mensch & pferd international
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1867-6456
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/mup2025.art09d
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Forum: Erfahrungsberichte
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2025
Chantal Schweizer-Zollet
Olivia Derungs Risch
Im Rahmen der Weiterbildung zur Reittherapeutin bei der Schweizer Gruppe für therapeutisches Reiten hatte ich die Möglichkeit, nicht nur fachlich zu lernen, sondern durch intensive Selbsterfahrungsphasen Einsichten in die Bedeutung der Einzeltherapie zu gewinnen.
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64 | mup 2|2025|64-68|© Ernst Reinhardt Verlag, DOI 10.2378 / mup2025.art09d Chantal Schweizer-Zollet, Olivia Derungs Risch Forum Erfahrungsberichte Teil 1: Der Wert der Einzeltherapie im therapeutischen Reiten Chantal Schweizer-Zollet Im Rahmen der Weiterbildung zur Reittherapeutin bei der Schweizer Gruppe für therapeutisches Reiten hatte ich die Möglichkeit, nicht nur fachlich zu lernen, sondern durch intensive Selbsterfahrungsphasen Einsichten in die Bedeutung der Einzeltherapie zu gewinnen. Die therapeutische Arbeit mit dem Pferd ist ein wertvoller Ansatz, der auf vielfältige Weise die Entwicklung von Herz, Hand und Verstand fördert sowie stille und berührende Momente ermöglicht. Besonders die Einzeltherapie im Kontext der emotionalen Kontaktaufnahme hat sich für mich als wertvoll erwiesen. Durch die Selbsterfahrung während der Weiterbildung wurde mir bewusst, wie entscheidend der individuelle Fokus auf die Bedürfnisse der einzelnen KlientInnen für den therapeutischen Erfolg ist. Der direkte Kontakt: Die Beziehung zwischen Mensch und Pferd Die Einzeltherapie hat den Vorteil, dass der / die KlientIn die ungeteilte Aufmerksamkeit sowohl der Therapeutin / des Therapeuten als auch des Pferdes erhält. Während meiner Selbsterfahrung hatte ich die Gelegenheit, diese Interaktion am eigenen Körper zu erleben. In der Einzeltherapie wird der Mensch nicht nur körperlich, sondern auch emotional von der Präsenz des Pferdes getragen. Das Pferd spiegelt unsere Emotionen und unsere Körpersprache auf eine feine und unmittelbare Weise wider, was in einer Gruppentherapie oft nicht in diesem Ausmaß erlebbar ist. Abb. 1: Sich ausruhen am Pferd - Nähe zulassen, Wärme spüren, Bindung aufbauen Forum: Schweizer-Zollet, Derungs Risch - Erfahrungsberichte mup 2|2025 | 65 Besonders in vielschichtig emotionalen Momenten ist es hilfreich, dass TherapeutIn und Pferd ausschließlich auf die Signale der Klientin / des Klienten reagieren und sich der/ die TherapeutIn auf die zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Ressourcen konzentrieren kann. Diese Art der Interaktion schafft eine einzigartige Verbindung, in der Vertrauen und Verständnis wachsen können. Individuelle Anpassung: Therapie, die auf die Bedürfnisse eingeht Ein weiterer Vorteil, der mir während der Ausbildungstage bewusst wurde, ist die Möglichkeit, das therapeutische Vorgehen vollständig auf die Bedürfnisse der KlientInnen abzustimmen. Im Verlauf der Selbsterfahrungsphase erkannte ich, wie differenziert die Herangehensweise der Therapeutin / des Therapeuten gestaltet werden kann, wenn die gesamte Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Klientin / einen Klienten gerichtet ist. Während in der Gruppentherapie ein allgemeiner Plan verfolgt werden muss, der bestmöglich auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Teilnehmenden ausgerichtet ist, kann die Einzeltherapie flexibel auf Veränderungen im Verhalten oder in den Gefühlen der Klientin / des Klienten eingehen. Die Therapeutin / der Therapeut passt das Tempo und die Intensität der Lektion der Tagesverfassung der Klientin / des Klienten an. Es besteht jederzeit die Möglichkeit, innezuhalten, ohne dass dies den Ablauf der Lektion durcheinanderbringen würde. In der Einzeltherapie kann ich als Therapeutin individuell auf die (gemeinsam definierten) Ziele eingehen, an Erfolge anknüpfen und Übungen anbieten, die zur Situation passen, die sich mir im Moment bietet. Von dieser