eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 52/4

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2005
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STEEP - ein bindungstheoretisch und empirisch fundiertes Frühinterventionsprogramm

101
2005
Gerhard J. Suess
Rüdiger Kißgen
STEEP ist ein Frühinterventionsprogramm auf der Grundlage der Bindungstheorie und –forschung, das in einer randomisierten Kontroll-Gruppen-Studie evaluiert wurde. Seine wesentlichen Bestandteile sind eine geradlinige Umsetzung der aus der Minnesota Längsschnitt- Hoch-Risiko-Studie gewonnenen Erkenntnisse in praktisches Handeln, das auf eine Veränderung von internalen Arbeitsmodellen von Bindung ebenso abzielt wie auf die Veränderung der Interaktionsqualität und sozialer Unterstützung. Im Zentrum steht dabei der Einsatz von Video (Seeing is Believing), die bei den zweiwöchentlichen Hausbesuchen unter Hervorhebung von Stärken zusammen mit den Müttern angesehen werden. Hierdurch sollen die Mütter unterstützt werden, effektives und Freude bereitendes Elternverhalten zu entwickeln. Da Interaktionen von internalen Repräsentationen geleitet werden, werden in STEEP die Bindungsvergangenheit und die internalen Arbeitsmodelle von Bindungsbeziehungen und dem eigenen Selbst in einer integrativen und transaktionalen Art und Weise addressiert (Looking back moving forward); mit anderen Worten, die Art und Weise, wie Repräsentationen und elterliches Verhalten sich gegenseitig beeinflussen, rückt in den Fokus. Zweiwöchentlich stattfindende Gruppensitzungen bieten nicht nur Gelegenheit, Fähigkeiten und Gelegenheiten für soziale Unterstützung zu entwickeln, sondern auch, Informationen zu Kindesentwicklung und Erziehung anzubieten. Mehr als die strukturellen Charakteristiken sind die Prinzipien und die generelle Haltung das Herzstück von STEEP, wobei die Betonung von Stärken in Beziehungen und die Bereitstellung einer sicheren Basis innerhalb der therapeutischen/beraterischen Beziehung die bedeutendsten sind.
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STEEP - an Attachmentand Research-based Early Intervention Program Summary: STEEP is an early intervention program wich is based on attachment theory and research and has been evaluated in a randomized controlled study. Its essential parts are a straigth forward conversion of insights from the Minnesota longitudinal study on high risk mothers and their children aiming at changing internal working models as well as quality of interaction and social support. Core to STEEP is using Video (Seeing is Believing) in biweekly homevisits and watching them together with the mothers, focusing on their strenghts and supporting them to develop “effective and enjoyable parenting”. Since interactions are guided by inner representations, attachment history and inner working models of attachment relationships and self are addressed in STEEP in an integrative, transactional way (Looking back, moving forward). That means, adressing the way how representations and parental care are mutually transforming each other. Biweekly group sessions offer not only opportunities to build social support but also to provide information about child development and parenting. More important than its structural characteristics are the outlined core principals and the general attitude of the STEEP program. The most important is the focus on strenghts in relationships and in providing a secure base within the therapeutic relationship. Keywords: STEEP, attachment based intervention, early intervention, research based intervention, transactional intervention Zusammenfassung: STEEP ist ein Frühinterventionsprogramm auf der Grundlage der Bindungstheorie und -forschung, das in einer randomisierten Kontroll-Gruppen-Studie evaluiert wurde. Seine wesentlichen