mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Forum: Bodenarbeit als sozialpädagogische Förderung einer Jugendlichen mit Trisomie 21
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Jasmin Dörflinger
Mone Welsche
In diesem Beitrag werden die Möglichkeiten der Boden- und Freiarbeit als Medium zur Entwicklungsförderung jugendlicher Menschen mit einer Trisomie 21 vorgestellt. Nach einer kurzen Erläuterung der Trisomie 21 sowie der sozialpädagogischen Förderung durch Bodenarbeit werden die Ergebnisse einer Analyse von zehn Fördereinheiten mit einer Jugendlichen mit Trisomie 21 präsentiert. Ziel war es herauszufinden, welche Entwicklungsbereiche und -aspekte in verschiedenen Situationen während der Boden- und Freiarbeit angesprochen werden.
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mup 3|2024|109-116|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2024.art13d | 109 Forum Bodenarbeit als sozialpädagogische Förderung einer Jugendlichen mit Trisomie 21 Eine Analyse entwicklungsförderlicher Aspekte mittels Beobachtung Jasmin Dörflinger & Mone Welsche In diesem Beitrag werden die Möglichkeiten der Boden- und Freiarbeit als Medium zur Entwicklungsförderung jugendlicher Menschen mit einer Trisomie 21 vorgestellt. Nach einer kurzen Erläuterung der Trisomie 21 sowie der sozialpädagogischen Förderung durch Bodenarbeit werden die Ergebnisse einer Analyse von zehn Fördereinheiten mit einer Jugendlichen mit Trisomie 21 präsentiert. Ziel war es herauszufinden, welche Entwicklungsbereiche und -aspekte in verschiedenen Situationen während der Boden- und Freiarbeit angesprochen werden. Trisomie 21 Trisomie 21 ist eines der verbreitetsten angeborenen Syndrome. Weltweit leben ca. fünf Millionen Menschen mit Trisomie 21. In Deutschland kommen im Jahr rund 800 Kinder mit Trisomie 21 auf die Welt. Der englische Arzt John Langdon Down beschrieb 1866 die klassischen Merkmale dieses Syndroms. Daher stammt die häufig benutzte Bezeichnung Down- Syndrom. Erst 1959 wurde das Erscheinungsbild einer chromosomalen Störung zugeordnet, da das Chromosom 21 in jeder Zelle dreistatt zweimal vorhanden ist. Aus diesem Fakt abgeleitet entstand der Begriff Trisomie 21. Dieser wird heute synonym zum Down-Syndrom verwendet und beschreibt den genetischen Zustand, der zum Down-Syndrom führt (Halder 2014). In der aktuellen Literatur wird überwiegend vom Down-Syndrom gesprochen. Betroffene und deren Angehörige lehnen diesen Begriff jedoch oft aufgrund der negativen Konnotation von „down“, was auf Deutsch „nieder“ bedeutet, ab (Wilken 2017). Deshalb wird in diesem Text der Begriff Trisomie 21 verwendet. Die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Trisomie 21 wird durch das individuelle Potenzial, die Bedingungen im sozialen Umfeld und den syndromspezifischen Problemen bestimmt. Die unterschiedlichen Ausprägungen der syndromspezifischen Veränderungen und die verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen laut Wilken (2019) zu einer großen Variationsbreite der einzelnen Entwicklungsbereiche. Die Entwicklung verläuft jedoch generell langsamer als bei gleichaltrigen Kindern. Junge Menschen mit Trisomie 21 brauchen also mehr Übung und mehr Zeit als Gleichaltrige. Es ist daher wichtig, sie zu unterstützen und gleichzeitig zur Selbstständigkeit zu verhelfen (Halder 2014). Die folgenden Aussagen über Fähigkeiten und Schwächen bei Kindern und Jugendlichen mit Trisomie 21 können aufgrund der großen Streubreite in verschiedenen Leistungsbereichen nicht generalisiert werden. Dennoch enthalten sie wichtige Hinweise und Informationen, um eine syndromspezifische Förderung sinnvoll zu gestalten (Wilken 2019). 