mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2025
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Pferdegestützte Interventionen aus Sicht der Pferde
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Laura A.-M. Pflug
Theresa F. Braun
Der Einsatz von Pferden in pädagogischen Handlungsfeldern nimmt stetig zu. Während die durch das Pferd entstehenden positiven Auswirkungen auf Kinder immer häufiger bestätigt werden können, mangelt es bisher noch an Studien zu Auswirkungen der pferdegestützten Interventionen auf das Pferd, sodass im Rahmen einer explorativen qualitativen Feldforschung der Multispezies-Ethnografie eine teilnehmende Beobachtung von Mensch-Pferd-Interaktionen in einem reitpädagogischen Setting durchgeführt wurde. Alle beobachteten Pferde zeigten in den Interaktionen mit den Zielpersonen körpersprachliche Signale des Unwohlseins. Dies lässt darauf schließen, dass Pferde in pädagogischen Kontexten Situationen ausgesetzt sind, die möglicherweise ihr Wohlbefinden beeinträchtigen. Die ersten Ergebnisse legen nahe, dass ein größerer Fokus auf das Wohlbefinden der Pferde im pädagogischen Einsatz gelegt werden sollte.
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4 | mup 1|2025|4-16|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2025.art02d Laura A.-M. Pflug, Theresa F. Braun Schlüsselbegriffe: pferdegestützte Interventionen, Tierschutz, Stress bei Pferden, teilnehmende Beobachtung, Multispezies-Ethnografie Der Einsatz von Pferden in pädagogischen Handlungsfeldern nimmt stetig zu. Während die durch das Pferd entstehenden positiven Auswirkungen auf Kinder immer häufiger bestätigt werden können, mangelt es bisher noch an Studien zu Auswirkungen der pferdegestützten Interventionen auf das Pferd, sodass im Rahmen einer explorativen qualitativen Feldforschung der Multispezies-Ethnografie eine teilnehmende Beobachtung von Mensch-Pferd-Interaktionen in einem reitpädagogischen Setting durchgeführt wurde. Alle beobachteten Pferde zeigten in den Interaktionen mit den Zielpersonen körpersprachliche Signale des Unwohlseins. Dies lässt darauf schließen, dass Pferde in pädagogischen Kontexten Situationen ausgesetzt sind, die möglicherweise ihr Wohlbefinden beeinträchtigen. Die ersten Ergebnisse legen nahe, dass ein größerer Fokus auf das Wohlbefinden der Pferde im pädagogischen Einsatz gelegt werden sollte. Eine Pilotstudie zu verhaltensbezogenen Stressanzeichen bei Pferden in einem reitpädagogischen Setting Pferdegestützte Interventionen aus Sicht der Pferde Pflug, Braun - Pferdegestützte Interventionen aus Sicht der Pferde mup 1|2025 | 5 Wirkungen pferdegestützter Interventionen auf Pferde? Der Einsatz von verschiedenen Tieren in unterschiedlichen therapeutischen, pädagogischen bzw. allgemein sozialen Praxisfeldern erfährt innerhalb der letzten Jahre einen deutlichen Zuwachs. Das Pferd stellt nach dem Hund das am häufigsten eingesetzte Tier dar (Ameli et al. 2023). Der Blick auf die gegenwärtige Forschung innerhalb der pferdegestützten Interventionen (folgend mit PGI abgekürzt) zeigt, dass der Schwerpunkt auf den unterschiedlichen positiven Wirkungen seitens der Pferde auf den Menschen (physisch, psychisch, sozial) liegt (Barzen 2020; Beetz et al. 2012; Julius et al. 2014, 53 ff; O’Haire 2012; Urmoneit 2015, 148 ff; Winkler / Beelmann 2013). Diese Wirkungen entstehen innerhalb des sogenannten Interaktionsdreiecks (siehe Abbildung 1) (Ameli, 2015; Braun 2023; Ladner / Brandenberger 2020; Vernooij / Schneider 2018), welches zumeist aus der pferdegestützt arbeitenden Fachkraft, den Zielpersonen sowie dem Pferd selbst besteht. Teilweise sind zusätzlich noch HelferInnen zur Unterstützung der durchführenden Fachkraft vorhanden. Der beschriebene Fokus der bisherigen Forschung wird durch den dunkelblauen Pfeil visualisiert. Bisher gibt es allerdings noch sehr wenige wissenschaftliche Studien zu den umgekehrten Effekten seitens der Menschen auf die Pferde (siehe auch Ameli et al. 2023; De Santis et al. 2017). Wirkungen und Nebenwirkungen seitens der Zielpersonen auf das Tier werden kaum oder gar nicht überprüft, was eine bedeutende Lücke darstellt, um z. B. auch den gesetzlich vorgeschriebenen Tierschutz innerhalb der PGI zu gewährleisten. Das Tierschutzgesetz in Deutschland schreibt hier in Paragraf 1 vor, dass das Wohlbefinden (s. Kasten) der Tiere als Mitgeschöpfe gesichert werden muss und Schmerzen, Leiden oder Schäden zu verhindern sind (§ 1, TierSchG). Daraus folgt, dass die pferdegestützt arbeitende Fachkraft in der Lage sein muss, das Wohlbefinden der Pferde in den PGI zu gewährleisten bzw. zu erkennen, wann Wohlbefinden beeinträchtigt ist, um den tierschutzbezogenen rechtlichen Vorgaben zu entsprechen. Dass Tierschutz grundsätzlich auch von pferdegestützt arbeitenden PraktikerInnen