eJournals mensch & pferd international 16/2

mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2024
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Stichwort: Lernen am Modell

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Mone Welsche
Das Lernen am Modell, synonym werden auch die Bezeichnungen Beobachtungslernen oder Nachahmungslernen verwendet, ist eine sozial-kognitive Lerntheorie, die von Albert Bandura (1925–2021) entwickelt wurde.
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72 | mup 2|2024|72-75|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2024.art08d Mone Welsche Stichwort Lernen am Modell Das Lernen am Modell, synonym werden auch die Bezeichnungen Beobachtungslernen oder Nachahmungslernen verwendet, ist eine sozial-kognitive Lerntheorie, die von Albert Bandura (1925-2021) entwickelt wurde. Diese Lerntheorie befasst sich den Bedingungen, Effekten und Phasen von Lernprozessen, welche durch bewusste Beobachtungen von Modellen entstehen und zu Verhaltensveränderungen oder zum Erwerb neuer Fähigkeiten und Kenntnisse führen (Bandura 1979). Insbesondere im Kindesalter ist das Lernen durch Beobachtung und Nachahmung relevanter Bezugspersonen, wie z. B. Eltern, Geschwister, Kinder in der Peergroup oder pädagogische Fachkräfte, ein „effizienter Lernmechanismus“ (Petermann & Petermann 2018, 149). Das Modelllernen bleibt allerdings auch über die weitere Lebensspanne eine grundlegende Lernform, z. B. in beruflichen oder neuen sozialen Kontexten sowie bei vielen Aktivitäten der Freizeitgestaltung, in welchen sich Kompetenzen angeeignet werden, um ein Hobby auszuüben, z. B. im Sport, künstlerischem Gestalten oder ähnlichem. Auch in pferdegestützten Interventionen (PI) finden Lernprozesse durch Beobachtung von Modellen statt. Modell kann das Pferd sein, die Fachkraft und in Gruppensetting ebenso andere Teilnehmende. Die durch Beobachtung initiierten Lernprozesse können ■ von der Fachkraft gesteuert eingesetzt werden, z. B. bei der gezielten Beobachtung von Verhaltensweisen des Pferdes in der Herde, um daraus Erkenntnisse für das eigene Verhalten des Klienten in sozialen Kontexten abzuleiten oder beim Zeigen, wie ein Huf gehalten werden sollte, damit das Pferd beim Auskratzen nicht die Stabilität verliert; ■ von den Klienten selbstbestimmt und dabei mehr oder weniger bewusst ablaufen, z. B. wenn sich ein Kind in der Fördergruppe von einem anderen abschaut, wie es die Longe besonders ordentlich aufrollt, um dafür ein Lob von der Fachkraft zu bekommen oder wenn ein Klient aufmerksam beobachtet, wie die Fachkraft ein unmotiviertes Pferd überzeugt, sich auf der Wiese aufhalftern und zum Putzplatz führen zu lassen. Wissen um die Bedingungen, Effekte und Phasen des Modellernens sind für Fachkräfte in der PI relevant, um Lernprozesse durch den bewussten Einsatz des Modelllernens im Sinne der verfolgten Ziele förderlich zu gestalten und mögliche unerwünschte Effekte zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Diese sozial-kognitive Lerntheorie basiert auf der Grundannahme, dass der Mensch aktiv und selbstbestimmt lernt, dabei in Wechselwirkung zu seiner Umwelt steht, sodass Lernprozesse sozial bedingt sind und der Mensch sich selbst reflektieren und motivieren kann (Gerrig 2018). Es werden zwei Phasen unterschieden, in welchen spezifische Prozesse wesentlich sind. Stichwort: Welsche - Lernen am Modell mup 2|2024 | 73 Phase der Aneignung