eJournals mensch & pferd international 16/4

mensch & pferd international
2
1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2024
164

Forum: Fahren in der Jugendhilfe

101
2024
Thomas Vogel
Einleitung In der Jugendhilfe ist die Arbeit mit Pferden bereits fester Bestandteil. Meist handelt es sich dabei um Pferdepflege und Reiten. Ein relativ neuer Bereich ist das Kutschenfahren mit Jugendlichen – eine Art der Arbeit, die durch die besondere Situation auf der Kutsche neue Möglichkeiten in Pädagogik und Therapie eröffnet.
2_016_2024_004_0154
154 | mup 4|2024|154-161|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2024.art19d Thomas Vogel Forum Fahren in der Jugendhilfe Einleitung In der Jugendhilfe ist die Arbeit mit Pferden bereits fester Bestandteil. Meist handelt es sich dabei um Pferdepflege und Reiten. Ein relativ neuer Bereich ist das Kutschenfahren mit Jugendlichen - eine Art der Arbeit, die durch die besondere Situation auf der Kutsche neue Möglichkeiten in Pädagogik und Therapie eröffnet. Fahren - Entwicklung und Geschichte Wohl die erste Variante, dass ein Mensch eine Last nicht durch eigene Körperkraft bewegt hat, bestand darin, dass er zwei Holzstangen vorne zusammengebunden und die weiter auseinander stehenden hinteren Enden durch ein Tierfell verbunden hat. Das ergab eine Fläche, auf die man Lasten legen konnte. Die vorderen Enden der Stangen wurden einem Pferd oder Pony auf den Rücken gelegt, so dass das Tier die Last bewegte. Mit der Erfindung des Rades bekam die Entwicklung des Lastentransports mehr Schwung, denn auf einem Wagen mit vier Rädern konnte man mehr Last bewegen. Aus den zwei Stangen wurde eine, die mit der beweglichen Vorderachse verbunden war und ein systematisches Lenken ermöglichte. Rechts und links von dieser Stange wurde je ein Pferd befestigt, was die auf den Wagen wirkende Kraft verdoppelte und somit die bewegte Last und die zurückzulegende maximale Wegstrecke erhöhte. Einerseits war dies der Beginn des Fahrens mit Pferden, andererseits der Beginn des Handels über weite Strecken auf dem Landwege. All dies war noch vor der Entstehung des ägyptischen Reiches, denn es sind Reliefs bekannt, die ägyptische Herrscher auf einachsigen Jagdwagen bei der Löwenjagd zeigen. Auch militärisch wurden diese Wagen genutzt, entweder von Speerschleuderern oder von Bogenschützen. Überreste der vierrädrigen Variante mit Joch, wie sie heute noch bei Ochsen genutzt werden, sind im vorderasiatischen Raum gefunden und nachgebaut worden, um zu prüfen, ob das funktionierte. In den folgenden Jahrtausenden haben sich zwar Geschirr- und Wagenformen weiterentwickelt, aber das Grundprinzip blieb erhalten. Neben dem Lastentransport und der militärischen Nutzung kam noch in verschiedenen Formen der Transport von Menschen dazu - so feierte die Post Ende des letzten Jahrhunderts 500-jähriges Jubiläum. Daneben gab es, zunächst für den wohlhabenden Adel und später auch für gut betuchte Bürgerliche, private Reisewagen oder auch Jagdwagen für den Personentransport über kürzere Distanzen. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine Art Fahrkunst mit bedeutenden Persönlichkeiten wie Edwin Howlett in England oder dem heute viel bekannteren Howlett-Schüler Benno von Achenbach. Letzterer entwickelte ein Fahrsystem auf der Basis bereits bekannter Systeme, das noch heute (zumindest in Deutschland) als Grundlage jeden korrekten Fahrens gilt und nach dem jeder Schüler lernt und geprüft wird. Aufgrund dieses Forum: Vogel - Fahren in der Jugendhilfe mup 4|2024 | 155 Systems wurde Achenbach zum königlich preußischen Marstall-Leiter berufen und von