als hochrelevant wahrgenommen wird, zeigt eine Untersuchung von Ameli et al. (2023). Über 92,2 % der Befragten, die tiergestützt arbeiten, stimmen zu, dass Tierschutz eine entscheidende Rolle in tiergestützten Settings spielt. Daraus leitet sich die Frage ab, wie das Wohlbefinden der Pferde in PGI im Sinne des Tierschutzes gesichert werden bzw. Unwohlsein (hier: Stress) vermieden werden kann. „Stress“ als Begriff ist ähnlich wie „Wohlbefinden“ nicht Wohlbefinden ist ein komplexes und gleichzeitig schwammiges Konstrukt, das sowohl für den Menschen als auch für Tiere angewendet wird. Im Kommentar zum TierSchG wird festgehalten, dass Wohlbefinden einen „Zustand körperlicher und seelischer Harmonie des Tieres in sich und - entsprechend seinen angeborenen Lebensbedürfnissen - mit der Umwelt“, darstellt (Hirt et al. 2023, 142). Ein möglicher Indikator für Wohlbefinden ist, dass Tiere sogenanntes Normalverhalten zeigen, also bezogen auf Pferde typisches Verhalten als Steppen-, Herden- und Fluchttiere mit den dazugehörigen Funktionskreisen (Bohnet 2009; Zeitler-Feicht 2015). Definitionsversuch Wohlbefinden Abb. 1: Forschungsschwerpunkt der pferdegestützten Interventionen dargestellt im Interaktionsdreieck (Einzelsetting) (Braun 2023) Pferd Zielperson(en) Pferdegestützt arbeitende Fachkraft 6 | mup 1|2025 Pflug, Braun - Pferdegestützte Interventionen aus Sicht der Pferde eindeutig definiert und wird auch alltagssprachlich verwendet. Im Duden (2023) wird Stress beispielsweise als „erhöhte Beanspruchung, Belastung physischer oder psychischer Art“ beschrieben. Insgesamt beschäftigen sich verschiedene wissenschaftliche Disziplinen mit dem Phänomen, wie z. B. Medizin, Psychologie oder Soziologie, aber auch interdisziplinäre Zugänge sind zu finden. Oft wird sich in den Ausführungen auf Hans Seyle (1907-1982), einen der Urväter der Stressforschung, berufen. Er hat sich intensiv mit Stress sowohl für Menschen als auch höhere Tiere, also auch Pferde, beschäftigt, und auf ihn geht auch das bekannte Modell von Eustress und Disstress zurück (Breitenbach, Kapferer / Sedmark, 2023, 9 ff, 27 f; Plaumann et al. 2006, 3 ff). Im Kontext der hier vorliegenden Forschung wird sich eher auf den negativ auswirkenden Stress bezogen, der im Kontext der Sicherung des Wohlbefindens relevant ist. Als Arbeitsdefinition wird festgehalten: „Stress gilt als Ausdruck negativer Emotionen und markiert die Abwesenheit von psychischem Wohlbefinden“ (Neugebauer / Neugebauer 2020, S. 173), bedeutet also gleichzeitig Unwohlsein. Die bisherige Forschung zu „Stress“ und Beeinträchtigungen des Wohlbefindens bei Pferden bezieht sich sowohl auf die Veränderung physiologischer (z. B. Herzfrequenz, Atmung, Temperatur) (z. B. Arrazola / Merkies, 2020; Ayla et al. 2021; McDuffee et al. 2022; Naber et al. 2019; Lundblad et al. 2020), biochemischer (z. B. Cortisol) (z. B. McDuffee et al. 2022; McKinney et al. 2015; Naber et al. 2019) sowie verhaltensbezogener Parameter (z. B. Ohrenspiel, Anspannung der Kiefermuskulatur, Schweifschlagen) (z. B. Arrazola / Merkies 2020; Ayla et al. 2021; Kaiser et al. 2006; Lundblad et al. 2020; Meinzer 2009; Merkies et al. 2019). Für das Feld der PGI gibt es bereits Studien, die sich explizit mit der Stressbelastung von Pferden in PGI auseinandersetzen. Während die Studien von McKinney et al. (2015) oder Ayala et al. (2021) zeigen, dass kein signifikanter Anstieg physiologischer, biochemischer und verhaltensbezogener Stressparameter durch die PGI erfolgt bzw. ein Anstieg auf andere Faktoren wie z. B. die körperliche Anstrengung zurückgeführt werden kann, konnten Arrazola und Merkies (2020), Kaiser et al. (2006) und Meinzer (2009) herausfinden, dass das Verhalten der Zielpersonen zu vermehrtem Stress (verhaltensbezogen und physiologisch) bei den eingesetzten Pferden führen kann, genauso wie bestimmte Situationen (hier z. B. das Aufsteigen) (McDuffee et al. 2022). Auch wenn es dementsprechend insgesamt noch kein einheitliches und umfassendes Bild zu möglichen Stressbelastungen seitens der Pferde in den PGI gibt, werden letztgenannte Erkenntnisse zum Anlass genommen, die möglichen Anzeichen von Unwohlsein bei Pferden im pädagogischen Einsatz zu untersuchen. Dadurch, dass die pferdegestützt arbeitende Fachkraft zumeist nicht die Möglichkeit hat, physiologische oder biochemische Parameter zu analysieren, aber die Person darstellt, die verantwortlich für das Setting und damit auch den Tierschutz ist, wurde der Fokus in der vorliegenden Untersuchung auf verhaltensbezogene Aspekte der Pferde in der Interaktion Eustress, heute eher unter dem Begriff Hormesis zu finden, stellt eine milde Form von Stress dar, die dazu führt, dass eine höhere Widerstandsfähigkeit erworben wird. Es wird hier auch von „positivem“ Stress gesprochen. Disstress