittherapie unter ganzheitlicher Betrachtung eingesetzt werden, und dies in ständiger Kooperation und Kommunikation mit dem Therapiepferd. Im Folgenden werden auszugsweise Einblicke in das Handwerkszeug der HIPS-Reittherapie gegeben und die diversen Ebenen, auf denen diese Form der Reittherapie wirkt, dargelegt. Die hermeneutische Spirale Die hermeneutische Spirale beschreibt die Grundhaltung der Beziehungsgestaltung innerhalb der Settings. Das Wahrnehmen, Erfassen, Verstehen und Erklären einer Situation erfolgt in einer wiederkehrenden Schleife und kann so auch als Handwerkszeug verstanden werden. 1. Offenheit für Stimmungen und Atmosphären, ausgehend von den Akteuren, dem hilfesuchenden Menschen und dem Pferd. Es geht um das Wahrnehmen und „Hinhören“. 2. Die Situation, das, was sich in den Settings zeigt, unterliegt einer vorurteilsfreien und phänomenologischen Analyse. Es geht um das Erfassen einer Situation. 3. Stimmung und Analyse unterliegen nun der fachlichen Expertise. Es werden Bewertungen und Interpretationen überprüft, um so die eigenen Anteile filtern zu können. Im Prozess des Verstehens entstehen Handlungsmöglichkeiten, Impulse zu setzen. Diese Impulsideen durchlaufen nochmals eine fachliche Überprüfung. Es geht um das Verstehen einer Situation mit einem umfassenden Blick. 4. Im Prozess werden unterschiedliche Ansätze entwickelt. Die reittherapeutische Intervention zielt auf einen dieser Ansätze. Dabei beachtet Abb. 1: ein zaghaftes Antasten Alle Abbildungen: Wolfgang Paretta, Bergheim / Salzburg 60 | mup 2|2023 Forum: Szabo - HIPS-Reittherapie bei Kindern und Jugendlichen werden muss, dass das Pferd allein bereits eine Intervention ist (Dell’mour 2010, 143 f). Es geht um das „Erklären“ der Situation mittels einer Intervention. Die vier Wege der Heilung und Förderung Reittherapeutische Wegbegleitung bedeutet - mit fachlichem Wissen, Erfahrung, Theorie und unter Miteinbeziehen des zugrundeliegenden Berufs - eine Wanderung durch unbekanntes Gelände. H. G. Petzold, der Begründer der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie, auf die sich die HIPS-Reittherapie gründet, beschreibt in den Grundlagenbänden zur integrativen Bewegungstherapie bereits 1988 die „vier Wege der Heilung und Förderung“. Dieses Phasenmodell ermöglicht einen erweiterten Blickwinkel sowie weitere Handlungsmöglichkeiten. In der praktischen Arbeit kommen die Schritte nicht in Reihenfolge nacheinander. Sie können parallel laufen, sich überschneiden, auseinander hervorgehen oder Abzweigungen bilden. Auf die Reittherapie übertragen bedeutet das: ■ Die Bewusstseinsarbeit - im Bewegungsdialog zwischen Mensch und Pferd kommt der leiblichen Empfindung besondere Bedeutung zu. Umwelteinflüsse, wie Kälte, Wärme, Wind und Veränderungen der Umgebung im Jahreskreis können zusätzlich aufgegriffen werden. Das bewusste und achtsame Wahrnehmen wird möglich und Emotionen können aufgegriffen und zum Ausdruck gebracht werden. ■ Die Nachsozialisation - oder das Bilden von Grundvertrauen und Selbstwert. Defizite und Traumata können die Persönlichkeitsentwicklung schädigen. Neue Erfahrungen von Akzeptanz, leiblicher Achtsamkeit und Fürsorge in einem sicheren Umfeld, das Getragenwerden vom Pferd sind bei entsprechendem Vertrauensverhältnis „nachnährend“. ■ Die Erlebnisaktivierung - oder die ressourcenorientierte Persönlichkeitsentfaltung. Die Gesamtheit positiver und negativer Erfahrungen kommen zum Ausdruck. Auf diesem Weg werden protektive Ressourcen aktiviert, die durch die Auseinandersetzung mit dem Pferd mehrere Perspektiven bekommen sollen. Es werden Erfahrungen mit allen Sinnen gemacht. Es wird zum genussvollen Wahrnehmen angeleitet. Es darf aus sich herausgegangen werden - das Recht auf Kreativität. Durch das Bewusstmachen und Benennen von Empfindungen und dem Austausch über das leibliche Spüren / dem Dialog mit dem Pferd wird das Hier und Jetzt präsent. Die Angebote intermediärer Quergänge ziehen zu können, dient der Erlebnisaktivierung und dem persönlichen Ausdruck. ■ Die Solidaritätserfahrung - oder die Metaebene, das FüreinanderEinstehen und das soziale Engagement. Es werden familiäre, berufliche und andere gesellschaftliche Systeme zum Thema. Die HIPS-Reittherapie endet nicht an der Stalltüre. Die akademische Fachkraft sucht proaktiv den Austausch mit anderen Fachkräften, um so ein tragfähiges und multiprofessionelles Netz für den Menschen zu spannen. Als aktive Hilfe und Beratung für den einzelnen Menschen und die Familie dient das Gefühl des „Nicht-allein-Seins“. Dies ermöglicht den Gewinn von Selbstwirksamkeit und Abbau der Hilflosigkeit (Braunbarth 2009, 66-73). Die drei Ebenen der reittherapeutischen Tiefung in HIPS Therapeutische Prozesse sind von unterschiedlicher Intensität, dabei sollten jedoch alle ihren Sinn und ihre Indikation haben. So wird das auch in der HIPS-Reittherapie gesehen. Die drei Ebenen sind in Folge angeführt: Ebene der Reflexion - Hier stehen Interventionen im funktionalen und funktionellen Bereich im Vordergrund. Reflexionsfragen können sein: „Wie ist dir das Antraben gelungen? “, „Wie hast du das gemacht? “, „Was haben wir heute gemeinsam mit dem Pferd gemacht? “, Vergleiche von Vorher und Nachher, „Was fällt dir leichter, schwerer? “ Forum: Szabo - HIPS-Reittherapie bei Kindern und Jugendlichen mup 2|2023 | 61 ■ Ebene der Emotionen: Erlebtes auf der Gefühlsebene reflektieren. Aufbauend auf der Ebene der Reflexionen leiten Fragen hinsichtlich der Gefühle in eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema. Ein Beispiel zur Erläuterung: „Wie fühlt es sich für dich an, dass dir das Antraben gelungen ist? Wo fühlst du das in dir? “ ■ Ebene der Narrative: Eine Tiefung auf dieser Ebene bringt die Lebensgeschichte des Menschen in den Fokus. Aufbauend auf der Ebene der Reflexionen oder der Ebene der Emotionen können Fragen auf dieser Ebene folgendermaßen sein: „Wann in deinem Leben hast du so ein Gefühl schon gehabt? “, „An was erinnert dich die Situation? “, „Du bist zufrieden mit dir und deinem Pferd - wann hast du diese Zufriedenheit und wobei noch erlebt? “ ■ In der HIPS-Reittherapie gilt es, eine sorgfältige Abwägung hinsichtlich der Tiefungsebenen durchzuführen. Die Kenntnis der Tiefungen ermöglicht auch ein professionelles Einhalten derselben. Dem Abgleiten in unpassende Ebenen kann durch die Kenntnis Einhalt geboten werden werden. Zwei Fallbeispiele aus meiner sozialpädagogischen Arbeit In meiner Arbeit habe ich mit zwei Probandinnen gearbeitet, welche aus zerrütteten Familien stammen und bereits ab dem