Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2005
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Was erinnern Kinder von Lernfilmen?
11
2005
Eva Beuscher
Claudia M. Roebers
Wolfgang Schneider
Während positive Langzeiteffekte von Lernsendungen in einer Reihe von Studien nachgewiesen werden konnten, sind unmittelbare Behaltensleistungen beim Anschauen einzelner Lernfilme, im Sinne eines bereichsspezifischen Wissenserwerbs, bislang kaum untersucht worden. In der vorliegenden Studie wurden daher verschiedene Maße der Behaltensleistung eingesetzt, um die Erinnerung von 90 Kindern im Alter von 6, 8 und 10 Jahren an einen Sachfilm zur Wissensvermittlung zu untersuchen. Ferner wurden die Leistungen mit denen für einen Spielfilm verglichen und potenzielle leistungsbeeinflussende Faktoren erhoben. Die Ergebnisse zeigen, dass besonders für einen Lernfilm die Abrufleistung schlecht ausfällt und dass darüber hinaus die spezifischen Probleme von Vorschulkindern darin zu bestehen scheinen, die Informationen effektiv repräsentieren zu können. Ferner zeigen sich deutliche Alterseffekte bei der freien Wiedergabe von Informationen, der Beantwortung offener Fragen und Rekognitionsfragen, nicht aber bei unbeantwortbaren Fragen. Beeinflusst werden die Behaltensleistungen von der sprachlichen Entwicklung der Kinder. Implikationen der Ergebnisse für den Einsatz von Lernfilmen im Unterricht werden diskutiert.
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Im Rahmen der aktuellen Bildungsdebatte wird häufig die Frage nach effektiven Unterrichtsformen zur Wissensvermittlung gestellt. Gerade im Grundschulunterricht gilt der Einsatz von Medien als interessante und abwechslungsreiche Ergänzung zum klassischen Frontalunterricht oder der Arbeit in Kleingruppen. Dabei sind besonders Filme beliebt, die spezifische Sachthemen vermitteln sollen, sogenannte Lern- oder Wissensfilme. Sehr häufig werden solche Filme zu naturwissenschaftlichen Themen eingesetzt (siehe Study of School Uses of Television and Video, 1997, zu Daten aus den USA). In der Literatur zu allgemeinen Effekten von Fernsehen finden sich eine Reihe von Studien zu solchen Lernfilmen, in denen meist die längerfristigen Effekte bei regelmäßigem Anschauen untersucht werden. In der Vergangenheit stand hierbei besonders die Kindersendung „Sesamstraße“ im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Positive Effekte konnten z. B. bezüglich einer erhöhten Schulfähigkeit, verbesserter sozialer Kompetenzen (Fisch, Truglio & Cole, 1999) Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2005, 52, 51 - 65 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Children’s Memory for Educational Television Programs Summary: While there is empirical evidence indicating general benefits of educational television programs, only few studies have so far investigated memory performance pointing to the acquisition of domain-specific knowledge through educational films. Therefore, in the present study, memory for an educational film was examined by using different recall tasks. Participants were 90 6-, 8-, and 10-year old children. Performance was compared to that for a narrative film, and potential factors influencing performance were investigated. Results showed weak memory performance for the educational film and specific problems of the 6-year olds to represent the information effectively. Further, significant age effects were revealed for free recall, open-ended questions and recognition questions, but not for unanswerable questions. Language development influenced memory performance. Implications for using educational film in school are discussed. Keywords: Learning from television, educational television Zusammenfassung: Während positive Langzeiteffekte von Lernsendungen in einer Reihe von Studien nachgewiesen werden konnten, sind unmittelbare Behaltensleistungen beim Anschauen einzelner Lernfilme, im Sinne eines bereichsspezifischen Wissenserwerbs, bislang kaum untersucht worden. In der vorliegenden Studie wurden daher verschiedene Maße der Behaltensleistung eingesetzt, um die Erinnerung von 90 Kindern im Alter von 6, 8 und 10 Jahren an einen Sachfilm zur Wissensvermittlung zu untersuchen. Ferner wurden die Leistungen mit denen für einen Spielfilm verglichen und potenzielle leistungsbeeinflussende Faktoren erhoben. Die Ergebnisse zeigen, dass besonders für einen Lernfilm die Abrufleistung schlecht ausfällt und dass darüber hinaus die spezifischen Probleme von Vorschulkindern darin zu bestehen scheinen, die Informationen effektiv repräsentieren zu