beschreibt hingegen einen wiederkehrenden und chronischen Stress, der zur Erschöpfung und nachteiligen Veränderungen führt (Breitenbach et al. 2023, 9 f, 27 f, 215). Eustress und Distress Stress ist wissenschaftlich nicht eindeutig definiert und wird auch alltagssprachlich verwendet. Pflug, Braun - Pferdegestützte Interventionen aus Sicht der Pferde mup 1|2025 | 7 mit den Zielpersonen gelegt. Zur Einordnung der Verhaltensweisen wurden die sogenannten Funktionskreise aus der Verhaltensbiologie sowie die dazugehörigen Ethogramme des Pferdes genutzt (Neugebauer / Neugebauer, 2020, 15). Abbildung 2 zeigt exemplarisch ein Erschöpfungsgesicht bei Pferden (Funktionskreis Ruheverhalten), was als Disstressverhalten von Neugebauer und Neugebauer (2020, 80) eingeordnet wird und was „durch eine psychische und körperliche Überbeanspruchung verursacht wurde“. In diesem Zustand wirkt das Pferd lethargisch und kraftlos, die Ohren sind seitlich oder rückwärts abgestellt, die Augen sind halb vom oberen Lid bedeckt und eingefallen sowie die Nüstern geweitet. Zudem hängen Hals und Kopf. Als leitende Forschungsfrage wurde dementsprechend formuliert: Welche verhaltensbezogenen Signale des Unwohlseins lassen sich bei Pferden im pädagogischen Einsatz in der Interaktion mit Kindern möglicherweise beobachten? Forschungsdesign Folgend wird die Erhebungsmethode, das untersuchte Setting sowie das Vorgehen in der Auswertung beschrieben. Erhebung der Daten und Untersuchungssetting Die Forschungsfrage wurde durch die Offenheit der Frage mithilfe eines qualitativen Forschungsdesigns, genauer einer ethnografischen Erhebung, untersucht (Breidenstein et al. 2015, 83). Da Erhebungen der Ethnografie-Forschung grundsätzlich auf den Menschen ausgerichtet sind, wurde das herkömmliche methodische Vorgehen um den neuen disziplinübergreifenden Forschungsansatz der sogenannten Multispezies- Ethnografie (Ameli 2021) erweitert. Mithilfe dieses Ansatzes können explizit Beziehungen und Verhältnisse von Menschen und Tieren, also auch die Interaktionen innerhalb der PGI, erforscht werden (Ameli 2021, 79). Somit ist die Multispezies-Ethnografie der derzeit einzige Ansatz, welcher Tiere explizit in qualitative Forschungsansätze der Sozialforschung miteinbezieht. In der hier vorliegenden ethnografischen Untersuchung wurden sogenannte teilnehmende Beobachtungen durchgeführt, um Daten zur Beantwortung der Forschungsfrage zu sammeln. Folglich können auch diese Beobachtungen in die Multispezies-Ethnografie eingeordnet werden. Wenngleich ein geringer Fokus auf der Beobachtung der Interaktionen zwischen Mensch und Pferd liegt, sind die beobachteten Verhaltensweisen der Pferde dennoch Reaktionen auf den unmittelbaren Kontakt zum Menschen bzw. entstehen in der Interspezies-Interaktion. Die alleinige Nutzung von Ethogrammen als Forschungsmethode zur Analyse von tierischem Verhalten wird dementsprechend als nicht ausreichend betrachtet. Zusätzlich wurden Videoaufnahmen mit einem Smartphone vorgenommen, die aber lediglich als Abb. 2: Erschöpfungsgesicht (Neugebauer, G. M., Neugebauer, J. K. (2020): Lexikon der Pferdesprache. Neue Wege zur artgerechten Kommunikation. Ulmer, Stuttgart) In der Forschungsmethode der teilnehmenden Beobachtung begeben sich die forschenden Personen in das Forschungsfeld, beobachten die Situation und fertigen Notizen an. Die Beobachtungen selbst sind nicht-strukturiert und folgen keinen methodischen Regeln (Breidenstein et al. 2015, 85), sie sind jedoch durch die Art des Vorgehens mit definiertem Feldzugang sowie der Art der Auswertung explizit von einer Laien-Beobachtung zu unterscheiden. Teilnehmende Beobachtung 8 | mup 1|2025 Pflug, Braun - Pferdegestützte Interventionen aus Sicht der Pferde Gedankenstütze dienten. Im Beobachtungszeitraum wurde sich auf „relevante Ausschnitte des Feldes“ fokussiert (Ameli 2021, 143). Die relevanten Daten des Beobachtungsausschnittes werden in Tabelle 1 zusammengefasst. Von dem Beobachtungsstandort aus wurden die Beobachtungsnotizen in Form von Stichworten und kurzen Sätzen auf einem Notizblock verschriftlicht und die Videos aufgenommen. Hierdurch wurde die „körperliche Sensorik des Beobachters“ erweitert (Hirschauer et al. 2015, 93). Der Pilotcharakter dieser Untersuchung lässt sich an der geringen Anzahl der beobachteten Pferde erkennen. Auf Basis dieser Stichprobe können dementsprechend keine generalisierten Aussagen getroffen werden. Die im weiteren Verlauf des Artikels folgenden Ergebnisse sind daher als erste Erkenntnisse zu bewerten. Vorgehen in der Auswertung der Daten Nach der Beobachtungseinheit wurden direkt am nächsten Tag die bereits getätigten Notizen, „mit klarem Kopf […], damit keine wesentlichen Teile verloren gehen“ (Ameli 2021, 151), ausformuliert. Als Gedankenstütze und Ergänzung