Voraussetzung für das Erlernen einer bestimmten Verhaltensweise oder Kompetenz durch Beobachtung ist die Bereitschaft und Möglichkeit des Klienten, dem Modell und dessen Verhaltensweise Aufmerksamkeit zu schenken sowie Informationen zum beobachteten Verhalten aufzunehmen und zu speichern. Wen sich Menschen als Modell wählen, kann nur bedingt beeinflusst werden, da diese Wahl selbstbestimmt und nach subjektiv als wichtig eingeschätzten Kriterien abläuft. Für die Wahl des Modells, also die Bereitschaft, jemanden zu beobachten und daraus zu lernen, sind folgende Merkmale des Modells förderlich: ■ Zwischen der beobachtenden Person und dem Modell besteht eine positive Beziehung. ■ Vom Modell ist eine Bedürfnisbefriedigung, z. B. Lob, Anerkennung oder Schutz, zu erwarten. ■ Das Modell wird vom sozialen Umfeld positiv wahrgenommen und / oder hat soziale „Macht“, wie z. B. Fachkräfte oder AnführerInnen in Peergroup-Settings. ■ Zwischen der beobachtenden Person und dem Modell besteht eine subjektiv empfundene Ähnlichkeit. ■ Das Modell wird als glaubwürdig wahrgenommen. ■ Das Modell erfährt Verstärkung durch das soziale Umfeld. Darüber hinaus sollte die Verhaltensweise des Modells, welche erlernt werden soll, ausreichend deutlich und auffällig sein, sodass es von der beobachtenden Person bemerkt und gesehen werden kann. Um das beobachtete Verhaltens später auch zeigen zu können, müssen die Klienten über ausreichende Merkfähigkeit und Gedächtnisleistung verfügen. Das zeitnahe Wiederholen des Gesehenen, und hier besonders das Wiederholen von Handlungen (motorische Reproduktion), kann sich positiv auf das Erinnerungsvermögen und die Festigung der erworbenen Kompetenz auswirken. Phase der Ausführung Ist der Klient in der Lage, das beobachtete Verhalten zu erinnern, kann es in den subjektiv als passend und gewinnbringend erachteten Situationen abgerufen und ausgeführt werden. Um das Verhalten zu einem späteren Zeitpunkt zu zeigen, muss die beobachtende Person motorisch in der Lage sein, das spezifische Verhalten zu reproduzieren und es an die Bedingungen einer neuen Situation anzupassen. Auch in der Phase der Performanz kommt Motivationsprozessen eine grundlegende Bedeutung zu. Die Motivation, das erworbene Verhalten zu zeigen, hängt davon ab, ob zu erwarten ist, dass sich das Verhalten positiv für den Menschen auswirkt oder erwartete negative Auswirkungen verhindert werden können. Im Zusammenhang mit dieser Erwartungshaltung sind tatsächlich stattfindende Verstär- Abb. 1: Phasen und Prozesse nach Bandura (1979) Phase der Aneignung von Verhalten = Kompetenzerwerb Phase der Ausführung von Verhalten = Performanz Modellverhalten Imitation Aufmerksamkeitsprozesse Gedächtnisprozesse Motorische Reproduktionsprozesse (Einübung) Motivations- & Verstärkerprozesse 74 | mup 2|2024 Stichwort: Welsche - Lernen am Modell kerprozesse, also positive Konsequenzen auf das gezeigte Verhalten, bedeutsam. Diese sind allerdings nicht als Voraussetzungen zum Modelllernen einzuordnen, sondern als förderliche Bedingungen zur Frage, ob die beobachtende Person das durch Beobachtung erlernte Verhalten zeigt (Performanz) oder nicht. Unterschieden wird hier in: ■ Externe Verstärkung: Die beobachtende Person erfährt eine angenehme Folge auf das gezeigte Verhalten oder vermeidet eine negative. ■ Stellvertretende Verstärkung: Das Modell erfährt eine Verstärkung durch das gezeigte Verhalten, z. B. durch Anerkennung