110 | mup 3|2024 Forum: Dörflinger, Welsche - Bodenarbeit als sozialpädagogische Förderung einer Jugendlichen mit Trisomie 21 Die sozialen Fähigkeiten entwickeln sich ein Leben lang weiter, jedoch mit zunehmendem Alter langsamer. Aufgrund des wenig wirkungsvollen spontanen Lernens bedarf es einer geplanten Förderung der Kompetenzen. Abhängig von der individuellen Befindlichkeit und der jeweiligen Situation berichten Eltern und Lehrer von einer geringen Kooperationsbereitschaft bei sozialen Anforderungen, Problemen mit der Aufmerksamkeitssteuerung, Rückzugsverhalten und Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion mit Gleichaltrigen. Ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten ist oftmals ein großes Problem. Die „Bockigkeit“, die ihnen aufgrund des Verhaltens häufig zugeschrieben wird, ist jedoch auch als Schutzsuchen zu verstehen, um Überforderungen oder mögliche Misserfolge zu vermeiden. Häufig fällt es den Kindern schwer zu warten, Rücksicht zu nehmen, Hilfe zu erbitten und selbst jemandem zu helfen (Wilken 2017, 2019). Die emotionale Entwicklung betreffend sind Emotionen grundsätzlich für alle Menschen mit Trisomie 21 intensiver und halten aufgrund der erhöhten Genexpression von zwei Genen auf dem Chromosom 21 länger an. Dies betrifft sowohl positive als auch negative Gefühle. Aus didaktischer Sicht ergibt sich daraus eine hohe Verantwortung, da Frustrationen durch Misserfolge in Lernkontexten eine lange und nachhaltige unerwünschte Wirkung haben können (Zimpel 2016). Kindern und Jugendlichen mit Trisomie 21 bereitet das Erkennen und der Umgang mit eigenen Emotionen oft Schwierigkeiten. Das Regulieren von negativen Emotionen stellt eine besondere Herausforderung dar. In der Pubertät werden den Kindern und Jugendlichen mit Trisomie 21 häufig durch entsprechende Erfahrungen die Unterschiede zu nicht beeinträchtigten Gleichaltrigen bewusst. Die eigene Behinderung wird nun zunehmend als Eingrenzung und Verhinderung von individuellen gewünschten Zielen verstanden. Vor allem in der spontanen Freizeitgestaltung werden eigene Grenzen bewusst. Die Autonomieentwicklung ist demnach für sie herausfordernd, da in zahlreichen Situationen abgeklärt werden muss, was sie selbst entscheiden und tun dürfen. Es ist darum besonders zu beachten, dass ihnen Wahlmöglichkeiten angeboten und herausfordernde Aufgaben allein überlassen werden, anstatt diese im Vorhinein aufgrund eines möglichen Scheiterns zu vermeiden. Schaffen sie diese Aufgabe, löst dies Stolz aus und erhöht das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten (vgl. Wilken 2017, 2019). Die kognitive Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen mit Trisomie 21 verläuft in einigen Bereichen langsamer (vgl. Halder 2014, Wilken 2019). Das Denken ist des Weiteren oft anschauungsgebunden. Es fällt häufig schwer, im Langzeitgedächtnis gespeicherte sach- und inhaltsbezogene Inhalte abzurufen, da Interessen mehr auf die sozialen Interaktionen ausgerichtet sind (Wilken 2019). Die besonders verlangsamte sprachliche Entwicklung ist auffällig im Vergleich zu den anderen Entwicklungsbereichen. Die kommunikativen Fähigkeiten und Verhaltensweisen