der Notizen wurden die Videoaufnahmen hinzugezogen, um noch detailliertere Beschreibungen der beobachteten Situationen anfertigen zu können, sodass die Beobachtungen quasi wiederholt durchlaufen wurden und ein umfassendes ethnografisches Protokoll als Basis für die weitere Auswertung entstand. Dadurch, dass in der Multispezies-Ethnografie das Vorgehen in der Auswertung bisher noch nicht einheitlich festgesetzt ist, wurde sich an der Auswertungsmethodik der klassischen Ethnografie orientiert (Ameli 2021, 158). Dementsprechend wurde hier das Kodierparadigma der Grounded Theory zur Auswertung des ethnografischen Protokolls angewendet (offenes, axiales, selektives Kodieren) (Böhm 2010, 477ff). Setting Pädagogisch ausgerichtete Kinderreitschule (siehe Abgrenzungen Pülschen, 2018) Situationen Pflege und Vorbereitung der Pferde für die Reiteinheit Zwei Reiteinheiten Zielpersonen 9 Kinder (4-12 Jahre) Eingesetzte Pferde Shetlandpony (Stute, 16 Jahre, seit 1,5 Jahren im Einsatz) Islandpferd (Stute, 8 Jahre, seit 1 Jahr im Einsatz) Welsh-A Pony (Wallach, 15 Jahre, seit 2 Jahren im Einsatz) Welsh-A Pony (Stute, 8 Jahre, seit 3 Jahren im Einsatz) Beobachtungszeitraum Einmal zwei Stunden Beobachtungsstandort A) Sitzplatz in der Stallgasse mit uneingeschränktem Blick auf das angebundene Pferd und die Kinder (Abstand circa 3 m) B) in der Mitte der Halle hinter der durchführenden Fachkraft Tab. 1: Untersuchungssetting (eigene Darstellung) Die Grounded Theory, entwickelt von Anselm Strauss und Barney Glaser im Jahr 1967, lässt sich als gegenstandsbegründete Theorie übersetzen und hilft, geeignete Erklärungen für auf empirischer Basis untersuchte soziale Phänomene zu finden (Böhm, 2010, 475 ff). Grounded Theory Pflug, Braun - Pferdegestützte Interventionen aus Sicht der Pferde mup 1|2025 | 9 1. Offenes Kodieren: Stellen von diversen W-Fragen an das Datenmaterial, z. B.: ■ „Was? “ (worum geht es? ), ■ „Wer? “ (welche Akteure sind beteiligt? ), ■ „Wie? “ (welche Aspekte werden gezeigt/ nicht gezeigt? ) und ■ „Wozu? “ (zu welchem Zweck? ). Daraus wurden zahlreiche Codes generiert, wie z. B. Blinzeln, Kauen, Abwenden, Teilnahmslosigkeit, Gähnen, Anspannung oder Streicheln, Putzen, Auftrensen, Aufsteigen. Diese Codes wurden zusammengefasst in sogenannte Konzepte, wie z. B. Handlungen der Kinder. 2. Axiales Kodieren: Herstellung von Beziehungen in den identifizierten Konzepten: ■ ursächliche Bedingungen (ursprünglicher Grund des Phänomens), ■ Kontext und intervenierende Bedingungen (Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen des Phänomens), ■ Konsequenzen (Folgen des dargestellten Phänomens), ■ Handlungsstrategien (Handlungen der betrachteten Akteure). Daraus entstanden z. B. folgende Kategorien wie „sichtbare Merkmale Pferd (Mimik & Körpersprache)“. 3. Selektives Kodieren: Bestimmen einer Kernkategorie basierend auf allen bereits erarbeiteten und analysierten Kategorien (Finden der Kategorie, die durch ihre umfassenden Verbindungen mit allen Kategorien bzw. durch ihre Relevanz im gesamten Material im Mittelpunkt steht). Deskriptive Ergebnisdarstellung und Interpretation Die Ergebnisse der Auswertung der teilnehmenden Beobachtungen zeigen, dass die Pferde in den Interaktionen mit den Zielpersonen in den PGI verschiedene Verhaltensweisen zeigen, die sich basierend auf Neugebauer und Neugebauer (2020) in den weiteren Kontext von Stress und Unwohlsein einordnen lassen können. Folgend werden die beobachteten und geclusterten Verhaltensweisen tabellarisch dargestellt (s. Tabelle 2). Zur besseren Übersicht werden diese Settings (Pflegesituation und Reitsituation) getrennt vorgestellt sowie das komplexe Ausdrucksverhalten der Pferde in die Bereiche „Mimik“, „Gestik / Körperhaltung“ sowie „Gesamteindruck / Sonstiges“ eingeteilt. Die Diskussion der Ergebnisse erfolgt im nächsten Abschnitt. Die Ergebnisse der durchgeführten Beobachtungen zeigen insgesamt, dass bei allen vier Pferden während des Beobachtungszeitraums verhaltensbezogene Anzeichen des Unwohlseins in der Interaktion mit den Zielpersonen auftraten. Diese lassen sich basierend auf dem Nachschlagewerk „Lexikon der Pferdesprache“ von Neugebauer und Neugebauer (2020) noch tiefer einordnen und interpretieren. Zwei der Pferde, das Shetlandpony als auch das Islandpferd, zeigten sich im Beobachtungszeitraum im Rahmen des Putzens auffallend teilnahms- und bewegungslos. Es erfolgte bei beiden Pferden wenig bis keine Reaktion auf Außenreize aus der Umwelt, ihr Ausdrucksverhalten (z. B. Ohrenspiel, Kopfbewegung) war reduziert, der Blick war nach innen gerichtet oder die Augen geschlossen, der Hals und Kopf befanden sich häufig unterhalb der Rückenlinie. Dieses Verhalten der Pferde kann für einen depressionsartigen Zustand sprechen (Neugebauer / Neugebauer 2020, 