oder Erfolg, für sein Verhalten bzw. hatte mit seinem Verhalten Erfolg. Die beobachtende Person nimmt diese Verstärkung wahr. ■ Direkte Selbstverstärkung: Die beobachtende Person verstärkt sich nach dem Zeigen des Verhaltens sehr, z. B. durch Belohnung. ■ Stellvertretende Selbstverstärkung: Das Modell verstärkt sich selbst nach dem gezeigten Verhalten. Die beobachtende Person nimmt diese Selbstverstärkung wahr. Die Art der Konsequenzen, welche die beobachtende Person und / oder das Modell auf das gezeigte Verhalten erfahren, hat somit einen maßgeblichen Einfluss auf den Lernprozess (siehe Lernen durch operantes Konditionieren). Positive Konsequenzen können als Verstärkung den Lernprozess fördern, negative werden ihn eher hemmen. Im Gegensatz zum Lernen durch operante Konditionierung ist im Kontext des Modelllernens die Erwartung einer Verstärkung von Bedeutung. Die beobachtende Person nimmt an, dass auf das erlernte und ausgeführte Verhalten eine positive Konsequenz (Verstärkung) erfolgt, bevor sie es zeigt. Bandura unterscheidet zwischen vier möglichen Effekten des Beobachtungslernen (vgl. Petermann & Petermann 2018, 160 ff): ■ Modellierender Effekt: durch die Beobachtung von Modellen können Menschen neue Verhaltensweisen erlernen, welche sie nachahmen und an die jeweilige Situation angepasst zeigen. ■ Enthemmender Effekt: Wird beobachtet, dass auf ein bestimmtes Verhalten Verstärkung folgt - oder auch eine negative Konsequenz ausbleibt -, kann diese Beobachtung die Hemmschwelle, diese Verhaltensweise selbst zu zeigen, senken. ■ Hemmender Effekt: Wird beobachtet, dass auf ein bestimmtes Verhalten negative Konsequenzen folgen, sinkt die Motivation, diese Verhaltensweise selbst zu zeigen. ■ Auslösender Effekt: Wird ein bestimmtes, für die beobachtende Person bereits bekanntes, Verhalten eines Modells (Vorbildes) beobachtet, kann diese Beobachtung die Ausführung dieses Verhaltens, z. B. in neuen Kontexten, erleichtern oder auslösen. Relevanz für die PI Lernprozesse sind hochkomplexe Vorgänge, die von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren beeinflusst werden. Das Lernen am Modell stellt eine Lerntheorie von vielen dar. Als solche bietet sie allerdings auch isoliert betrachtet nicht nur ein Erklärungsmodell für Verhaltensänderungen durch Beobachtung, sondern auch eine Orientierung für die Praxis, wie Lernprozesse durch Beobachtung und Modelllernen gestaltet und gefördert werden können. Die Ausgangbedingungen für Lernprozesse durch Beobachtung in PIs kann als günstig gewertet werden, da sich die Fachkraft als Modell anbietet und durch die pädagogisch-therapeutische Ausrichtung, welche mit der Etablierung einer wertschätzenden und unterstützenden Beziehung zwischen Fachkraft und Klient einhergeht, viele förderliche Bedingungen gegeben sind. Dazu kommt, dass die Fachkraft im Umgang mit dem Pferd versiert ist, sodass sie ein Vorbild im Sinne von „das möchte ich mit dem Pferd auch mal können“ sein kann, und sie zudem als Autoritätsperson im positiven Sinne sowohl vom Pferd als auch vom Umfeld wahrgenommen wird und Anerkennung erfährt. Auch ein gut ausgebildetes Therapiepferd eignet sich hervorragend als Modell, da es von den Klienten meist sehr positiv besetzt ist. Als Therapiepferd begegnet es dem Klienten zugewandt. Als anmutiges und kraftvolles Tier bietet es zudem eine Projektionsfläche für das eigene erwünschte Selbstbild und es kann Bedürfnisse nach