Wilhelm II. geadelt. Mit dem Achenbach-System sind wir bei einem Meilenstein des modernen (Sport-) Fahrens angelangt. Es ist aus dem modernen Fahrsport nicht mehr wegzudenken. Nicht nur in den qualifizierenden Prüfungen - auch im unteren bis mittleren Sportbereich - ist das Achenbach-System verpflichtend vorgeschrieben. Das gesamte Achenbach-System hier beschreiben zu wollen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Nur so viel: Zum Achenbach- System gehört eine feste Bracke, an der die Pferde den Wagen ziehen und eine vom Wagen aus verstellbare Leine, wodurch Unterschiede in Größe, Breite und Arbeitsleistung der Pferde ausgeglichen werden. Es gibt drei aufeinander aufbauende Arten die Fahrleinen zu greifen, mit denen jede „normale“ Situation beim Fahren beherrscht werden kann. Ende der Sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts ist in England unter Führung von Prinz Philip Vielseitigkeitsfahren in Anlehnung an die gerittene Vielseitigkeit entstanden. Es gibt aber auch andere Wettkämpfe, z. B. beim Traditionsfahren, bei dem nur klassische Kutschen verwendet werden und bewertet wird, wie korrekt Ausrüstung, Kleidung des / der Fahrers / Fahrerin und Beifahrers / Beifahrerin sowie der PassagierIn, Pferde und Kutsche in die Zeit passen, in der die Kutsche gebaut wurde (Von Achenbach 2002). Mentale Auswirkungen des Fahrens Ein besonderer Aspekt beim Fahren im Gegensatz zu anderen Pferdesportarten besteht darin, dass Fahren in erster Linie in der freien Natur stattfindet. Im Gegensatz zum / zur ReitanfängerIn, der in der Halle oder auf einem umzäunten Platz seine Karriere beginnt, bewegt sich der / die FahrerIn bereits als AnfängerIn in der Natur auf langen Feld- und Waldwegen und das in einem Tempo von 6 km / h bis 15 km / h. Für das Fahren ist (fast) jede Pony- oder Pferderasse geeignet. Es sollten für ein sicheres Gespann Pferde gewählt wählen, die den Möglichkeiten und Fähigkeiten des / der Fahrers / Fahrerin entsprechen, also für kleine Kinder vielleicht Shetlandponies, für den / die RentnerIn als QuereinsteigerIn ruhige Kaltblüter oder Friesen. Sind die anfänglichen Probleme überwunden, werden FahrerIn wie auch BeifahrerIn ein Gefühl dafür bekommen, Teil der Natur zu sein, in der sie sich langsam bewegen. Es existieren nur noch das Gespann, FahrerIn und der / die BeifahrerIn, alle Hektik des täglichen Lebens fällt ab. Dieses Phänomen ist mit den neuen Smartwatches sicher messbar, dem Autor ist derzeit keine klinische Untersuchung darüber bekannt. Allerdings war auffällig, dass die mit ihm arbeitenden Jugendlichen deutlich zur Ruhe kamen. Am intensivsten fiel das bei einem ADHS-Patienten auf, der normalerweise unter einer hohen Anspannung stand, auf der Kutsche jedoch regelmäßig einschlief. Die Kommunikation zum Gespann erfolgt mit der Peitsche, die dem Schenkel des Reiters entspricht, aber auch wie die Verlängerung der Arme des / der Fahrers / Fahrerin wirkt, über die Leinen und zu einem kleinen Teil über die Stimme - also zu mehr als zwei Dritteln durch manuelle Tätigkeiten, was vielen Fahrern / Fahrerinnen hilft, Ruhe zu finden. Daneben tritt, zumindest beim Fahren mit dem Einspänner, ein Faktor auf, der von Sportmedizinern der Universität Pisa unter Leitung von Paolo Baragli näher erforscht wurde (Lanata et al. 2016) Das Pferd als hoch soziales Wesen, das dazu mit einem sehr empfindlichen Gehör ausgestattet ist, kann den menschlichen Herzschlag auf eine Distanz von über einem Meter aufnehmen. Wie weit das rein über das Gehör geschieht oder durch seine Fähigkeit, Vibrationen aufzunehmen, ist u. a. Teil dieser Untersuchungen. Im