68; siehe auch Fureix et al. 2012). Hinzu kam beim Shetlandpony, dass die Ohren durchweg seitlich herabhingen, was auf Erschöpfung hindeuten kann (siehe Abbildung 2). Auffallend bei dieser Stute war auch ihr häufiges Blinzeln im direkten Kontakt mit Kindern, was auch mit Blick auf die 10 | mup 1|2025 Pflug, Braun - Pferdegestützte Interventionen aus Sicht der Pferde Pferd Setting Nonverbale Kommunikationsebene Beobachtetes Verhalten Shetlandpony Stute Beim Putzen Mimik Augen meist geschlossen, Ohren seitlich herabhängend, meist reaktionslos, angelegte Ohren bei direktem Kontakt mit Kindern, gekräuselte Oberlippe / Nüstern, angespannte Lippen, schlaffe Augenlider Gestik, Körpersprache Oft bewegungslos, hängender Kopf unterhalb der Horizontalen der Rückenlinie, häufiges Schütteln, Hautzucken, Scheuern der Nase an Anbindestange, wiederholtes Stampfen mit Vorderbein Gesamteindruck / Sonstiges Wirkt abwesend, angespannte Mimik Beim Reiten Mimik Nach innen gerichteter Blick, geblähte Nüstern, Ohren seitlich herabhängend Gestik, Körpersprache Staksiger Gang, kurztretende, langsame, wankende und abgehackte Bewegungsabläufe, ununterbrochenes Schweifschlagen zwischen die Beine, Einklemmen des Schweifes Gesamteindruck / Sonstiges Wirkt abwesend Islandpferd Stute Beim Putzen Mimik Oft bewegungslos, angelegte Ohren, fast geschlossene Augen, nach hinten gerichtete Ohren, angelegte Ohren, hochgezogene Nüstern, Augenform dreieckig, deutlich sichtbare Falten über Auge, spitz hervortretendes Kinn, auffallend häufig leere Kau- und Leckbewegungen Gestik, Körpersprache Wendet Kopf und Hals ab, hängender Kopf unterhalb der Horizontalen der Rückenlinie, ständiges Gähnen, Schubsen der Kinder bei Kontaktaufnahme am Kopf/ Hals Gesamteindruck / Sonstiges Wirkt abwesend und erschöpft Beim Reiten Mimik Angelegte Ohren, angespanntes Maul, spitzes Kinn, Augen geweitet und dreieckig geformt, Falten über den Augen, Nüstern geweitet, Nüsternrand erkennbar, stark geweitete und hochgezogene Nüstern, spitze Oberlippe, sofortiges sehr starkes Kauen bei leichter Zügelspannung Gestik, Körpersprache Wiederkehrendes Anhalten und Verweigern des Vorwärtsgehens, Schweifschlagen beim Antreiben Gesamteindruck / Sonstiges Wirkt unwillig und verweigernd, angespannte und starre Mimik Welsh-A Wallach Beim Putzen Mimik stark hochgezogene Nüstern mit deutlicher Faltenbildung, angelegte Ohren, angespanntes Maul mit deutlichen Querfalten auf den Lippen, feste Kaumuskulatur, aufeinandergepresste Lippen, hervortretendes Schläfenbein, weit geöffnete Augen Gestik, Körpersprache Schnappen mit Zähnen / weit geöffnetem Maul nach Kind, hektisches, schnelles Kauen an Gegenständen Gesamteindruck / Sonstiges Wirkt unwillig und abwehrend beschriebene Mimik zeigt sich besonders, wenn die Zielperson von links herantritt Beim Reiten Außerhalb des Beobachtungszeitraums Welsh-A Stute Beim Putzen Mimik Hochgezogene, geblähte Nüstern mit Faltenbildung, Maulwinkel zeigen nach unten, Oberlippe gespitzt, weit geöffnete Augen Gestik, Körpersprache Verweigern des Hufegebens durch Ausweichen und Drehen der Hinterhand und Heben der Hinterbeine Gesamteindruck / Sonstiges Wirkt unsicher bis ängstlich Beim Reiten Außerhalb des Beobachtungszeitraums Tab. 2: Deskription der Ergebnisse der Kernkategorie „Verhalten Pferd“ (eigene Darstellung) Pflug, Braun - Pferdegestützte Interventionen aus Sicht der Pferde mup 1|2025 | 11 anderen Verhaltensweisen auf ein Schmerzgeschehen hinweisen kann (Neugebauer / Neugebauer 2020, 57), ebenso wie ihr staksiger und wankender Gang in den Reitsituationen, einschließlich des Schweifschlagens unter sich und das Einklemmen desselben. Neben diesen eher „passiven“ Ausdrucksformen zeigen die Pferde auch deutliches Abwehrbeziehungsweise Drohverhalten in den Putzsituationen, die für Unwohlsein oder Unmut in den Situationen sprechen. Die Islandpferd-Stute schubste die Zielperson mit ihrem Kopf, der Welsh-A Wallach versuchte nach dieser mit offenem Maul zu schnappen, während die Welsh-A Stute beim Versuch des Hufeauskratzens der Hinterhufe sich hin und her drehte und dann durch Heben des Hinterbeins zu Treten drohte. Auch die bei den Welsh-A Ponys in der Tabelle aufgeführten beobachteten körpersprachlichen Signale sprechen für ein deutliches Unwohlsein und für ein mittleres bis höheres Erregungsniveau (Neugebauer / Neugebauer 2020, 130 f, 195 f). Auffällig war bei dem Wallach, dass die körpersprachlichen Signale besonders deutlich wurden, wenn die Zielperson von links an ihn herantrat, was z. B. für eine Schmerz- oder andere unangenehme Reizerwartung sprechen kann. Dieses situative Auslösen von bestimmten Verhaltensweisen zeigt sich auch bei der Islandpferd-Stute, die besonders im Kontext des Auftrensens ein ständiges und wiederholtes Gähnen zeigt, was in diesem