entsprechen im Gegensatz dazu überwiegend der allgemeinen Entwicklung. Schwierigkeiten bestehen demnach nicht in der Kommunikation generell, sondern beim Spracherwerb und beim Sprechenlernen (Wilken 2019). In vielen wissenschaftlichen Artikeln wird daher die hohe Bedeutung der nonverbalen Kommunikation für Menschen mit Behinderung betont (Nonn 2016). Bezüglich der Verbesserung von sprachlichen Fähigkeiten ist besonders bei Jugendlichen wichtig, diese in altersentsprechenden Lebenszusammenhängen und Interessenbereichen zu erweitern, um die Motivation langfristig zu erhalten (Wilken 2019). Da die auditive Informationsverarbeitung und das auditive Kurzzeitgedächtnis nicht so gut entwickelt sind wie das visuelle System (Halder 2014), ist es hilfreich, lange verbale Anweisungen oder Erklärungen zu strukturieren und visuell oder motorisch zu unterstützten (Wilken 2019). Der niedrige Muskeltonus ist meist eine Herausforderung in der Ausbildung motorischer Forum: Dörflinger, Welsche - Bodenarbeit als sozialpädagogische Förderung einer Jugendlichen mit Trisomie 21 mup 3|2024 | 111 Kompetenzen. Die Hypotonie bezeichnet die syndromspezifische verminderte Spannung der Muskulatur im ganzen Körper (Haveman 2013). Motorische Aktivitäten sind für viele Menschen mit Trisomie 21 besonders anstrengend. Zudem ist die motorische Entwicklung durch falsche Bewegungsmuster aufgrund der Hypotonie in Kombination mit der Überdehnbarkeit der Gelenke und den Gleichgewichtsstörungen verzögert (Halder 2014). Es treten vor allem Schwierigkeiten in der Koordination sowie in der Feinmotorik auf (Wilken 2019). Durch entsprechendes Training, das die Kinder motiviert hält und ihnen Freude an der Bewegung bringt, sollte die Förderung der motorischen Fähigkeiten besonders auch im jugendlichen Alter weiterhin zu einer Verbesserung führen (Wilken 2017). Sozialpädagogische Förderung mittels Boden- und Freiarbeit Soziale Arbeit befasst sich mit sozialen Problemen, von denen Einzelne oder Gruppen direkt betroffen oder bedroht sind. Diese Probleme zeigen sich z. B. in Überlastung, Überforderung, Zumutungen für Dritte, Benachteiligungen, sozialer Desintegration oder Exklusion und unerfüllten Grundbedürfnissen (Bieker et al. 2022). Eins von vielen Zielen der Sozialen Arbeit ist es, Teilhabe zu ermöglichen. Diese wird als Prozess verstanden, der Menschen ermächtigt, die eigenen Interessen auszudrücken, sich einzubringen und aktiv die eigene Lebenswelt zu gestalten. Der Bereich der Gesundheit hat für die Soziale Arbeit eine besonders hohe Bedeutung. Bereits im 19. Jahrhundert wurden Gesundheit und Krankheit schon in einen Zusammenhang mit sozialen Fragen und Problemen in der materiellen Versorgung gebracht. Dem Gesundheitsbereich wird auch die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen zugeordnet, die sogenannte Behindertenhilfe (Ansen 2015). „Behindertenhilfe ist ein Oberbegriff für staatlich garantierte soziale Dienste für Menschen, denen besonderer Unterstützungsbedarf aus einer Behinderung resultiert. Ihr Ziel ist es, behinderungsbedingte Nachteile zu vermeiden oder auszugleichen, Selbstbestimmung und Teilhabe zu ermöglichen“ (Aner / Hammerschmidt 2018, 72). Das Ziel der Behindertenhilfe ist, unabhängig von der Ursache oder Ausprägung der Einschränkungen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen (Wacker 2018). Sie zielt auf die Erfahrung der Selbstwirksamkeit der KlientInnen ab