Säuglingsalter Gewalt erleben mussten. Um die Privatsphäre und die Personen als solche zu schützen, werden sie im weiteren Verlauf C. und S. genannt. Die Probandinnen leben in ähnlichen Rahmenbedingungen. Beide sind in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft fremduntergebracht. Dort werden sie im vollstationären Setting von fachlich ausgebildeten Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen betreut. Zeitgleich gibt es im Rahmen des Möglichen regelmäßig Vernetzungen mit den Eltern, um auch im Herkunftssystem eingefahrene Muster nachhaltig und positiv beeinflussen zu können. Trotz der Ähnlichkeit der Biografien, weisen beide Probandinnen konträre Körperschemata auf. Beide Probandinnen wurden in die HIPS-Reittherapie aufgenommen. Jeweils nach den Einheiten wurden Interviews mit den Bezugssozialpädagoginnen und -pädagogen geführt. Fallbeispiel C.: C. ist ein siebzehnjähriges Mädchen. C. hat sich lange Zeit durch Schnitte auf der Haut selbst verletzt, weshalb ihr Körper, vor allem Beine und Arme, von Narben übersät ist. C. befindet sich im Prozess der Geschlechteridentifikation und sieht sich zurzeit als geschlechtsneutral. Um diesem Umstand gerecht zu werden und die Zerrissenheit besser fassen zu können, werden im Text die Pronomen „sie“ und „er“ absichtlich vermischt. Ein Grund für das Nicht-anerkennen-Können ihres Geschlechts scheint die gewaltgeprägte Beziehung zwischen Mutter und Kind zu sein. Es stehen sexueller, psychischer und physischer Missbrauch im Raum und sind bis zum heutigen Tag nicht ausgeschlossen. Fakt ist, dass C. unter Flashbacks leidet, aus denen er, je nach den ihn umgebenden, unterstützenden Ressourcen, teils nur durch Medikation wieder herausfindet. C. scheint oft darum besorgt und bekümmert, wie es anderen geht und was diese Personen von ihm denken. In Abwägung und Wirkung der traumatischen Erlebnisse konnten folgende Phänomene erfasst werden: Der Jugendliche hat einen diagnostizierten Beckenschiefstand. Sein Gang lässt sich als x-beinig beschreiben. Die Knie sind in Stehen und Gehen zueinander gedreht, die Füße etwa in einer Linie mit den Schultern und die Zehenspitzen zeigen zueinander. C. ist in seinem Oberkörper gebeugt. Ausgehend von seiner schwachen Bauchmuskulatur ist eine Ausgleichsbewegung in Form einer hohlkreuzartigen Lendenwirbelsäule und Krümmung des oberen Rückens deutlich erkennbar. Die Schultern fallen dabei in Richtung Brustkorb. Diese Haltung und Bewegungsabläufe könnten der jahrelangen Depression und Gewalterfahrung zugeschrieben werden. Diese Körperhaltung könnte als ein In-sich-gekehrt-Sein, ein 62 | mup 2|2023 Forum: Szabo - HIPS-Reittherapie bei Kindern und Jugendlichen Verstecken oder gar Abschirmen von der Umwelt verstanden werden. Der Jugendliche scheint von der Depression gekrümmt. Fallbeispiel S.: S. ist ein achtjähriges Mädchen. Sie wirkt eher aufbrausend und scheint gern im Mittelpunkt zu stehen. In ihr fremden und / oder neuen Situationen reagiert sie jedoch nervös und schüchtern. Besonders auffallend sind das Gehen und Laufen des Mädchens, welches von nach außen gedrehten Knien und Füßen stark beeinflusst wirkt. Das Becken stellt S. dabei nach hinten aus, die Beinstellung wird breitspurig, sodass Knie und Füße nach außen gedreht sind, der Oberkörper