Kontext nicht als Entspannung bewertet werden, sondern hier als Übersprungshandlung eingeordnet werden kann, die Pferde zeigen, wenn sie bestimmte unangenehme Zustände nicht ändern oder ihnen entfliehen können (Neugebauer / Neugebauer 2020, 94). Ein Vergleich der vier Pferde hinsichtlich ihres Ausdruckverhaltens lässt deutliche Unterschiede zwischen den Tieren erkennen. Während zwei der Pferde in der Tendenz eher als teilnahmslos und apathisch einzustufen sind, zeigen die anderen beiden Pferde deutlich mehr Abwehr- und aktives Drohverhalten. Budzyńska (2014) unterscheidet diesbezüglich zwischen internalisierenden und externalisierenden Stresstypen bei Pferden. In der hier vorgenommenen Forschung sind die Islandpferd- und Shetlandpony-Stute eher den internalisierenden Stresstypen zuzuordnen und wirken nach außen „ruhiger“, während die anderen beiden Typen als Mischtypen zu bewerten sind bzw. eher externalisieren (siehe auch Wendt 2015, 17 ff). Diskussion der Ergebnisse Die basierend auf Neugebauer und Neugebauer (2020) vorgenommene Interpretation des beobachteten Ausdrucksverhaltens in den Mensch-Pferd- Interaktionen des reitpädagogischen Settings zeigt, wie klein und subtil die Kommunikationssignale der Pferde im Kontext von Stress und Unwohlsein sein können, sodass die Schulung der Beobachtungskompetenzen seitens pferdegestützt arbeitender Fachkräfte eine hohe Bedeutung einnehmen muss, um tierschutzkonform zu arbeiten. Dieser Aspekt zeigt sich besonders vor dem Hintergrund relevant, dass sich der Mensch als vor allem verbal kommunizierend erst an die hohe Feinheit der nonverbalen Kommunikation des Pferdes gewöhnen muss. Gleichzeitig ist die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit grundsätzlich begrenzt, sodass die Komplexität der Mensch-Pferd-Interaktion nicht immer in ihrer Gänze erfassbar ist (siehe Ameli et al. 2023), zumal die einzelnen körpersprachlichen Signale nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, sondern immer im Zusammenhang mit anderen körpersprachlichen Signalen gesehen werden müssen. Als hilfreich zur umfassenden Analyse werden Videoaufnahmen der Mensch- Pferd-Interaktionen bewertet, die nachfolgend ausgewertet werden können (siehe Ameli et al. 2023). Die subtile Kommunikation des Pferdes erfordert eine hohe Beobachtungskompetenz der Fachkraft. 12 | mup 1|2025 Pflug, Braun - Pferdegestützte Interventionen aus Sicht der Pferde Die hier vorgenommene Interpretation erhebt explizit keinen Anspruch auf Vollständigkeit, das heißt, es wurden nicht alle einzelnen in der Tabelle aufgeführten Signale im Rahmen dieses Artikels interpretiert, sondern sich auf die besonders deutlichen bzw. auf die von mehreren Pferden gezeigten Signale fokussiert, sodass Tendenzen abgeleitet wurden. Zudem stellt die Beobachtung eine Momentaufnahme der Situation dar. Nicht beantwortet werden kann dementsprechend die Frage danach, ob die Pferde die beschriebenen und analysierten Verhaltensweisen auch an anderen Tagen mit anderen Zielpersonen zeigen. Es ist aber zu spekulieren, dass das erfasste Ausdrucksverhalten auch zu einem weiteren Beobachtungszeitraum so zu erkennen wäre, da das deutliche „Abschalten“ der Pferde eher als eine langfristige Coping-Strategie einzuordnen ist. Für die Praxis wäre dementsprechend abzuleiten, dass besonders die Pferde in den Blick zu nehmen sind, die in der Mensch-Pferd-Interaktion eher ruhig, evtl. schon teilnahmslos wirken und dadurch für den Menschen auf den ersten Blick möglicherweise „entspannt“ aussehen. Hilfreich könnte hier auch eine detaillierte Beobachtung der Kommunikationssignale der eingesetzten Pferde in verschiedenen Situationen sein, wie z. B. intraspezifisch in der harmonischen Herde beim Entspannen, beim gemeinsamen Bewegen / Fressen oder auch in den Interaktionen mit dem Menschen beim Putzen, bei der Bodenarbeit oder beim Reiten, um mögliche „kritische“ Verhaltensweisen frühzeitig zu erkennen. Des Weiteren könnte die reflexive Beobachtung der Interaktionen mit dem Pferd sinnvoll sein, zum Beispiel: ■ Kommt das Pferd auf mich zu, wenn ich mit der Zielgruppe auf die Koppel komme? ■ Zeigt das Pferd in Putzsituationen das sogenannte Putzgesicht oder bewegt es sich hin und her, um bestimmten Berührungen zu entgehen? ■ Bleibt das Pferd nur stehen, wenn es angebunden ist? ■ Welche Kommunikationssignale zeigt es beim Anlegen der Ausrüstung (z. B. Sattel)? ■ Wie reagiert das Pferd auf die Interaktionen mit der Zielgruppe? ■ Welche Unterschiede in der Kommunikation des Pferdes sind bei den verschiedenen Aktivitäten der pferdegestützten Arbeit zu erkennen (z. B. unterschiedliche Orte der Durchführung, verschiedene Zielgruppen)? Insgesamt zeigen die vorliegenden Ergebnisse, dass sich die eingesetzten Pferde in den Mensch- Pferd-Interaktionen aus