Bestandteile sind eine geradlinige Umsetzung der aus der Minnesota Längsschnitt-Hoch-Risiko-Studie gewonnenen Erkenntnisse in praktisches Handeln, das auf eine Veränderung von internalen Arbeitsmodellen von Bindung ebenso abzielt wie auf die Veränderung der Interaktionsqualität und sozialer Unterstützung. Im Zentrum steht dabei der Einsatz von Video (Seeing is Believing), die bei den zweiwöchentlichen Hausbesuchen unter Hervorhebung von Stärken zusammen mit den Müttern angesehen werden. Hierdurch sollen die Mütter unterstützt werden, effektives und Freude bereitendes Elternverhalten zu entwickeln. Da Interaktionen von internalen Repräsentationen geleitet werden, werden in STEEP die Bindungsvergangenheit und die internalen Arbeitsmodelle von Bindungsbeziehungen und dem eigenen Selbst in einer integrativen und transaktionalen Art und Weise addressiert (Looking back moving forward); mit anderen Worten, die Art und Weise, wie Repräsentationen und elterliches Verhalten sich gegenseitig beeinflussen, rückt in den Fokus. Zweiwöchentlich stattfindende Gruppensitzungen bieten nicht nur Gelegenheit, Fähigkeiten und Gelegenheiten für soziale Unterstützung zu entwickeln, sondern auch, Informationen zu Kindesentwicklung und Erziehung anzubieten. Mehr als die strukturellen Charakteristiken sind die Prinzipien und die generelle Haltung das Herzstück von STEEP, wobei die Betonung von Stärken in Beziehungen und die Bereitstellung einer sicheren Basis innerhalb der therapeutischen/ beraterischen Beziehung die bedeutendsten sind. Schlüsselbegriffe: STEEP, Bindungs-basierte Intervention, Frühintervention, empirisch fundierte Intervention, Transaktionale Intervention ■ Forum STEEP - ein bindungstheoretisch und empirisch fundiertes Frühinterventionsprogramm Gerhard J. Suess Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Fakultät für Soziale Arbeit und Pflege Rüdiger Kißgen Universität zu Köln - Heilpädagogische Fakultät Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2005, 52, 287 - 292 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 288 Gerhard J. Suess, Rüdiger Kißgen Das Frühinterventionsprogramm STEEP TM 1 wurde 1987 von Byron Egeland und Martha Erickson entwickelt, um Mütter aus Hoch-Risiko-Konstellationen in ihrer Elternrolle zum Wohle ihrer Kinder zu unterstützen (Egeland & Erickson, 2004; S. 219). Die Grundidee dazu entstand während der Forschungsarbeiten innerhalb des Minnesota Parent Child Projects (MPCP). Das MPCP ist nicht nur eine der bedeutendsten Längsschnittuntersuchungen innerhalb der Bindungsforschung (Grossmann & Grossmann, 2004, S. 86), sondern auch eine der umfassendsten Längsschnittstudien zum Verständnis normaler und abweichender Entwicklungsverläufe. Die Ergebnisse haben neben den programmatischen Arbeiten von L. Alan Sroufe (u. a. zusammen mit Michael Rutter, 1984) wesentlich zur Entstehung von „Entwicklungspsychopathologie“ als eigenständiger Disziplin beigetragen, die wiederum zahlreiche Forschungsaktivitäten angeregt und neben der Gründung der Zeitschrift „Developmental Psychopathology“ zu speziellen Handbüchern und neuen Studiengängen geführt hat (van IJzendoorn, 2005). Seit 1975 bis in die Gegenwart andauernd wurden Daten von ursprünglich 267 und inzwischen immerhin noch 180 Kindern und ihren Müttern, teilweise den Geschwistern der Kinder und mittlerweile den Kindeskindern erhoben und auf ihre Aussagekraft bezüglich grundlegender Fragen der personalen Entwicklung hin ausgewertet (s. Suess & Sroufe, 2005; Kißgen & Suess, 2005 a). Während dieser Forschungsarbeiten entstand im Zusammenhang mit der immer wiederkehrenden Frage nach der ethischen Grundhaltung bei Längsschnittstudien, in deren Verlauf sich Probleme in vorherzusehender Form entwickeln, das STEEP- Projekt, um mit den gewonnenen Erkenntnissen zumindest