kippt nach vorne und die Arme dienen als zusätzliche Balance und rudern in der Laufbewegung mit. Das Laufen wirkt tollpatschig und ungeschickt. S. hat in ihrer frühen Kindheit bereits erfahren müssen, was Gewalt bedeutet. In einer kleinen Wohnung wächst das Mädchen im Beisein der Mutter, des Vaters und des Onkels auf. Die Beziehung der Eltern ist durch Übergriffe geprägt, weshalb es nach mehreren Jahren physischer, psychischer und sexueller Misshandlung zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe des Kindesvaters kommt. S. befindet sich demnach in einem massiven Konflikt mit sich selbst und fühlt sich zwischen ihren primären Bindungsfiguren hin- und hergerissen. Das Mädchen ist sehr sprunghaft in ihren Entscheidungen und Meinungen und wechselt im Ausdruck ihrer Bedürfnisse und / oder Wünsche oft und sehr rasch. Fürsorge und Empathie für ihre Mitmenschen kann das Mädchen nur teilweise aufbringen und empfinden. Es scheinen nur ihre Anteile wichtig zu sein und sie kann nicht wahrnehmen, wenn ihr Gegenüber gekränkt ist. Weiter ist bei S. ausdrücklich zu erwähnen, dass sie sehr empfindsam für Atmosphären ist, die ihre Handlungen und ihr Verhalten stark beeinflussen. Erkenntnisse aus meiner Arbeit Nun stellt sich noch die Frage, wie sich die HIPS-Reittherapie auf diese zwei früh traumatisierten Mädchen ausgewirkt hat. Mithilfe der Erfahrungen und Fakten, die ich durch meine Arbeit erlangt habe, möchte ich diese Frage folgendermaßen beantworten: Die Überschriften der folgenden Unterkapitel sind Aussagen, die von den beiden Probandinnen oder mir getätigt wurden. Bereits diese lassen eine Tendenz, die Wirkung betreffend, erkennen. „Das ist ja viel angenehmer! “ - die Aufrichtung Aus den verschiedenen Dokumentationen geht hervor, dass die HIPS-Reittherapie, durch den richtig dosierten und getakteten Schritt, nachhaltig aufrichtend wirkt. Durch die Bewegungsübertragung vom Pferderücken auf den Menschen passiert so eine natürliche Aufrichtung vom Becken ausgehend. Die innere Skelettmuskulatur wird gestärkt und der Köper beginnt sich aufzurichten (nicht nur am Pferd, sondern später auch am Boden) und neu auszubalancieren. Ich habe, wie bereits angeführt, im Rahmen meiner sozialpädagogischen Arbeit die Erfahrung gesammelt, dass gerade Kinder, die frühzeitig in ihrem Leben Gewalt erfahren haben, häufig nicht ausbalanciert und unkoordiniert in ihrem Körper und ihren Bewegungen sind. Der Vergleich der Bewegungsabläufe vor und nach dem Reiten, aber auch nach Auswertung der geführten Interviews, zeigt, dass sich die Körperhaltung und -spannung Abb. 2: Nähe und Wärme Forum: Szabo - HIPS-Reittherapie bei Kindern und Jugendlichen mup 2|2023 | 63 sowie die körpereigene Balance deutlich verbessert haben. Das Körpergefühl und das anfangs angesprochene Körperschema haben sich positiv entwickelt. „Ich bin ja viel größer als du! “ - das Selbstwertgefühl „Ich bin ja viel größer als du! “, war eine der ersten Aussagen, als S. das erste Mal auf Therapiepferd Majid gesessen ist. Majid wurde von mir im Schritt geführt. Das Erlebnis groß zu sein oder sogar größer als alle anderen, alles im Blick haben zu können und Wünsche zu äußern, die auch umgesetzt werden, waren gewinnbringend für den Selbstwert. Nicht nur durch das Reiten per