Feinjustierung auf persönlicher Ebene erhoffe ich mir in meiner Arbeit im heilpädagogischen Reiten den größten therapeutischen Effekt. Tiefer gehen: Die emotionale Sicherheit der Einzeltherapie Durch die Einzeltherapie wurde mir deutlich, wie wichtig es ist, einen Raum zu schaffen, in dem sich mein / meine KlientIn sowie mein Pferd sicher genug fühlen, um tief in emotionale Prozesse einzutauchen. Das therapeutische Reiten bietet an sich schon eine beruhigende und vertrauensvolle Atmosphäre, aber die Möglichkeit, sich in der Einzeltherapie voll und ganz zu öffnen, war für mich von unschätzbarem Wert. Die KlientInnen müssen sich nicht in einer Gruppe beweisen oder rechtfertigen. Die Einheit von KlientIn, TherapeutIn und Pferd Die konkrete Umsetzung des Beziehungsaufbaus oder später der Beziehungsvertiefung beginnt in jeder Lektion mit der emotionalen Kontaktaufnahme. Das Pferd wird mit allen (verfügbaren) Sinnen wahrgenommen und bedient die Grundbedürfnisse nach Nähe, Wärme, Liebe, Angenommensein und Körperkontakt. Die nachfolgend kurz beschriebenen Phasen nach Gäng (2015, 80 ff) der emotionalen Kontaktaufnahme geschehen in Ruhe an einem ungestörten Ort, in dem sich KlientIn und Pferd frei bewegen können. Phase 1: vom Boden aus beobachten, anlocken, begrüßen, abstreichen, streicheln, berühren, be-greifen des Pferdekörpers, aufhalftern, führen, füttern Phase 2: das Aufsteigen über die Treppe oder mithilfe der Reitpädagogin / Reittherapeutin Phase 3: auf dem stehenden Pferd verschiedene Perspektiven genießen, spüren, verschiedene Sitz- und Liegepositionen einnehmen, Pferd beobachten, liebkosen, wahrnehmen Phase 4: auf dem Pferd im Schritt Bewegung(en) erfahren, Gefühl des „Getragenwerdens“ erleben, Jahreszeiten, Wetter und Natur wahrnehmen Phase 5: auf dem Erlebnispfad verschiedene Bodenbeschaffenheiten, Unebenheiten, Biegungen, Verengungen, Treppen, Nischen, Hindernisse, Tunnel usw. erleben Die emotionale Kontaktaufnahme in der Einzeltherapie 66 | mup 2|2025 Forum: Schweizer-Zollet, Derungs Risch - Erfahrungsberichte wird zur Symbiose - ein Zusammentreffen unterschiedlicher Individuen zum gegenseitigen Nutzen bzw. in gegenseitiger positiver Abhängigkeit. Die Selbsterfahrung zeigte mir, dass emotionale Prozesse in einem sicheren, intimen Rahmen leicht in Gang gesetzt werden können. Das Pferd als therapeutischer Partner spielt dabei eine zentrale Rolle. Es schafft durch nonverbale Kommunikation eine emotionale Sicherheit, die es ermöglicht, Themen anzusprechen, die in anderen Kontexten möglicherweise nicht so leicht zugänglich wären. Fazit: Die Einzeltherapie als Schlüssel zum Beziehungsaufbau Die Weiterbildung bei der Schweizer Gruppe für therapeutisches Reiten hat mir auf eindrückliche Weise gezeigt, wie wertvoll die Einzeltherapie im therapeutischen Reiten ist. Durch die intensive Selbsterfahrung wurde mir bewusst, dass diese Form der Therapie es ermöglicht, vielschichtige emotionale Themen zu bearbeiten, eine individuelle Anpassung des therapeutischen Vorgehens zu erleben und eine direkte, ungeteilte Interaktion zwischen KlientIn, Pferd und TherapeutIn zu erfahren. Für mich ist die Einzeltherapie im therapeutischen Reiten ein essenzieller Schlüssel zum Beziehungsaufbau und zur Beziehungsvertiefung. Abb. 2: Wiegen zu zweit als gemeinsamer, ruhiger Moment: Was wirklich bewegt, geht unter die Haut. Forum: Schweizer-Zollet, Derungs Risch - Erfahrungsberichte mup 2|2025 | 67 Teil 2: Der Wert der positiven Gruppendynamik während der Ausbildung Olivia Derungs Risch Im Rahmen der Weiterbildung zur Reitpädagogin bei der Schweizer Gruppe für therapeutisches Reiten lernten sich sieben Frauen aus unterschiedlichsten Berufsfeldern kennen und schätzen. Aufgrund der intensiven Selbsterfahrungsphasen im 1. Teil der Ausbildung wurden in unserer Gruppe in einem sicheren und intimen Rahmen verschiedene emotionale Prozesse in Gang gesetzt. Der erste direkte Kontakt: Die Beziehung zwischen Mensch und Mensch Im Grundlagenkurs Ende August 2024 trafen sich sechs der sieben zukünftigen Reittherapeutinnen bei sonnigem Wetter draußen auf dem Islandpferdegestüt