und orientiert sich an ihren Fähigkeiten und ihrer Lebenswelt, um deren Potenziale zu erkennen und ihre Kompetenzen zu fördern. Die Eingliederungshilfe fällt in das Arbeitsfeld der Behindertenhilfe. Diese hat zur Aufgabe, den Leistungsberechtigten eine individuelle Lebensführung zu ermöglichen, die der Würde des Menschen entspricht und die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern. Durch die Leistung der Eingliederungshilfe sollen Menschen dazu befähigt werden, ihre Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und in eigener Verantwortung wahrnehmen zu können (§ 90 SGB IX). Pferdegestützte Interventionen können als Leistungen zur Sozialen Teilhabe (§ 113 bis § 116 SGB IX) beantragt und finanziert werden. In der Literatur finden sich dazu bisher ausschließlich Maßnahmen der heilpädagogischen Förderung mit dem Pferd (Reiten oder Voltigieren). In der Bodenarbeit beginnen die Kommunikation und der Aufbau einer Beziehung zwischen Mensch und Pferd (Haberer / Ploppa 2013). Das Pferd trägt ein Halfter, an dem ein Strick ohne Karabinerhaken beidseitig befestigt werden kann. Der Mensch hat durch den Strick in der Hand den ständigen Kontakt zum Pferd. Dieser hängt in der Bodenarbeit jedoch immer durch und wirkt über kurze und leichte Impulse nur, wenn das Pferd auf die im Vordergrund stehende Körpersprache und die Stimme nicht reagiert (Podlech 2015a). Es geht somit darum, die Körpersprache des Pferdes zu erlernen, das richtige Timing im Setzen von Signalen zu erreichen, Vertrauen aufzubauen und zuletzt eine Alpha-Position in der Rangordnung einzunehmen und das Pferd zu führen. 112 | mup 3|2024 Forum: Dörflinger, Welsche - Bodenarbeit als sozialpädagogische Förderung einer Jugendlichen mit Trisomie 21 Zahlreiche Führübungen durch beispielsweise Parcours bilden die Grundlage der Bodenarbeit. Nach Kunz / Schneider-Schunkler (2021) können Empathiefähigkeit, Verantwortungsgefühl und die Durchsetzungsfähigkeit in der Bodenarbeit gezielt gefördert werden. Die Freiarbeit als Teilgebiet der Bodenarbeit baut auf der gefestigten Beziehung in der Bodenarbeit auf und bezeichnet die Arbeit mit dem Pferd in einem begrenzten Raum, wie z. B. einem Roundpen, ohne den Strick als Hilfsmittel (Podlech 2015b). Das Pferd und der Mensch als Kommunikationspartner haben in der freien Interaktion einen uneingeschränkten Handlungsspielraum (Hediger 2021). In der Arbeit ohne den Strick werden höhere Kompetenzen der nonverbalen Kommunikation als in der Bodenarbeit gefordert. Durch die vorher gefestigte Beziehung in der Bodenarbeit wissen KlientInnen, dass das Pferd sie mag und beim Misslingen einer Übung lediglich Signale falsch verstanden hat. Hierdurch werden insbesondere die Frustrationstoleranz und die Selbstsicherheit gestärkt (Hediger 2021). Die Soziale Arbeit als anwendungsbezogene Disziplin entdeckt mittlerweile zunehmend verschiedene Potenziale gelingender Mensch- Tier-Beziehungen für ihre KlientInnen (Wesenberg 2020). Wird der Blick allerdings auf die Bodenarbeit als Methode der sozialpädagogischen Förderung oder tiergestützten Sozialarbeit ausgeweitet, finden sich weder Studien noch andere Publikationen. Marina und Netta Marina ist 16 Jahre alt und findet Pferde „Subba, hmm, und voll süß, hmm, und ja“. Sie hat Trisomie 21. Mit sechs Jahren wurde sie an einer integrativen Montessori Schule eingeschult und durfte bis zur einschließlich 5. Klasse an der Unterrichtseinheit „Therapeutisches Reiten“ teilnehmen. Aus dieser Möglichkeit entwickelte sich ihr Interesse an Pferden. In Marinas Schulberichten wurde über ihre motorischen Fortschritte auf dem bewegten Pferderücken und die zunehmende Selbstständigkeit und -sicherheit im Umgang mit den Pferden berichtet. Ihre Motivation und Konzentration im Umgang mit den Pferden stiegen nach Beobachtung der Fachkräfte mit ihren zunehmenden Kompetenzen im Umgang mit den Tieren. Marina hat spät sprechen gelernt und es fällt ihr häufig noch schwer. Sie umgeht oft Situationen, in denen sie ausführlich antworten muss und lässt gerne andere Menschen für sie sprechen. Ist dies nicht möglich, greift sie zu Antworten, die aus einem oder zwei Wörtern bestehen. Ausführliche Antworten auf Fragen mit mehr als drei Wörtern bekommt man von ihr selten und wenn dann zu Themen, die ihr am Herzen liegen, wie z. B. ihrer Familie, ihrer Schule, ihrem Fußball- oder Tanzverein oder der Arbeit mit Netta. Das Verstehen der Sprache fällt ihr deutlich leichter, wenn langsam erklärt wird. Stößt man beim Sprachverständnis an Grenzen, können ihr verbale Inhalte nonverbal-gestisch verdeutlicht werden. Dies nimmt sie sehr schnell auf. Ihre teils begrenzte Fähigkeit, sich an Dinge zu erinnern, ist im Zusammenhang mit ihren Hobbys nicht zu erkennen. Sie kann sich dabei erstaunlich viele Kleinigkeiten merken und sich an diese erinnern. Durch Marinas verlangsamte Motorik begegnen ihr in der Bodenarbeit viele Herausforderungen, die sie jedoch motivierter als im Alltag annimmt. Vor drei Jahren begannen die wöchentlichen Förderstunden mit Netta. Netta ist ein 540 Kilo schwerer Haflinger von 12 Jahren mit einem ansprechenden Gesicht. Sie ist englisch geritten, in Boden- und Freiarbeit ausgebildet und reagiert entsprechend sensibel auf Körpersprache. Zu Beginn der Förderstunden lag das Ziel darin, Marina das Verhalten der Pferde näherzubringen, ihre Reaktionen in Bezug auf Netta zu beobachten und herauszufinden, was möglich ist. Schnell stellte sich heraus, dass sehr viel mehr möglich ist, als gedacht. Durch Füttern, Putzen und gemeinsame Spaziergänge konnte eine Beziehung zwischen Netta und Marina entstehen. Nach einigen Einheiten traute sich Marina, Netta Forum: Dörflinger, Welsche - Bodenarbeit als sozialpädagogische Förderung einer Jugendlichen mit Trisomie 21 mup 3|2024 | 113 mit Unterstützung zu führen. Im Laufe der Stunden erlangte Marina Wissen über das korrekte Führen eines Pferdes sowie grundlegende Kommandos und ihre Wirkung auf Netta. Nach einigen Wochen führte sie Netta selbstständig. Sich so nah neben ein großes Pferd zu stellen und dieses zu führen, war für sie eine große Überwindung und ein Erfolg. Marina wurde schnell sicherer im Umgang und hatte viel Freude mit Netta vom Boden aus. In den Förderstunden wurde zunehmend deutlich, dass es für Marina möglich sein wird, selbstständig mit Netta zu arbeiten. Es ist beeindruckend - und übertrifft die Hoffnungen und Erwartungen der Eltern -, was sie mittlerweile alles in der Boden- und Freiarbeit mit Netta gelernt hat und selbstständig durchführen kann. Dies beginnt beim Richten, geht über die fein erlernte Körpersprache des Pferdes bis hin zu zahlreichen Übungen in der Boden- und Freiarbeit, die sie sicher abrufen kann. Analysen der Fördereinheiten Um die Frage zu beantworten, welche Entwicklungsbereiche durch die Bodenarbeit mit Netta angesprochen werden, wurden