anderen Eltern-Kind-Paaren in vergleichbaren Situationen zu helfen (Sroufe et al., 2005, S. 85). Die in der Bindungstheorie fußende rationale Grundlage ist dabei nicht exklusiv für das STEEP-Programm (Sroufe et al., 2005). Auch das von Marvin et al. entwickelte und bereits evaluierte Programm „circle of security“ (in dt. 2003) oder die Arbeiten von Alicia Lieberman (1992) sind hervorragende Beispiele für die praktische Umsetzung bindungstheoretischer Erkenntnisse. Für Deutschland gilt: das anerkannte Münchener Interventionsprogramm von Papousˇek et al. (2004), die Video-Mikroanalyse-Therapie von George Downing (2003) oder auch die Fort- und Weiterbildung „Entwicklungspsychologische Beratung“ von Ziegenhain et al. (2004), sie alle nehmen mehr oder weniger Anleihen aus der Bindungstheorie. Im Vergleich zu all diesen - durchaus unterschiedlich zu bewertenden - Programmen ist STEEP nicht nur eine äußerst konsequente Umsetzung bindungstheoretischer Grundideen, sondern darüber hinaus im Unterschied zu allen anderen Programmen ebenfalls eine konsequente Umsetzung der innerhalb des MPCP gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis der Frühintervention (Sroufe et al., 2005, S. 285; Suess & Sroufe, 2005). Egeland und Erickson (1993 a, 1993 b) haben STEEP in seiner ursprünglichen Form, die auf ein Jahr angelegt war, zudem an 154 Mutter- Kind-Paaren aus Hoch-Risiko-Verhältnissen in einem randomisierten Kontrollgruppendesign evaluiert, sodass uns mit STEEP nicht nur ein gut informiertes, sondern auch ein aufwändig evaluiertes Interventionsprogramm vorliegt. STEEP führte generell zu Verbesserungen bei den Hoch-Risiko-Eltern, doch nicht wie erwartet zu einer deutlichen Verbesserung der Eltern-Kind-Bindung bei den Einjährigen im Vergleich zur Kontrollgruppe. Mehrere Gründe können dazu angeführt werden. Erstens die kurze Dauer des ursprünglich auf ein Jahr angelegten STEEP- Programmes. Seither dauert STEEP mindestens 2 Jahre, bei ausgeprägter Suchtproblematik auf Seiten der Mutter sogar 3 Jahre. Zweitens war der Anteil der sicheren Eltern- Kind-Bindungen in der Kontroll-Gruppe ausgesprochen hoch für eine Hoch-Risiko-Grup- 1 STEEP: Steps Toward Effective, Enjoyable Parenting STEEP - ein Frühinterventionsprogramm 289 pe, sodass ein sogenannter Deckeneffekt für das gefundene Ergebnis verantwortlich sein könnte (s. Suess & Kißgen, 2005). Drittens wurde in dieser Evaluation nicht die desorganisierte/ desorientierte Bindungsqualität erfasst, da diese Bindungskategorie erst 1990 zur Verfügung stand. Auch in der Evaluationsstudie von Marvin et al. (2003) konnte im Vergleich zur Kontrollgruppe keine signifikante Zunahme von Bindungssicherheit durch die Intervention „Kreis der Sicherheit“ erreicht werden, allerdings waren deutlich weniger desorganisierte/ desorientierte Bindungsqualitäten in der Treatment-Gruppe. Somit scheint es bei Hoch-Risiko-Gruppen ein realistisches Ziel zu sein, Bindungsdesorganisation zu vermeiden (s. Suess & Kißgen, 2005; Suess & Hantel-Quitmann, 2004). Viertens zeigte sich innerhalb der STEEP-Evaluation von Egeland & Erickson (1993 a, b) in einer weiteren Erhebung im Zweijahresalter der Kinder, dass innerhalb der Kontrollgruppe ein signifikanter Abfall an Bindungssicherheit im zweiten Lebensjahr zu verzeichnen war, die innerhalb der STEEP-Interventionsgruppe erreichte Bindungssicherheit war dagegen stabil. Auch im MPCP konnte bei einer Gruppe von Eltern ein Abfall in der Bindungssicherheit im zweiten Lebensjahr der Kinder beobachtet werden; ein Vergleich mit der Gruppe von Eltern-Kind- Paaren mit gleichbleibend sicherer Bindung ergab bei ersteren eine geringere Freude am Umgang mit dem Kind im ersten Lebensjahr (Sroufe et al., 2005, S. 103). Während die reine Feinfühligkeit die Entwicklung einer sicheren Eltern-Kind-Bindung zu