se, sondern auch durch das eigenhändige Führen eines Pferdes, dem Versorgen und Pflegen konnte die eigene Wertigkeit vermittelt werden. So konnte beispielsweise über unterschiedliche Interventionen transportiert werden: „Du folgst mir“, „Ich entscheide, wo wir hingehen“, aber auch „Ich zeige dir den Weg“. Der Umgang mit Pferden bedarf einer deutlich verständlichen Körpersprache und einer klar formulierten Zielsetzung (vor dem geistigen Auge). Erfolgserlebnisse mit dem Pferd, die ins Bewusstsein geholt werden, wahrgenommen werden dürfen, Platz bekommen im Leben, stärken nicht nur die Körperhaltung, sondern auch den Selbstwert. Die Probandinnen hatten einen Raum, in dem sie sich ausprobieren durften bzw. den Mut zur Exploration entwickeln konnten. Im Sinne des „Rechtes auf Kreativität“ konnten sie über Versuch und Irrtum, dem Fühlen von Unterschieden und dem achtsamen Hinspüren ihren Ausdruck finden, über Bewegung, übers Entwickeln und Umsetzen von Wünschen und Vorhaben mit dem Pferd und über sprachliche Äußerungen. Das im Hier und Jetzt lebende Pferd leitestete dabei eine wertvolle Hilfe. Vor allem C. konnte in der Entscheidungsfindung mithilfe der Erlebnisse im Rahmen von HIPS unterstützt werden. Trotz des Scheiterns im ersten Schuljahr, traf C. die Entscheidung eine Lehre mit Matura zu beginnen, um selbstständiger und unabhängiger werden zu können. „Wenn du da so sitzt, wo spürst du deinen Körper? “ - das Selbst-bewusst-Sein Durch den bewussten Einsatz der reittherapeutischen Tiefungen wurden die Heranwachsenden zum Spüren angeleitet. Auf der Ebene der Reflexionen kamen vor allem funktionale Interventionen zum Einsatz, die dann in die Ebene der Emotionen geführt wurden. Es konnten „Skills“ vermittelt werden, die auch im Leben außerhalb des Reittherapiehofes herangezogen werden könnten, um Gefühle und Emotionen auszudrücken. Besonders bei C. stand im Mittelpunkt der reittherapeutischen Praxis, dass Emotionen erkannt, Gefühle benannt und C. sich diesen öffnen kann. C. konnte so erfahren, dass durch das Anerkennen von Befindlichkeiten und dem affektiven Erleben dieser Gefühle neue Energie gewonnen werden kann. Ebenso berichteten die Bezugssozialpädagoginnen und -pädagogen aus der Gruppe, dass Wünsche, Bedürfnisse und Meinungen von beiden Probandinnen klarer formuliert wurden. Besonders erfreulich war, dass C. zu Meinungen, sogar wenn diese Kritik erfuhren, stehen konnte. Die positive Entwicklung der Körperschemata zeigt sich im wahrsten Sinne des Wortes auch in einer vermehrten Standfestigkeit. „Weißt du, ich verstehe die Pferdesprache“ - das Fürsorgeverhalten Ein spezielles Förderziel der reittherapeutischen Arbeit bei S. war, ihr Fürsorgeverhalten zu steigern und ihre Empathie zu fördern. Als geeignete Intervention erschien mir das Pflegen und Füttern der Pferde. Das Interesse an verschiedenen Futtermitteln konnte durch das gemeinsame Füttern und „Essen kochen“ für die Tiere geweckt und später aufrechterhalten werden. Wichtig dabei war, dass hinsichtlich der Förderziele Verhaltensweisen des Pferdes, wie beispielsweise das Ohrenspiel, das Schweifschlagen sowie verschiedenste Blicke des Pferdes angesprochen und für das Mädchen erklärt und „übersetzt“ wurden. Wenn das Interesse und die Aufmerksamkeit beim Tier ist, kann