im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung (van Meurs et al. 2022) 10 Einheiten der Boden- und Freiarbeit mit Marina und Netta protokolliert. Es wurden vor der Beobachtung deduktiv Kategorien gebildet, die aus den Entwicklungsbereichen der sozialen, emotionalen, kognitiven und motorischen Entwicklung abgeleitet wurden. Nachfolgend wurden die erhobenen Daten nach Mayring (2022) sowohl qualitativ als auch quantitativ ausgewertet. Alle 17 Kategorien wurden mindestens einmal in den Beobachtungen kategorisiert. Die sechs meistbeobachteten Kategorien sind der Häufigkeit nach gelistet und werden mit Ankerbeispielen aus den Beobachtungsprotokollen belegt: die Sprachproduktion (102 x), das Sprachverstehen (83 x), die Autonomie (78 x), die nonverbale Kommunikation (74 x), die Selbstwirksamkeit (55 x) und die Empathiefähigkeit (36 x). Unter der Sprachproduktion wurden Sätze kategorisiert, die aus mindestens drei Wörtern bestanden und damit außerhalb Marinas Komfortzone liegen. In 60 % der Fälle richteten sich Marinas Worte an die Sozialpädagogin. „‚Netta soll jetzt erst fleißig laufen und dann überleg ich mir was‘, erklärt Marina mir.“ Abb. 1: Marina und Netta Abb. 2: Marina und Netta in der Bodenarbeit 114 | mup 3|2024 Forum: Dörflinger, Welsche - Bodenarbeit als sozialpädagogische Förderung einer Jugendlichen mit Trisomie 21 In 40 % der Fälle sprach sie Netta an. „‚Du braucht nicht Angst haben, ich schwinge nur mit Seil,‘ sagt Marina.“ Das Sprachverstehen wurde an Marinas praktischen Umsetzungen verbaler Erklärungen der Sozialpädagogin deutlich sowie an der schlüssigen Beantwortung ihrer Fragen an sie. „Ich frage sie, ob sie die Tüte über Nettas Ohren platzieren will. ‚Au ja‘, sagt Marina und versucht die Tüte langsam zwischen ihren Ohren zu platzieren.“ Die Autonomie von Marina kam vor allem in Führübungen in der Bodenarbeit zum Ausdruck, die sie selbständig durchführt. Innerhalb der Übungen traf Marina darüber hinaus selbständig eigene Entscheidungen. „Marina fordert Netta auf, fleißig Schritt zu gehen und erklärt mir, dass sie beim blauen Hütchen antraben soll. Als Netta bei dem blauen Hütchen ankommt, gibt Marina das Kommando zum Antraben.“ In der Freiarbeit konnte Marina durch die lang geübte Körpersprache ebenfalls Übungen ohne Hilfe durchführen. „,Du darfst sie jetzt zu dir holen und dann versuchst du sie zu führen wie immer, nur ohne Strick.‘ Sie macht sich klein und spricht Netta an, sodass diese zu ihr kommt. Eine Armlänge vor ihr streckt Marina den Arm aus mit der flachen Handfläche und sagt: ‚Haaaalt‘.“ Darüber hinaus war zu beobachten, wie sich Marina eigene Ziele setzte und ihr Ideen kamen, die sie dann verfolgte. In der nonverbalen Kommunikation wurde die Körpersprache sowohl in Verbindung mit als auch ohne Sprache genutzt. „‚Okay, dann zeige es ihr, dass sie noch näherkommen darf.‘ Marina duckt sich und geht einen Schritt rückwärts.“ „Marina spricht Netta an und sagt ‚Zurück Netta, zurück‘, geht selbst rückwärts und hält die rechte Hand nach oben.“ Weiter veränderte Marina Augen- und Blickkontakt sowie ihre Körperhaltung in den einzelnen Übungen und sie nahm Einfluss auf die Proxemik, indem sie den Abstand zu Netta über die Körpersprache regulierte. Darüber hinaus nutze Marina haptische Signale, wenn Netta auf die reine Körpersprache nicht reagierte. Selbstwirksamkeitserleben wurde an Forderungen von Marina und den entsprechenden Reaktionen von Netta meist durch das Weichen auf Druck und das Bewegen von Netta deutlich. Aussagen wie die folgende wurden als Überzeugung der eigenen Selbstwirksamkeit gewertet: „‚Aber klar doch‘, sagt Marina und wechselt die Hand. Sie ermutigt Netta ‚Komm Netta, wir können das‘ und joggt wieder los.