fördern scheint, trägt die Freude am Kind offensichtlich zu einer Aufrechterhaltung einer sicheren Eltern-Kind- Bindung bei, zumindest in Hochrisiko-Gruppen (Sroufe et al., 2005, S. 103). Diese Ergebnisse unterstreichen das im Titel von STEEP ausgedrückte Ziel, nicht nur einen effektiven Umgang mit dem Kind, sondern auch die Freude am Umgang mit dem Kind zu fördern. Hilfreich hierfür ist, dass STEEP ein individuell auf die jeweilige Situation und die Personen einer Familie zugeschnittenes Programm ist, das zudem partnerschaftlich ausgerichtet ist. Dies entspricht dem transaktionalen Grundverständnis des STEEP-Programmes, wonach Kindesentwicklung innerhalb einer kontinuierlichen Wechselwirkung zwischen Eltern und Kind geformt wird und Kinder mit zunehmendem Alter zunehmend aktiver diesen Prozess mitgestalten. Es kommt dabei einzig und allein darauf an, dass Eltern und Kinder zueinander finden und ihr Zusammenspiel gelingt. In der Praxis erweist sich ein solches Modell und Grundverständnis überaus hilfreich, da Eltern glaubhaft versichert werden kann, dass sie ihren ganz unverwechselbaren Stil und eine einmalige Beziehung zu ihrem Kind entwickeln können. Berater sind nur Förderer und nicht Architekten dieses Beziehungsaufbaus. Dies stärkt das Selbstbewusstsein der Eltern, gerade in Hochrisiko-Konstellationen. Ziele von STEEP Im folgenden sollen in Kurzform die Ziele von STEEP dargestellt werden (Egeland & Erickson, 2004; eine ausführliche Darstellung in dt. findet sich bei Kißgen & Suess, 2005 b): • Förderung gesunder sowie realistischer Einstellungen und Erwartungen bezüglich Schwangerschaft, Geburt, Erziehung des Kindes und der Eltern-Kind-Beziehung. • Verständnis für Kindesentwicklung und realistische Erwartungen bezüglich kindlichen Verhaltens fördern. • Förderung feinfühliger und vorhersagbarer Reaktionen der Eltern auf die Signale des Kindes. • Befähigung der Eltern zur Perspektivenübernahme: Mit den Augen des Kindes sehen. • Auf die Gestaltung einer häuslichen Umgebung hinwirken, die sicher, vorhersagbar entwicklungsförderlich ist. • Hilfestellung für Eltern bei der Etablierung sozialer Hilfen für sich und ihr Kind. • Hilfestellung für Eltern bei der Etablierung angemessener Handlungsstrategien im Alltag. • Aufbau und Stärkung der Kompetenzen und des Selbstbewusstseins der Eltern. 290 Gerhard J. Suess, Rüdiger Kißgen Um diese Ziele zu erreichen, wird beim STEEP-Programm ein früher Beginn betont und es werden Hausbesuche sowie eine komplexe Intervention auf verschiedenen Ebenen favorisiert: (1) Verbesserung der Eltern-Kind- Interaktion unter Einsatz von Video (Seeing is Believing), (2) die kritische Reflexion eigener Bindungserfahrungen sowie deren Einfluss auf die Wahrnehmung und den Umgang mit dem Kind (Looking back, Moving forward), (3) die therapeutische Beziehung als sichere Basis zur Erkundung eigener schmerzvoller Erfahrungen und dem Infragestellen dysfunktionaler Bindungsmodelle, (4) Gruppenangebote zur Erhöhung lebenspraktischer Fähigkeiten und dem Aufbau sozialer Netzwerke sowie den (5) Zugang zu Wissen und Ressourcen erleichtern. Das Vorgehen von STEEP verbindet somit wie kein anderes Programm psychotherapeutische, psycho-edukative sowie sozialarbeiterische Elemente und alles im Rahmen einer sicherheitsspendenden und partnerschaftlich angelegten beraterischen/ therapeutischen Beziehung. Es ist damit in besonderer Weise für die Praxis der Jugendhilfe und der Öffentlichen Gesundheitshilfe geeignet. Vorgehensweise bei STEEP STEEP beginnt möglichst in der Schwangerschaft, zunächst mit wöchentlichen Hausbesuchen. Später, wenn die Kinder geboren sind, finden Hausbesuche und Gruppentermine im wöchentlichen Wechsel statt. Etwa 10 bis 15 Mütter treffen sich mit ihrer STEEP-Beraterin zu den Gruppenterminen. Dieser beginnt immer mit