ethologischer Sicht sich nicht in einem Zustand der „körperlichen und seelischen Harmonie“ (Hirt et al. 2023, 142) mit und in der Umwelt befanden, das heißt, dass das Wohlbefinden möglicherweise beeinträchtigt war und sich dementsprechend deutliche Fragen der Gewährleistung des Tierschutzes in PGI anschließen. Dieser Befund ist nicht im Sinne einer allgemeinen Übertragung auf alle PGI zu interpretieren oder als allgemeingültig zu bewerten, zumal der Forschungsfokus explizit auf möglichen Anzeichen von Unwohlsein lag, er zeigt aber, dass Mensch-Pferd-Interaktionen auch aus Sicht der Pferde neu betrachtet werden müssen. Wünschenswert wären Folgeuntersuchungen, welche mit größeren Stichproben arbeiten. Auch Langzeitstudien, in welchen die Auswirkungen von dauerhaftem Stress bei Pferden im Rahmen von PGI untersucht werden, wären von Interesse. Bezogen auf die Einordnung der Ergebnisse ist noch kritisch festzuhalten, dass durch das hier beschriebene Vorgehen der Analyse und Bewertung von Pferdeverhalten versucht wird, das individuelle und subjektive Befinden der Pferde aus der Perspektive des Menschen zu beurteilen. Die Speziesgrenzen bleiben weiterhin bestehen. Das heißt, der Mensch kann nie in Gänze nachvollziehen, wie das jeweilige Tierindividuum die Situation empfindet und bewertet. Nichtsdestotrotz wird die Annäherung an das individuelle und subjektive Befinden von Tieren als notwendig Pflug, Braun - Pferdegestützte Interventionen aus Sicht der Pferde mup 1|2025 | 13 erachtet, um Tierschutz, auch in den PGI, zu gewährleisten. Wenn Anzeichen von Unwohlsein bei Pferden identifiziert werden können, ist dies ein erster Schritt, um die subjektive Erfahrung von eingesetzten Pferden bewerten zu können und darauf aufbauend in weiteren Schritten mögliche Stressbelastungen minimieren zu können. Hinsichtlich des gewählten Forschungsdesigns ist noch anzumerken, dass sich die Multispezies-Ethnografie mit der teilnehmenden Beobachtung als Methode zur Erfassung des nonverbalen Ausdruckverhaltens der Pferde gut eignete, um die Mensch-Tier-Interaktionen in den PGI mit Blick auf das Pferd zu untersuchen. Auch wenn es sich um eine kleine Stichprobe handelte, konnte durch den ethnografischen Forschungszugang eine umfassende Analyse der einzelnen Fälle vorgenommen werden (siehe auch Breidenstein et al. 2015, 52) und dadurch die Körpersprache der Pferde in der Interspezies-Interaktion detailreich erfasst werden. Diese Erfassung der körpersprachlichen Signale war jedoch an besondere Kompetenzen der forschenden Person geknüpft. Zwar ist es in der Ethnografie- Forschung üblich, dass generelles Wissen und Hintergrundwissen der forschenden Person mit in die Erhebung und vor allem Auswertung einfließen, jedoch sind hier besondere Beobachtungskompetenzen notwendig, um die teilweise sehr feine Körpersprache der Pferde wahrzunehmen, was eine Replizierbarkeit erschwert. Die hier vorgenommene Unterstützung der situativen menschlichen Wahrnehmung durch Videoaufnahmen war unabdingbar, was die eingangs beschriebene Notwendigkeit von Videoaufnahmen in der Praxis ebenso verdeutlicht. Die Nutzung des Nachschlagewerks von Neugebauer und Neugebauer (2020) zur Einordnung und Interpretation der beobachteten Verhaltensweisen in den Mensch-Pferd-Interaktionen war im Rahmen dieser Pilotierung zielführend für eine erste Analyse der verhaltensbezogenen Stressanzeichen der eingesetzten Pferde; eine Ergänzung der Interpretation durch weitere einschlägige Werke mit spezifischen Ethogrammen, z. B. auch im Kontext von Schmerzen (siehe z. B. Dalla Costa et al. 2014; Fureix et al. 2012; Torcivia / McDonnell 2021; Wathan et al. 2015), könnte die vorgenommen Analyse noch weiter vertiefen. Trotzdem gelingt es bereits in dieser Pilotierung, die Relevanz der Betrachtung des Pferdes in Interaktionen der PGI im Kontext des Tierschutzes aufzuzeigen. Fazit und Schlussfolgerungen (für die Praxis) Das Ziel der Pilotierungsstudie war es zu untersuchen, welche verhaltensbezogene Anzeichen des Unwohlseins sich bei Pferden im pädagogischen Einsatz in der Interaktion mit Kindern beobachten lassen. Die Ergebnisse im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung zeigen, dass die beobachteten Pferde verschiedene Signale in der Interaktion zeigen, die für ein akutes bzw. länger anhaltendes Stressgeschehen in den PGI sprechen, wie z. B. die Bewegungslosigkeit und fehlende Reaktion auf Umweltreize oder das aktive und defensive Drohen der Pferde. Der Zustand physischer und seelischer Harmonie der Tiere im Sinne des Tierschutzgesetzes scheint dementsprechend nicht durchgehend gewährleistet. Daraus folgend plädieren wir für eine weitere Erforschung pferdegestützter Settings aus Sicht der Pferde. Als Schlussfolgerung der hier getätigten Forschung für die Praxis ist festzuhalten, dass pferdegestützt arbeitenden Fachkräfte das Ausdrucksverhalten ihrer eingesetzten Pferde lesen und richtig einschätzen können müssen, um verhaltensbezogene Anzeichen von Stress und Unwohlsein von Pferden während des Einsatzes zu identifizieren. Dies dient auf der einen Seite der Gewährleistung des Tierschutzes und auf der Mensch-Pferd-Interaktionen sollten auch aus Sicht des Pferdes betrachtet werden. 