Nähe und Zuwendung befriedigen. Um Lernprozesse im und durch Modelllernen zu fördern, sollten Fachkräfte folgende Aspekte berücksichtigen: Stichwort: Welsche - Lernen am Modell mup 2|2024 | 75 ■ Das Verhalten der Fachkraft und auch des Pferdes hat immer Vorbildcharakter und wird individuell unterschiedlich von Klienten beobachtet und bewertet. ■ Für die Fachkraft gilt es, nicht nur im Wort Vorbild zu sein, sondern immer auch im Tun, z. B. bei der Sanktionierung eines unerwünschten Verhaltens des Pferdes oder im Kontakt zu anderen Personen im direkten Umfeld, welche nicht Teil der pädagogischen oder therapeutischen Intervention sind. ■ Positive Verstärkung erwünschter Verhaltensweisen beim Pferd und bei anderen Gruppenmitgliedern durch Lob, Anerkennung und Zuwendung sowie konsequentes Reagieren auf problematische Verhaltensweisen vom Pferd oder Gruppenmitgliedern sind für den Prozess des Modelllernens förderlich. ■ Im Tun muss die Kleinschrittigkeit der Handlung in Rückkopplung mit der Aufmerksamkeit und Aufnahmekapazität des jeweiligen Klienten berücksichtigt werden. Wie gut kann der jeweilige Klient seine Aufmerksamkeit steuern? Wie viele potenzielle Störfaktoren gibt es und können diese minimiert werden? Wie viele Informationen können aufgenommen werden? Wie deutlich und wie kleinschrittig muss die Handlung sein oder wie deutlich und kleinschrittig muss die Beobachtung, z. B. eines Verhaltens des Pferdes, erklärt werden, sodass der Klient die relevanten Informationen erfassen kann? ■ Um das beobachtete Verhalten später auch in geeigneten Situationen zeigen zu können, muss die von Klient zu Klient unterschiedliche Aufnahmefähigkeit und Erinnerungsspanne berücksichtigt werden. Hier spielt nicht nur das Alter eine Rolle. Auch unterschiedliche aktuelle psychische Belastungen, die sich z. B. in Unruhe oder gedrückter Stimmung zeigen können, eine Intelligenzminderung oder das Vorliegen einer psychische Erkrankungen bzw. Verhaltensstörungen, wie z. B. AD(H)S, Angststörungen, Depressionen, fetales Alkoholsyndrom oder posttraumatische Belastungsstörungen, wirken sich auf die Merkfähigkeit aus. Abhängig von diesen klientenspezifischen Variablen muss die Beobachtungssituation unterschiedlich stark strukturiert und unterschiedlich oft wiederholt werden, um die Aufnahme und Speicherung der relevanten Informationen so zu ermöglichen, dass nachhaltige Lernprozesse entstehen können. ■ Für die PI in Gruppensetting sollten Fachkräfte zudem beachten, dass Klienten sich auch Modelle in der Gruppe suchen können. Eine Sensibilisierung für die Frage, wer für wen ein potenzielles Modell ist und welches Verhalten von wem verstärkt wird, ist hilfreich, um nicht nur lernförderliche, sondern auch hinderliche Einflüsse zu erkennen und auf letztere korrigierend reagieren zu können. Literatur ■ Bandura, A. (1979): Sozial-kognitive Lerntheorie. Klett, Stuttgart ■ Gerrig, R. J. (2018): Psychologie. Pearson, München ■ Hannover, R., Zander, L. Wolter, I. (2014): Entwicklung, Sozialisation und Lernen. In: Seidel, T. / Krapp, A. (Hrsg.) Pädagogische Psychologie. Beltz, Weinheim, 139-166 ■ Petermann, F., Petermann, U. (2018): Lernen. Hogrefe, Göttingen Die Autorin Prof.in Dr. Mone Welsche Professur für Entwicklungsförderung im Kindes- und Jugendalter KH Freiburg, Arbeitsschwerpunkte Bewegungs- und Körperorientierte Methoden in Sozial- und Heilpädagogik Reitwartin FN Kontakt Mone.Welsche@kh-freiburg.de