einem gemeinsamen Essen, gefolgt von einem ungezwungenen Beisammensein und freien Spiel mit den Kindern und danach dem Gespräch unter Müttern, das dann mit zunehmendem Alter der Kinder ohne diese stattfindet. In den Gruppenterminen stehen - wie im gesamten STEEP-Programm - die Bedürfnisse der Mütter im Vordergrund, allerdings werden in einer STEEP-Praxisanleitung (Erickson & Egeland, dt. Version in Vorb.) verschiedene Themen für die Gestaltung der Gruppentermine vorgeschlagen. Insgesamt sollten die Gruppentermine so wenig wie möglich Kurs- oder gar Unterrichtscharakter haben, da die betroffenen Mütter damit in der Regel schlechte Erinnerungen verbinden. Bei den Hausbesuchen steht der Umgang der Eltern mit den Kindern im Mittelpunkt sowie alle förderlichen bzw. hinderlichen Faktoren. Der Einsatz von Video ist dabei auf verschiedene Weise hilfreich. Zunächst, um den Fokus auf der Eltern-Kind-Beziehung zu behalten. Gerade bei chaotischen Familiensystemen, bei denen Probleme und damit Themen für die Intervention vielfältig sind, ist dies von großer Bedeutung. In Abhängigkeit von den gerade anstehenden Entwicklungsaufgaben der Kinder werden Eltern im Umgang mit ihren Kindern in verschiedenen Situationen auf Video aufgenommen und diese Aufnahmen im Anschluss mit den Eltern gemeinsam angesehen. Dabei wird zunächst Positives von der STEEP-Beraterin hervorgehoben und die Eltern werden durch offene Fragen angeleitet, die Signale des Kindes zu beachten und ihr Verhalten daraufhin kritisch zu reflektieren. Diese Vorgehensweise ist sehr viel geeigneter, die o. g. Ziele zu erreichen, gerade einen Freude bereitenden Umgang mit den Kindern zu finden, als den Eltern durch direkte Ratschläge und „Belehrung“ einen Umgang mit dem Kind zu verschreiben. Bindungsforscher sind überzeugt von der Bedeutung unbewusster Prozesse bei der Kindes„erziehung“ und von der Notwendigkeit individualisierter Programme zur Förderung gelingender Eltern-Kind-Beziehung. Der Einsatz von Videoaufnahmen unterstützt dies in besonderer Weise. Nicht abstrakte Expertise - auf Erziehungsstile hinweisende Programme - oder populär geschriebene Elternratgeber weisen im Allgemeinen den Weg zu gelingender Elternschaft, sondern allein eine Hinwendung zum Kind und seinen zu entziffernden Signalen. Eltern werden dabei unterstützt, die Welt mit den Augen ihres Kindes zu sehen und die besondere Sichtweise der Kinder verstehen zu lernen. Dazu werden STEEP - ein Frühinterventionsprogramm 291 nicht nur psychotherapeutische, auf die Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion (Seeing is Believing) und die Reflexion der eigenen Kindheitserfahrungen (Looking back, Moving forward) zielende Methoden eingesetzt, sondern auch entwicklungspsychologisch fundierte Wissensvermittlung und nicht zuletzt die heilende Wirkung einer gelungenen therapeutischen Beziehung. Bindungsmodelle entwickeln sich innerhalb von primären Bindungsbeziehungen und verändern sich auch bevorzugt in diesen und in weiteren bedeutsamen Beziehungen. Darum ist aus bindungstheoretischer Sicht eine beziehungsbasierte Intervention erforderlich. Bei STEEP setzt der Berater/ die Beraterin ihre eigene Beziehung zu den Eltern als Instrument ein. Er/ Sie bemüht sich nicht nur, den Eltern gegenüber eine sichere Basis zu sein, sondern auch als Modell dafür zu dienen, wie mit eigenen Schwächen „bindungssicher“ umgegangen werden kann. Eltern werden dadurch auf Rückschläge vorbereitet und sie lernen, mit eigenen Fehlern konstruktiv umzugehen. Eltern sollen innerhalb dieser beraterischen Beziehung jedoch auch gerade in den Erwartungen, die aus unsicheren Bindungsmodellen stammen, frustriert werden und lernen, sie zu verändern. Dazu dient das Wissen um die diesen Bindungsmodellen zugrunde liegenden Mechanismen und ihre Entwicklung steuernde