14 | mup 1|2025 Pflug, Braun - Pferdegestützte Interventionen aus Sicht der Pferde anderen Seite dem Schutz der Menschen. Hintergrund ist, dass Stress bei den Pferden auch für den Menschen gefährliche Reaktionen auslösen kann, wie auch hier das Schubsen der Zielperson, was zu Verletzungen führen kann. Die pferdegestützte Fachkraft mit ihrer Beobachtungskompetenz und ihrem Fachwissen bezogen auf Pferde nimmt dementsprechend eine zentrale Rolle für das tierschutzkonforme Gelingen der PGI ein. Zum Fachwissen gehört selbstredend auch ein vertieftes Wissen zu artspezifischen Bedürfnissen, was sich dann z. B. in artgemäßer und verhaltensgerechter Haltung sowie adäquater Pflege (z. B. tierärztliche Kontrollen, Hufpflege) der eingesetzten Pferde widerspiegelt. Um den Tierschutz in der direkten Interaktion von Zielpersonen und Pferd praktisch in den Blick zu nehmen, können die Fragen und Empfehlungen im Kasten links hilfreich sein. Perspektivisch vorzuschlagen wäre zudem eine künftige Ausarbeitung von Handlungsempfehlungen für pferdegestützt arbeitende Fachkräfte, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Ausdrucksverhalten von Pferden basiert. Dazu müssen deutlich mehr Untersuchungen zu den ursächlichen und auslösenden Faktoren von Stress und Unwohlsein bei Pferden in den Mensch-Pferd-Interaktionen in den PGI durchgeführt werden, um noch aussagekräftigere Ergebnisse zu erzielen und weiterführend den Einsatz der Pferde in den PGI im Sinne des Tierschutzes anzupassen. Literatur ■ Arrazola, A., Merkies, K. (2020): Effect of human attachment style on horse behaviour and physiology during equine-assisted activities. A pilot study. Animals 10 (7), Article 1156, http: / / dx.doi.org / 10.3390 / ani10071156 ■ Ameli, K. (2015): Die Professionalisierung tiergestützter Dienstleistungen. Von der Weiterbildung zum eigenständigen Beruf. 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Pause, Methodenwechsel, geringere Einsatzzeiten) Fragen Pflug, Braun - Pferdegestützte Interventionen aus Sicht der Pferde mup 1|2025 | 15 bei Kindern: Ein systematisches Review. Mensch und Pferd international 12 (2), 48-63, http: / / dx.doi.org / 10.2378 / mup2020.art08d ■ Beetz, A., Uvnäs-Moberg, K., Julius, H., Kotrschal, K. (2012): Psychosocial and psychophysiological effects of human-animal interactions. The possible role of oxytocin. Frontiers in Psychology 3, Article 234. http: / / dx.doi.org / 10.3389 / fp syg.2012.00234 ■ Böhm, A. (2010): Theoretisches Codieren: Textanalyse in der Grounded Theory. In: U. Flick, E. von Kardorff, I. Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 8. Aufl. Rowohlt, Reinbek, 475-485 ■ Bohnet, W. (2009): Die Bedürfnisse der Tiere in der Mensch-Tier-Beziehung. In: C. Otterstedt, M. Rosenberger (Hrsg.): Gefährten-Konkurrenten-Verwandte. Die Mensch-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs. 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Pflug M. A. Pädagogin, Tierpsychologin (sgd), selbstständig im Bereich der tiergestützten Pädagogik mit ihren Pferden und Hunden. Arbeitsschwerpunkte: Einbezug der Kinder in die Bereiche artgerechte Haltung, Ausdrucksverhalten und Tierschutz, tiergestützte pädagogische Arbeit mit Pferden und Hunden, die Stärkung sozial-emotionaler Kompetenzen von Kindern und die Förderung von Resilienz. Theresa F. Braun Förderschulpädagogin, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Förderpädagogik und Inklusive Bildung an der Justus-Liebig-Universität Gießen, promoviert zum Einsatz von Pferden in pädagogischen und therapeutischen Kontexten unter besonderer Berücksichtigung der Mensch-Pferd-Interaktion aus mikrosoziologischen und ethologischen Perspektiven, in verschiedenen Weiterbildungen im Kontext der tiergestützten Interventionen als Fachdozentin tätig, seit 2021 „Pferdegestützte Therapeutin IVK“. Arbeitsschwerpunkte: tierschutzkonformer Einsatz von Tieren innerhalb der tiergestützten Pädagogik in enger Zusammenarbeit mit der Veterinärmedizin, Resilienz und Resilienzförderung, außerschulische Lernorte, Erlebnispädagogik, Beratung sowie allgemeine Grundlagen zur Lernförderung bei Kindern mit Lernschwierigkeiten / -beeinträchtigungen (im inklusiven Unterricht). Anschriften Laura A.-M. Pflug · KonzeptTier@gmx.de · Tel.: 0176/ 87 39 70 83 Theresa F. Braun· Karl-Glöckner-Straße 21 · 35394 Gießen theresa.f.braun@erziehung.uni-giessen.de