Platz für Fürsorge und Empathie geschaffen 64 | mup 2|2023 Forum: Szabo - HIPS-Reittherapie bei Kindern und Jugendlichen werden. Es scheint hier besonders wichtig, das Pferd als Teampartner in einer wirkungsvollen therapeutischen Triade wahr- und anzunehmen, um Möglichkeiten des gegenseitigen Verstehen- Könnens zu schaffen. Das Pferd als „Du“, als dritte Person im Setting wird in der HIPS-Reittherapie ausdrücklich als solche auch angesprochen. Resultierend aus dem Interview mit der Bezugssozialpädagogin geht hervor, dass S. sich rascher und nachhaltiger auf die Fürsorgeangebote der Sozialpädagoginnen und -pädagogen einlassen konnte, beziehungsweise diese Angebote sogar konkret einfordern konnte, indem sie ihr Bedürfnis nach Fürsorge geäußert hat. Das Resümee aus den geführten Interviews und meinen Aufzeichnungen Die Interviews wurden immer nach den reittherapeutischen Einheiten mit den Bezugssozialpädagoginnen und -pädagogen geführt. Die Beobachtungen und Wahrnehmungen der sozialpädagogischen Fachkräfte decken sich mit meinen Beobachtungen und meiner Dokumentation. In den Entwicklungsbereichen der Motorik konnte eine Verbesserung der körperlichen Aufrichtung, der Bewegungsabläufe beim Gehen und Laufen und ein positiveres Körperschema beider Probandinnen festgestellt werden. Des Weiteren wurden in den Bereichen des Selbstwertgefühls, des Selbstbewusstseins und des Fürsorgeverhaltens klare Fortschritte verzeichnet. Auch können die Sozialpädagoginnen und -pädagogen ein sichereres Auftreten und das vermehrte Äußern und Einstehen zur eigenen Meinung erkennen. Insgesamt konnten sich die Heranwachsenden mehr im Gruppengefüge einbringen. Literatur ■ Braunbarth, I. (2009): Die Vier Wege der Heilung und Förderung bei Depression. In: Waibel, M.J. & Jakob-Krieger, C. (Hrsg.): Integrative Bewegungstherapie. Störungsspezifische und ressourcenorientierte Praxis. Stuttgart, Schattauer, S. 65-80. https: / / doi.org/ 10.1007/ s00278-009-0692-4 ■ Dell’mour, S. (2010). Ganzheitliche Reitpädagogik. Leitfaden für einen einfühlsamen Reitunterricht. Stocker Verlag, Graz ■ Höhmann-Kost, A.(2002): Integrative Leib- und Bewegungstherapie. Eine Einführung. Verlag Hans Huber, Bern https: / / doi.org/ 10.1024/ 85760-000 ■ Kaselitz, V., Lercher, L. (2002). Fachwissen: gewaltinfo.at. https: / / www.gewaltinfo.at/ uploads/ pdf/ bmask_gewaltbericht_2002.pdf abgerufen 30.12.2022 ■ Parent, I. (2020). EMDR in der Psychodynamischen Pferdeunterstützten Traumatherapie bei Posttraumatischer Belastungsstörung. mensch & pferd international (4), S. 174-179 https: / / doi.org / 10.2378 / mup2020.art25d ■ Petzold, H. G. (1988): Integrative Bewegungs- und Leibtherapie. Ein ganzheitlicher Weg leibbezogener Psychotherapie. Bd.1. Junfermann, Paderborn ■ Schenk-Danzinger, L. (2006). Entwicklungspsychologie. G & G Verlagsgesellschaft mbH, Wien ■ Waibel, M., Petzold, H., Orth, I., Jakob-Krieger, C. (2009). Grundlegende Konzepte der Integrativen Leib- und Bewegungstherapie (IBT). In M. Waibel & C. Jakob-Krieger, Integrative Bewegungstherapie. Schattauer Verlag, Stuttgart https: / / doi. org / 10.1007 / s00278-009-0692-4 Die Autorin Theresa Szabo Diplomierte Sozialpädagogin und „Akademische Expertin für HIPS®- Reittherapie“ nach Dell’mour Kontakt pfotehufherz@gmail.com