Schritt und Trab bleiben die Frequenzen des menschlichen 156 | mup 4|2024 Forum: Vogel - Fahren in der Jugendhilfe wie des tierischen Herzens sehr ähnlich, so dass es sogar zur Synchronisation führen kann. Durch ihre dem Menschen gegenüber um ein Vielfaches sensibleren Sinnesorgans sind Pferde in der Lage, jede unserer Gemütslagen wahrzunehmen. Wenn wir sagen, dass Pferde Glück riechen, meinen wir, dass sie die Pheromone wahrnehmen, die wir im Zusammenhang mit erhöhtem Wohlbefinden aussenden. Wenn man dazu den dem Menschen gegenüber um ein Vielfaches höheren EQ (Emotionaler Quotient) berücksichtigt, kommen wir zu einem Wesen, das präzise erkennt, wie wir sind, was wir fühlen und worauf wir positiv oder negativ reagieren. Dabei sieht das Pferd uns als höher gestelltes Herdenmitglied. Wie die österreichische Fachzeitschrift „Pferde Revue“ in ihrer Februarausgabe 2019 schrieb, haben die Untersuchungen von Baragli und seiner Gruppe ergeben, dass, wenn die Kontaktaufnahme durch das Pferd eintritt, dieses in der Lage ist, seine Herzfrequenz der des Menschen anzupassen. Aus der Untersuchung ergibt sich bisher ein Trend, der nahelegt, dass sich die autonomen Nervensysteme von Mensch und Pferd gegenseitig beeinflussen können. Diese Ergebnisse müssen aber noch durch weitere Untersuchungen gefestigt werden (Sladky 2019). Pädagogisches Fahren mit Kindern und Jugendlichen Allgemeines Warum Fahren? In der Jugendhilfe sind wir darauf angewiesen, die Kinder und Jugendlichen mit all ihren Problemen da abzuholen, wo sie stehen und in Bereichen zu arbeiten, die sie zulassen können. Mit pädagogischem und therapeutischem Reiten und Voltigieren haben wir bereits hervorragende Techniken an der Hand, jedoch sind Jungen und auch ein Teil der Mädchen (vor allem Missbrauchsopfer) besser mit Pferd und Kutsche zu erreichen, als wenn sie auf dem Pferd sitzen. Für diese Klientel ist der Körperkontakt zum Pferd ungeheuer wichtig, aber das Gefühl des Ausgeliefertseins, wenn sie auf dem Pferd sitzen, ist für sie einfach zu viel. Für Jugendliche mit dieser Problematik hat sich das Fahren als ideal herauskristallisiert. Jedes Arbeiten mit Jugendlichen in der Jugendhilfe geht davon aus, dass jeder einen wahren positiven Kern hat, auch wenn dieser durch gemachte negative Erfahrungen häufig verdeckt ist. Tiere lassen sich nicht von der Maske des Klienten blenden, sondern „sehen“ den guten Kern. Die beiden Säulen, an denen wir besonders bei Jugendlichen aus pädagogischen Intensivgruppen arbeiten, sind Bindung und Struktur. Es ist recht einfach, den Jugendlichen klarzumachen, dass die Struktur vom Pferd und seinen Bedürfnissen vorgegeben ist. Die Bindung zum Pferd ergibt sich von alleine, wenn Anfangsängste vor der Größe des Tieres genommen sind. Das Pferd nimmt die Jugendlichen so an, wie sie sind, ohne die Vorbehalte, die ein Mensch haben kann. Was wir als ErzieherInnen mitbringen müssen, sind Empathie, Fachkompetenz und viel Zeit. Eine pädagogische Einheit umfasst mit den erforderlichen Pausen drei bis dreieinhalb Stunden. Was wir oberflächlich als „pädagogisches bzw. therapeutisches Fahren“ bezeichnen, umfasst die allmorgendliche Kontaktaufnahme, das Füttern, Misten und die übrige Versorgung der Pferde, auf der anderen Seite das Putzen, Aufschirren, Einspannen, Fahren, Ausspannen, Abschirren und die Nachversorgung der Pferde sowie die Instandhaltung von Geschirr und Wagen. Kommen Kinder oder Jugendliche das erste Mal ohne jegliche Vorkenntnisse mit zum Stall, setzt der Autor noch einen Zwischenschritt in Form seines Hundes ein. Dieser Hund ist allen Jugendlichen bekannt, weil er ihn auch auf