Funktion. Allerdings müssen sich auch die Beraterinnen mit ihren eigenen Bindungsmodellen und -hintergründen auseinandersetzen. Grundhaltung und Kompetenzen der Beraterinnen Alle Teile von STEEP sind durchdrungen von einer inneren, bindungstheoretisch fundierten Haltung, die neben dem einschlägigen Wissen einen besonders respektvollen Umgang mit den Eltern beinhaltet. Der angestrebte Veränderungsprozess betrifft zentrale Aspekte des Lebens der betroffenen Eltern und ist sicherlich emotional aufwühlend bis ängstigend. Hier soll die Beraterin als sichere Basis dienen und Sicherheit und Halt bieten. Aus zweierlei Hinsicht ist deshalb STEEP nicht durch Lektüre allein erlernbar, sondern erfordert ein personal geprägtes Training 2 , das das Auge (Beobachtungstraining), den Kopf (Bindungstheoretisches Wissen) und das Herz (die besondere Haltung und die Reflektion des eigenen Bindungshintergrundes) gleichermaßen einschließt. Zunächst ist der partnerschaftlich geprägte und respektvolle Umgang mit den betroffenen Eltern ein Ziel, das Veränderungen der Beraterinnen mit einschließt. Dies geschieht in Selbsterfahrung und innerhalb eines intensiven Supervisionsprozesses. Und zum zweiten erfordert das Erkennen von gelungenen Mutter-Kind-Interaktionen ein spezielles Beobachtertraining. Wenn Videotechnik zur Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion eingesetzt wird, braucht der Berater/ die Beraterin einen objektivierbaren Maßstab für das, was angestrebt werden soll, und zwar nicht nur an der Grenze zur Kindeswohlgefährdung, sondern auch an der Grenze zum Perfektionismus. Eltern sollen nämlich auch aus bindungstheoretischer Sicht immer auf die allen Beziehungen immanente Fehlerhaftigkeit vorbereitet werden und auf die besonderen Gefahren von Perfektionismus. Wenn Eltern all ihre relevanten Bindungsbeziehungen kritisch reflektieren können, inklusive ihrer Auswirkungen auf ihre Kinder, und all die in dieser Beziehung vorkommenden Fehler sensibel registrieren und auch Abbitte dafür bei ihren Kindern leisten können, dann sind sie bestens auf die Erziehung ihrer Kinder vorbereitet. Resümee Bei STEEP handelt sich also um ein Interventionsprogramm mit einer guten empirischen Basis. Seit seiner ersten Implementation und Evaluierung wird das modifizierte STEEP-Programm bei ausgesuchten Trägern (St. David’s Child Development and Family Center/ Minneapolis), teils in Trägerschaft der University of Minnesota (Baby’s Space/ Min- 2 www.steep-training.de; ZEPRA, 0 40/ 4 28 75-70 37: martina.stehn@sp.haw-hamburg.de 292 Gerhard J. Suess, Rüdiger Kißgen neapolis), angewendet. STEEP wurde damit nach erfolgter empirischer Evaluation einem umfassenden Praxistest unterzogen. Auch hieraus haben sich Modifikationen am ursprünglichen Programm ergeben. Nun soll in einer weiteren Evaluation das modifizierte STEEP-Programm in drei Metropolregionen auf seine Wirksamkeit hin überprüft werden: In den Metropolregionen Minneapolis, Hamburg sowie Potsdam/ Berlin. 3 Mit dieser neuerlichen Überprüfung der Wirksamkeit ist nicht nur ein weiterer Feinschliff zu erwarten, sondern auch zusammengefasste und kommunizierbare Erfahrungen über Anforderungen an die Implementation im deutschsprachigen Raum. Literatur Downing, G. (2003). Video-Mikroanalyse-Therapie: einige Grundlagen und Prinzipien. In H. Scheuerer- Englisch, G. J. Suess, W.-K. P. Pfeifer (Hrsg.), Wege zur Sicherheit - Bindungswissen in Diagnostik und Intervention. Gießen: Psychosozial Verlag. Egeland, B., Erickson, M. F. (2004). Lessons from STEEP: Linking theory, research, and practice for the well-beeing of infants and parents. In A. J. Sameroff, S. C. McDonough, & K. L. Rosenblum (Eds., Treating parent-infant relationship problem (pp. 213 - 242). N.Y.: Guilford Press. 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