“ Grafik 1: deduktiv entwickelte Über-, Haupt- und Unterkategorien Forum: Dörflinger, Welsche - Bodenarbeit als sozialpädagogische Förderung einer Jugendlichen mit Trisomie 21 mup 3|2024 | 115 Die Fähigkeit zur Empathie von Marina wurde am häufigsten im verbalen oder nonverbalen Loben deutlich. Ein Lob wurde nur als Ausdruck der Empathiefähigkeit kodiert, wenn Marina den emotionalen Zustand von Netta selbst erkannte und entsprechend reagierte. Marina erkannte an Nettas Körpersprache Emotionen, fühlte mit und reagierte. „‚Was denkst du, wie geht es Netta gerade, wenn du sie ansiehst? ‘, frage ich. ‚Hmm, blöde Fliegen nerven‘, antwortet Marina und verscheucht die Fliegen.“ Situationen zu den übrigen Kategorien konnten beobachtet werden, allerdings deutlich seltener. Dass wenige Situationen zur Durchsetzungs-, Konflikt- und Problemlösefähigkeit beobachtet wurden, könnte daran liegen, dass Marina und Netta als Team zum Zeitpunkt der Beobachtung schon sehr gut eingespielt waren und deshalb solche Situationen kaum entstanden. Auch die vergleichsweise seltene Beobachtung von Situationen, in denen Marina motorisch herausgefordert wurde, könnte darauf zurückzuführen sein, dass sie nach drei Jahren viele Aktivitäten, die spezifische grob- und feinmotorische Fertigkeiten erfordern, schon sehr gut kennt und eingeübt hat. Fazit Die Analyse ergab, dass die Bodenarbeit für Marina eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Förderung spezifischer Entwicklungsbereiche bietet, die für junge Menschen mit einer Trisomie 21 relevant sind. Passend zu ihrem besonderen Unterstützungsbedarf im Bereich Sprache konnten zur Förderung der Sprachproduktion und des Sprachverstehens besonders viele Situationen identifiziert werden. Da die Analyse im Kontext einer teilnehmenden Beobachtung durch eine Sozialpädagogin erfolgte, die Marina schon sehr lange kennt, sind die Ergebnisse als Hinweis zu verstehen. Diese können allerdings als Ausgangspunkte genutzt werden, um in Folgeforschung mit einer ProbandInnengruppe und einem Forschungsdesign, welches einen Bias, der hier vorliegen könnte, ausschließt, die Potenziale der Bodenarbeit im Kontext der Pferdegestützten Förderung junger Menschen mit einer Trisomie 21, aber auch andere Beeinträchtigungen, zu untersuchen. Literatur ■ Aner, K., Hammerschmidt, P. (2018): Arbeitsfelder und Organisationen der Sozialen Arbeit. Eine Einführung (1. Auflage). Springer VS, Wiesbaden, Heidelberg http: / / dx.doi. org / 10.1007 / 978-3-658-20564-5 ■ Ansen, H. (2015): Klinische Sozialarbeit. In: Otto, H.-U., Thiersch, H. (Hg.): Handbuch Soziale Arbeit. Grundlagen der Sozialarbeit und Sozialpädagogik (5. Auflage). 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Vandenhoeck Ruprecht, Göttingen, Bristol, CT, U.S.A. http: / / dx.doi. org/ 10.13109/ 9783666701757 Die Autorinnen Jasmin Dörflinger Sozialpädagogin B. A., Inhaberin RA 5 (FN), DOSB-Übungsleiterin C Prof.in Dr. Mone Welsche Reitwartin FN, Arbeitsschwerpunkte Bewegungs- und Körperorientierte sowie Pferdegestützte Methoden in Sozial- und Heilpädagogik, KH Freiburg Kontakt jasmin.doerflinger@gmx.net