die Gruppen begleitet. Mit ihm dürfen alle Neuankommenden nach kurzem Beschauen der Pferde und der gesamten Anlage erst einmal eine Zeitlang spielen, bevor näherer Kontakt zu den Pferden aufgenommen wird. Je nachdem, ob die Pferde auf der Weide oder im Stall stehen, geht es auf die Wiese oder in die Boxen. Dabei ist die Beob- Forum: Vogel - Fahren in der Jugendhilfe mup 4|2024 | 157 achtungsfähigkeit der BetreuerInnen gefragt. Bei der Reaktion der einzelnen Pferde auf den Jugendlichen gibt es marginale Unterschiede. Das Pferd mit der positivsten Reaktion hat sich den Jugendlichen ausgesucht. Kurz darauf wird der / die Jugendliche erklären, dass er dieses Pferd am schönsten findet. Damit hat er / sie sich auf die Bindung zu genau diesem Pferd eingelassen. Selbstverständlich ist dies dann das Pferd, mit dem der / die Jugendliche in Zukunft hauptsächlich arbeiten wird. Bei Jugendlichen, die schon Routine haben, sind die Abläufe im Stall immer gleich. Routine bringt Struktur - Struktur, vom Pferd gefordert, bringt Bindung zum Pferd und mittelbar zu BetreuerInnen, wobei diese peinlich genau darauf achten müssen, nur die Rolle der Fachkompetenten zu übernehmen, der den Jugendlichen bei Fragen oder Problemen hilft. Die Rolle der Autorität ausübenden ErzieherInnen würde die Beziehung zwischen Jugendlichen und Pferd schwieriger gestalten, was sich auch mittelbar auf das Verhältnis Jugendliche / BetreuerInnen übertragen würde. Im Folgenden wird beschrieben, wie eine solche Routine aussehen kann, wenn man mit einem einzelnen Pferd fährt (was der häufigere Fall sein dürfte); bei einem Zweispänner ist der Ablauf bis auf die Anzahl der Pferde im Wesentlichen identisch. Zuerst wird das Pferd begrüßt. Bei der Begrüßung wird automatisch der Gesundheitszustand des Pferdes kontrolliert: Hat es Wunden, wirkt es müde, verhält es sich auffällig? Außerdem erhält das Pferd eine kleine Ration Kraftfutter oder Leckerlis. Diese Ration dient nicht der Ernährung des Pferdes, sondern muss bei einer anderen Fütterung eingespart werden. Jede / r PferdebesitzerIn kann bestätigen, dass das Kaugeräusch von Pferden beruhigend auf den Menschen wirkt. Dezent beobachtet, darf der Jugendliche den Pferden beim Fressen zuschauen. Selbst die zappeligste ADHS-ler kommt dabei zur Ruhe. Danach wird die Box des Pferdes ausgemistet und neu eingestreut. Eine Tätigkeit, die in der Vorstellung des Laien mit Dreck und Gestank verbunden ist, von Jugendlichen aber nach wenigen Erklärungen und Wiederholungen als pflegerische Tätigkeit empfunden wird, zu der das Pferd selbst nicht in der Lage ist. Wir wollen vom Pferd eine Leistung haben, also müssen wir vorab selbst eine Leistung für das Pferd erbringen. Um die Eindrücke zu verarbeiten, folgt für die Jugendlichen / Kinder eine Pause. Die Grenze der Konzentrationsspanne der Jugendlichen ist erreicht; bei Jugendlichen mit ADHS kommt hinzu, dass sie aus intrinsischer Motivation ruhiger geworden sind. Autisten haben sich freiwillig aus ihrer Sphäre in den Bereich der Pferde begeben. Das wird ihnen bewusst und muss verarbeitet werden. Kinder sollten z. B. auf den Spielplatz gelassen werden, weil sie solche Erfahrungen am besten in Bewegung aufarbeiten. Nach der Pause wird das Pferd geputzt. Dafür sollte man genug Zeit einplanen, weil die Jugendlichen den körperlichen Kontakt zum Pferd dafür nutzen, die Bindung zu diesem wieder aufzunehmen und zu vertiefen. Nachdem man gemeinsam den Wagen an den Einspannplatz gebracht hat, wird das Pferd aufgeschirrt, d. h., dass ihm das zum Fahren nötige Geschirr aufgelegt wird. Dies ist mit theoretischem Unterricht bzgl. Name, Lage