Hohenstein. Eine PR-Beraterin, eine Kommunikationswissenschaftlerin, eine Lehrerin für bildnerisches Gestalten, eine Arbeitspsychologin, eine Fachfrau Betreuung und eine Kinderanwältin lernten sich im Rahmen einer Vorstellungsrunde kennen. Sechs Frauen aus vollkommen verschiedenen Berufen und in unterschiedlichen Lebensphasen erklärten einander, wieso sie mit der Ausbildung zur Reitpädagogin starten möchten. Individuelle Anpassung: Gespräche, die auf die Bedürfnisse eingehen Im Grundlagenkurs bei Lisa Semler lernten wir einander und verschiedene Islandpferde kennen. Jede Teilnehmerin wurde aufgefordert, mit einem freilaufenden Pferd, das einen jeden ansprach, im Roundpen einen gewissen Ablauf zu absolvieren. Die ganze Aufmerksamkeit der anderen Teilnehmerinnen war während dieser Sequenzen auf unsere neue Kollegin und das Pferd gerichtet. Diese Sequenzen zwischen zukünftiger Reittherapeutin und Pferd waren so intensiv, dass die Zuschauerinnen viele bisher unausgesprochene, jedoch vom Pferd klar aufgezeigte Persönlichkeitsmerkmale der Teilnehmerin wahrnehmen konnten. Dies so zu erleben, war sehr eindrücklich für mich. Das Pferd zeigte mir ohne Worte und ohne zu werten, wie sich meine zukünftigen Kolleginnen in gewissen Situationen voraussichtlich verhalten werden. Die Gespräche am Abend beim gemeinsamen Essen vor den gemütlichen Ferienhäusern wurden so bereits tiefer und einige Frauen begannen ihre Lebensgeschichten und Zukunftswünsche zu erzählen. Abb. 3: Gemeinsamer Ausritt in Stille - Getragenwerden ist fühlen, ohne zu sprechen. 68 | mup 2|2025 Forum: Schweizer-Zollet, Derungs Risch - Erfahrungsberichte Tiefer gehen: Die emotionale Sicherheit durch die Selbsterfahrung Die erste Ausbildungssequenz in der Schweiz auf dem Hof von Barbara Gäng legte den Fokus auf die Selbsterfahrung im Bereich der emotionalen Kontaktaufnahme mit dem Pferd. Einerseits versuchten wir uns in den emotionalen Zustand und das Verhalten unserer KlientInnen, die wir während des Praktikums begleiten dürfen, zu versetzen. Anderseits konnten wir uns bei einem geführten Ausritt völlig auf die Bewegungen des Pferdes konzentrieren. Ich konnte mich ganz auf diesen emotionalen Prozess einlassen, da die beruhigende und vertrauensvolle Atmosphäre aufgrund der anwesenden Pferde und der sehr wertschätzenden Stimmung in unserer Ausbildungsgruppe dies ermöglichte. Niemand musste sich beweisen oder rechtfertigen, alle waren offen für die Rückmeldungen der Kolleginnen und Lehrgangsleiterinnen. Auch wir wurden immer mehr zu einer Einheit - ein Zusammentreffen unterschiedlicher Individuen zum gegenseitigen Nutzen bzw. in gegenseitiger positiver Abhängigkeit. Fazit: Der Grundlagenkurs als Schlüssel zum Beziehungsaufbau Der Grundlagenkurs im Gestüt Hohenstein war der Schlüssel für den Beziehungsaufbau in unserer Gruppe. Auch eine weitere Teilnehmerin, die im ersten Teil der Ausbildung in der Schweiz hinzukam, wurde sehr wohlwollend in unserer Gruppe aufgenommen. Die spannende Abwechslung zwischen Theorie und Praxis und speziell die Selbsterfahrungssequenzen mit den Pferden zeigten mir auf, wie sich meine zukünftige Arbeit als Reitpädagogin auf mich auswirken könnte. Meine Erwartungen zum Ausbildungsstart wurden mit vielen positiven Erlebnissen und emotionalen Momenten mehr als erfüllt. Ich freue mich sehr auf das Praktikum und die weiteren Ausbildungssequenzen zusammen mit meinen neuen Kolleginnen aus den unterschiedlichsten Berufsfeldern und den professionellen Ausbilderinnen. Literatur ■ Gäng, M. (Hrsg.) (2015): Heilpädagogisches Reiten und Voltigieren (7. Aufl.). Ernst Reinhardt, München Die Autorinnen Olivia Derungs Risch, lic. iur. Kindesverfahrensvertreterin, Leitung einer Karateschule, in Ausbildung zur Reitpädagogin (SGTR, Schweizer Gruppe Therapeutisches Reiten) Chantal Schweizer-Zollet, lic. rer. soc. Lizentiat in Medien- und Kommunikationswissenschaften, Journalistik und angewandter Psychologie, Tanzlehrerin und engagiert in der Kinder- und Jugendarbeit. In Ausbildung zur Reittherapeutin (SGTR, Schweizer Gruppe Therapeutisches Reiten) Kontakt barbara.gaeng@sgtr.ch