und Funktion der einzelnen Teile verbunden. Danach wird das Pferd eingespannt, d. h., dass das Geschirr mit dem Wagen verbunden wird, damit das Pferd ihn ziehen und lenken kann. Die Funktion der Jugendlichen ist, vor dem Pferd zu stehen und dafür zu sorgen, dass es ruhig stehen bleibt. Dabei haben sich die Ruhe der Jugendlichen und seine Bindung zum Pferd so weit vertieft, dass die Jugendlichen vollkommen stressfrei mit dem Pferd umgehen kann. Beim eigentlichen Fahren fahren die BetreuerInnen die ersten 100-200 Meter selber, damit er den ersten „Stallmut“ des Pferdes abfangen 158 | mup 4|2024 Forum: Vogel - Fahren in der Jugendhilfe und die Jugendlichen sich auf ihre Aufgabe einstimmen kann, danach übernehmen die Jugendlichen die Leinen und fahren unter Aufsicht und Anleitung durch die BetreuerInnen selber. Die Strecke - soweit mehrere zur Auswahl stehen - wird nach der Tagesverfassung der Jugendlichen gewählt. Sind sie beim Fahren noch unsicher, werden lange gerade Strecken gewählt, wird er unruhig, möglichst Waldwege, weil Wald eher Ruhe bringt als z. B. häufig wechselnde Felder. Straßenverkehr oder Platzarbeit nur bei erfahreneren Jugendlichen, die bereits ein höheres Selbstbewusstsein aus dem Fahren gezogen haben. Die BetreuerInnen bleiben in der Rolle der Fachkundigen, fragen aber ab und zu, wie es den Händen der FahrerInnen geht, da Anfänger sich leicht verkrampfen. Sollte das Eintreten (anfangs im Allgemeinen nach 15-20 Minuten), wird sofort gewechselt, um den Jugendlichen das Gefühl zu geben, dass der / die BetreuerIn zuverlässig ist. Nach Möglichkeit lässt man den Jugendlichen das letzte Stück auf den Hof und an den Ein- und Ausspannplatz fahren. Das sind meist mehrere Wendungen, wird von anderen FahrerInnen und ReiterInnen wahrgenommen und im Allgemeinen positiv kommentiert. Das Ausspannen erfolgt in umgekehrter Reihenfolge wie das Einspannen. Die Aufgabe der Jugendlichen ist die gleiche wie beim Einspannen. Wie beim Ausspannen erfolgt das Abschirren in umgekehrter Reihenfolge wie das Aufschirren. Das Pferd wird auf Verletzungen kontrolliert und auf die Weide oder in den Stall gebracht. Das Geschirr wird auf z. B. Schäden kontrolliert und ordentlich wieder an seinem Platz aufgehängt. Als Abschluss verabschieden sich die Jugendlichen von den Pferden, was sie normalerweise gerne über Körperkontakt machen. Es hat sich als gut herausgestellt, bei extrem schlechtem Wetter den Ablauf beizubehalten, bis auf die Teile zwischen Auf- und Abschirren. Diese Teile werden dann durch Wagen- und Geschirrpflege in Verbindung mit theoretischem Unterricht ersetzt, wobei der Unterricht einen Bezug zum Pferd haben sollte. Für manche, die als unbeschulbare Jugendliche gelten, ist das gerade der Impuls, etwas lernen zu wollen. Fahren in der Jugendhilfe: Verden Im Jahr 2006 begann das erste Projekt „Fahren in der Jugendhilfe“ in Verden. Ausgangspunkt war eine kleine Einrichtung der Jugendhilfe mit 18 männlichen Jugendlichen, die allesamt bereits durch Gewalt- und / oder Sexualstraftaten aufgefallen waren. Zur Einrichtung gehörte eine Haflingerzucht mit zwei Deckhengsten und vier Stuten sowie Nachzucht. Weiterhin gab es Großpferde (Voll- und Warmblüter) vom Arbeitstrainer, dessen Ausbildung als Pferdewirt (Reiten) - heute: Pferdewirt klassische Reitkunst, Trainer A Fahren und Richter FN für Fahrturniere eher im Sportbereich angesiedelt war. Unterstützt von seiner Frau, Trainer B Voltigieren und Reiten, wurde ihm eine Anzahl Jugendlicher zugeteilt, die zum Teil vormittags unter Aufsicht beider, nachmittags in der einrichtungseigenen Beschulung arbeiteten, während fünf Jugendliche den ganzen Tag über im Stall blieben. Da von den Haflingern nur die Hengste, von den Warm- und Vollblütern so gut wie alle gefahren waren, bestand die Ausbildung zum einen darin, den Jungen neben dem Fahren auch alles beizubringen, was die Pferdehaltung betraf und daneben die Haflingerstuten einzufahren. Bald fiel auf, dass sich nach kurzer Zeit Paare aus einem Jungen und einem Pferd bildeten. Ging es einem der Jugendlichen schlecht, ging er häufig in den Pausen zu „seinem“ Pferd, um ihm zu beschreiben, was ihn bedrückte. Die Jugendlichen, die auf diese Art einen Partner gefunden hatten, wurden im Rahmen ihrer Möglichkeiten ausgeglichener, während die „partnerlosen“ Jugendlichen auf ihrem hohen Aggressionslevel blieben, so, dass nur ein Teil der Jugendlichen beim auch für die Pferde nicht immer stressfreien Einfahren an die Arbeit vor der Kutsche gewöhnt helfen konnten. Gerade in diesem Bereich muss sich Forum: Vogel - Fahren in der Jugendhilfe mup 4|2024 | 159 einer auf den anderen verlassen können. Daher gab es die Absprache, dass jeder zum Einfahren eingeteilte Jugendliche sich meldete, wenn er sich zu einem Zeitpunkt emotional nicht in der Lage fühlte, sinnvoll zu helfen. Diese Absprache hat vom ersten Tag an gut funktioniert. Neben Pferdehaltung, Einfahren und Ausbildung der Jugendlichen wurde auch für Turniere trainiert, bei denen Jugendliche als Helfer mitfahren durften, was sehr gut angenommen wurde. Besonders die Stellung als Beifahrer, Assistent des Fahrers auf der Kutsche in der Prüfung war sehr gefragt. Dabei lief nach wenigen Anfangsproblemen alles so reibungslos, dass den anderen Fahrern und den Zuschauern nicht bewusst wurde, dass diese freundlichen hilfsbereiten Jugendlichen eine ganz andere Vorgeschichte hatten und in einer Einrichtung der Jugendhilfe lebten. Im Laufe der vier Jahre wurden alle Fahrturniere im Raum Verden besucht sowie die Pferdemesse Verdiana, bei der die Einrichtung einen Viererzug Haflinger mit den Hengsten als Vorderpferde und Stuten als Hinterpferde stellte. Auch war es ohne größere Probleme möglich, eine kleine Anzahl Reitschüler aus der Umgebung anzunehmen. Daneben ist besonders hervorzuheben, dass ein mehrfach behinderter Praktikant (beinzentrierte Tetraspastik, seh- und lernbehindert) für vierzehn Tage an der täglichen Arbeit teilnehmen konnte und dabei von den Jugendlichen jede erforderliche Unterstützung bekam. Leider musste dieses Projekt aufgrund von Problemen, die nur indirekt den Stall und die Jugendlichen betrafen, nach vier Jahren eingestellt werden. Fazit zum Verdener Projekt: Dass diese Jugendlichen im Umgang mit Pferden zur Ruhe kamen und ihr ursprüngliches Verhalten bis auf zwei Ausnahmen gänzlich ablegen konnten, wurde schon am Rande erwähnt. Da dank der sozialen Medien immer noch Kontakt besteht, kann man heute aus der zeitlichen Distanz feststellen, dass bis auf die erwähnten zwei Ausnahmen und einem Jugendlichen, der aufgrund einer Erkrankung eine Berufsunfähigkeitsrente bezieht, alle einer regulären Arbeit nachgehen und ein normales Leben im Beziehungsbereich und als Vater führen. Irgendwelche Rückfälle in ihr altes Verhalten sind in dieser Zeit nicht aufgefallen. Einer der nicht beschulbaren Jugendlichen hat eine Ausbildung zum Pferdepfleger gemacht und lange Jahre in diesem Beruf gearbeitet. Andere arbeiten als Ungelernte, also ohne Berufsabschluss mit Pferden, oder besuchen inzwischen mit ihren PartnerInnn und Kindern in ihrer Freizeit Pferdeställe. Fahren in der Jugendhilfe: Offenburg Im Jahr 2015 begann das zweite Projekt, innerhalb einer größeren Einrichtung mit ca. 50 Jugendlichen in verschiedenen Häusern, einer psychotherapeutischen Praxis der Offenburger Akademie für Psychotherapie und der Pegasus Fachschule für soziale Arbeit. Dieses Projekt wurde vom inzwischen zum Jugend- und Heimerzieher, experientellen Reittherapeuten und Bachelor der pädagogischen Technik ausgebildeten Autor geleitet. Unter den Jugendlichen gab es immer wieder nicht oder noch nicht Beschulbare, die dann in das Projekt eingebunden wurden und in Kleinstgruppen von 1-2 Jugendlichen und Kindern zum Abb. 1: Gemeinsam unterwegs 160 | mup 4|2024 Forum: Vogel - Fahren in der Jugendhilfe Stall kamen, wo sie auch vormittags praktisch tätig waren. In einer dieser Kleinstgruppen waren zwei Jugendliche zusammengefasst. Der eine kam von der Pädagogik, der andere von der Therapie, die sich zusammen auf die Fahrabzeichen der Klassen VI und VII vorbereitet haben, um in Zukunft auch an Turnieren teilnehmen zu können. Dabei fiel auf, dass der Junge aus der Pädagogik konsequenter am Thema arbeiten wollte und auch den Jugendlichen aus der Therapie öfter mal zur Ordnung gerufen hat, wenn der aufgrund seiner Narzissmusstörung dem theoretischen Unterricht nicht folgen konnte oder wollte. Als Fazit kann man hier festhalten, dass die meisten der Jugendlichen aus diesem Projekt nach ca. drei Monaten beschulbar waren. Therapeutisches Fahren oder Therapie mit Pferd und Wagen Im Vergleich zum pädagogischen Fahren ist der Ablauf beim therapeutischen Fahren komprimierter und konzentrierter als beim pädagogischen Fahren. Das Misten entfällt, weil es den zeitlichen Rahmen sprengen würde, der uns zur Verfügung steht. Ansonsten beginnt der Ablauf wie beim pädagogischen Fahren: Das Pferd wird wie beim pädagogischen Fahren zum Vorbereitungsplatz gebracht und in Verbindung mit intensivem Körperkontakt geputzt. Dabei wäre es für die jeweiligen KlientInnen einfacher - gerade bei Jungen - wenn die BetreuerInnen das Schmusen mit dem Pferd nicht mitbekäme. Man darf diesen Vorgang aber nicht abbrechen oder stören, denn diese Zeit (ca. 5-6 Minuten) gehört ganz den KlientInnen und dem Pferd. Darauf erfolgen das Aufschirren und Einspannen, wobei es auch hier nicht schadet, wenn die KlientInnen die Bezeichnungen der Geschirrteile lernt. Wie beim pädagogischen Fahren wird der Wagen vorab an den Vorbereitungsplatz gestellt, so dass das Einspannen zügig und flüssig verläuft. Während beim pädagogischen Fahren immer das Ziel ist, dass die Jugendlichen zum Fahren kommen, bleibt das beim therapeutischen Fahren erst einmal offen, da es individuell verschieden ist, wie sich KlientInnen Fragen und Problemen nähert. Dem einen ist ein Angehen einer Problematik leichter möglich, wenn er die TherapeutInnen anschauen kann, während diese die KlientInnen nicht anschauen, weil sie das Pferd im Blick behalten müssen. Beim anderen ist es umgekehrt, die Jugendlichen möchte Blick und Hände mit dem Pferd beschäftigt wissen, während Probleme ausgesprochen werden. Sollte der dritte Fall auftreten, dass KlientInnen den Blickkontakt zu TherapeutInnen möchten, dann kann man statt Kutsche zu fahren gemeinsam das Pferd an der Hand grasen lassen, und die Jugendlichen können jederzeit den Augenkontakt halten oder unterbrechen. Auch sind KlientInnen nicht gezwungen, die Situation, die gewünscht sind, vor sich und / oder den TherapeutInnen zu verbalisieren, denn ein „ich möchte heute mit dem Pferd …“ reicht völlig aus. Wenn die Fahrt stattgefunden hat, wird wie beim pädagogischen Fahren das Pferd ausgespannt und versorgt. Die Kombination der beruhigenden Art, die Pferde vermitteln, in Verbindung mit dem ebenfalls beruhigend wirkenden Gleiten durch die Landschaft und teilweise dem Stolz, ein oder zwei Pferde kontrollieren zu können, den KlientInnen durchaus berechtigt empfindet, verstärkt die Wirkung eines Gesprächs ungemein und wirkt auch nachhaltiger. Den meisten gelingt es, die positiven Gefühle von der Therapiestunde zumindest über einen längeren Zeitraum in ihr tägliches Leben mitzunehmen. Beim „experientellen“ therapeutischen Fahren kommt noch eine abenteuerliche Ebene hinzu. „Experientell“ kann in diesem Zusammenhang mit „Etwas als abenteuerlich empfinden“ beschrieben werden. Hier bringt der Therapeut eine abenteuerliche Komponente mit ein, beispielsweise eine Nachtfahrt oder Hindernisfahren mit der Kutsche (Schley 2009) Forum: Vogel - Fahren in der Jugendhilfe mup 4|2024 | 161 Gerade beim Kutsche fahren mit einem sogenannten Marathonwagen bieten sich viele sehr gute Möglichkeiten, diese experientelle Komponente einzubringen. Diese Möglichkeiten müssen TherapeutInnen aber mit Bedacht aussuchen, denn inflationär eingesetzt verlieren sie ihre Wirkung. Ist der experientelle Reiz für die KlientInnen zu gering, zeigt sich keine Wirkung. Ist der Reiz zu hoch, ziehen sie sichzurück, und die therapeutische Wirkung schlägt in ihr Gegenteil um. Hier liegt eine sehr hohe Verantwortung der TherapeutInnen. Der Gesprächseinstieg muss nicht zwangsläufig von den KlientInnen ausgehen. Gerade junge KlientInnen neigen sonst dazu, aus der Therapiestunde eine reine Kutschfahrt mit geringem Therapiewert zu machen, abgesehen davon, dass die Pferde aufgrund der Bewegung zufrieden sind und die Jugendlichen aufgrund der Ruhe, die bei der Kutschfahrt empfunden werden. Aber wir wollen therapeutisch mehr. Dafür nutzt der Autor das von Rogers in den USA entwickelte und von den Professoren H. J. Feuerstein und K. Schley nach Deutschland gebrachte Focusing. Es stellt einen Zusammenhang zwischen körperlichen und psychischen Problemen her. Also beginnt man das Gespräch mit Fragen nach dem körperlichen Befinden des Klienten, weist bei der Feststellung von körperlichen Beschwerden auf einen möglichen Zusammenhang mit der Psyche hin und überlässt alles übrige dem Klienten. Häufig beginnen so die intensivsten Gespräche. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das pädagogische und therapeutische Fahren mit Pferd und Kutsche eine vielseitige und intensive zusätzliche Möglichkeit zum bisher üblichen Einsatz von Pferden in der Jugendhilfe bietet. Literatur ■ Lanata, A., Guidi, A., Valenza, G., Baragli, P., Scilingo, E.P. (2016): Quantitative heartbeat coupling measures in human-horse interaction. In: Annu Int Conf IEEE Eng Med Biol Soc. 2016. 2696-2699. doi: 10.1109 / EMBC.2016.7591286 ■ Pape, M. (2002): Die Kunst des Fahrens: Fahren und Anspannen nach den Richtlinien. 8. Aufl. Franckh-Kosmos, Stuttgart ■ Schley, K.; Gerster; C. (2009): Experientielle Reittherapie: Ein erlebnisorientiertes Lehr- und Arbeitsbuch. Adebar Verlag, Bottrop ■ Sladky, P. (2019): Studie: Pferd und Mensch können Herzschlag einander anpassen. In: https: / / www.pferderevue.at/ aktuelles/ sonstiges/ 2019/ 02/ studie-pferd-und-menschkoennen-herzschlag-einander-anpassen.html Studie: Pferd und Mensch können Herzschlag einander anpassen (pferderevue.at) 23.04.2024 ■ Von Achenbach, B. (2002): Anspannen und Fahren. 9. Aufl. FN-Verlag, Warendorf Der Autor Thomas Vogel (29.5.1956-11.5.2024) gelangte über seine berufliche Tätigkeit als Pferdewirt Klassische Reitausbildung zu seiner großen Leidenschaft, dem Kutsche fahren. Ebenso widmete er sich seiner Berufung der Pädagogik. Diese beiden Bereiche konnte er im pädagogischen Fahren kombinieren.