können. Ferner zeigen sich deutliche Alterseffekte bei der freien Wiedergabe von Informationen, der Beantwortung offener Fragen und Rekognitionsfragen, nicht aber bei unbeantwortbaren Fragen. Beeinflusst werden die Behaltensleistungen von der sprachlichen Entwicklung der Kinder. Implikationen der Ergebnisse für den Einsatz von Lernfilmen im Unterricht werden diskutiert. Schlüsselbegriffe: Lernmedien, Fernsehen, Wissenserwerb ■ Empirische Arbeit Was erinnern Kinder von Lernfilmen? Eva Beuscher, Claudia M. Roebers, Wolfgang Schneider Universität Würzburg 52 Eva Beuscher et al. und breiterem Wortschatz (Rice, Huston, Truglio & Wright, 1990) festgestellt werden. Auch die Serie „Blue’s Clues“, die seit 1996 in Amerika ausgestrahlt wird und die nach dem Motto „spielen um zu lernen“ konzipiert ist, wirkte sich in einer Langzeitstudie positiv auf Aspekte der kognitiven Entwicklung aus, wie z. B. Problemlösen und flexibles Denken (Anderson, Bryant, Wilder, Santomero, Williams & Crawley, 2000). Leider berücksichtigen solche längsschnittlichen Ansätze häufig nicht, dass eine Reihe von weiteren Faktoren Einfluss nehmen könnte, wie die Ermutigung durch die Eltern (Clifford, Gunter & McAleer, 1995), das gemeinsame Anschauen und Interagieren mit den Eltern (Reiser, Tessmer & Phelps, 1984) und das allgemeine und bereichsspezifische Vorwissen der Kinder (Collins, 1983). Dadurch sind die positiven Effekte zumindest nicht mehr eindeutig auf die Inhalte der Sendungen zurückzuführen. Allerdings sind positive Effekte von Sendungen, die das Kind zu Hause in der Freizeit anschaut, zwar erfreulich, aber häufig gar nicht intendiert. Im Unterschied dazu müssen an Filme, die explizit zur Vermittlung von Sachwissen im Unterricht dienen sollen, andere Anforderungen gestellt werden. Um die Effekte solcher Lernmedien zu erforschen, muss zunächst die Frage gestellt werden, ob Kindern damit überhaupt in sinnvoller Weise Informationen vermittelt werden können. Was erinnern Kinder von Sendungen, durch die ihnen Wissen vermittelt werden soll? Erwerben sie bereichsspezifisches Wissen beim Anschauen von Lernfilmen, und wenn ja, ab wie viel Jahren? Ein weiterer wichtiger Aspekt ist also auch die entwicklungspsychologische Frage, welche Unterschiede in den Behaltensleistungen in Abhängigkeit vom Alter auftreten. Dies gibt Aufschluss darüber, ab welcher Altersstufe der Einsatz solcher Filme im Unterricht sinnvoll ist. Um diese Fragen zu klären, wurde in der vorliegenden Studie 6-, 8- und 10-jährigen Kindern ein Sachfilm und ein Spielfilm gezeigt und mit einem Abstand von einer Woche die Behaltensleistung erfasst. In früheren Untersuchungen zum Lernen von Sachfilmen zeigte sich, dass 8- und 14-jährige Kinder von Wissenschaftssendungen vergleichbar profitieren und dass beide Altersgruppen prinzipiell über ähnliche Enkodierungs- und Verarbeitungsprozesse verfügen (Clifford et al., 1995). Es stellt sich die Frage, ob dies auch bei sehr jungen Kindern schon der Fall ist, oder ob bei diesen stärkere Defizite in kognitiven Verarbeitungskompetenzen, wie z. B. bei der Organisation von Wissensstrukturen, vorhanden sind, sodass sie durch Lernfilme generell weniger Wissen erwerben als ältere Kinder. Problematisch bei der Verwendung des Begriffes „Behaltensleistung“ ist die Tatsache, dass das „Behalten“ von Informationen auf sehr unterschiedliche Arten erhoben werden kann und tatsächlich eine Vielzahl von höchst unterschiedlichen Messinstrumenten in der empirischen Praxis zum Einsatz kommt. Eine weitere Fragestellung dieser Studie betrifft daher die Vergleichbarkeit von verschiedenen Maßen der Behaltensleistung, da jegliche Informationsvermittlung im Unterricht auch auf das Behalten dieser Informationen ausgerichtet ist. In Studien zu Effekten verschiedener Lehr- und Lernmethoden wird die Behaltensleistung z. B. mit Multiple-Choice-Aufgaben (Brünken, Steinbacher, Schnotz & Leutner, 2001), Kenntnistests mit „richtig/ falsch“- Items (Jürgen-Lohmann, Borsch & Giesen, 2001) oder Tests mit offenen Fragen (Borsch, Jürgen-Lohmann & Giesen, 2002) erfasst. Auch eine freie Reproduktion (Bannert, 2003) oder Lückentexte (Stiller, 2003) kommen zum Einsatz. In anderen Bereichen der Gedächtnispsychologie, z. B. in Studien zu Ereigniserinnerungen, hat sich für verschiedene Aufgabentypen gezeigt, dass mit zunehmendem Alter der Kinder die Behaltensleistungen zwar erwartungsgemäß generell ansteigen, dass es darüber hinaus aber altersspezifische Unterschiede bei verschiedenen Frageformaten gibt. Vorschulkinder geben meist nur äußerst spärliche freie Berichte über ein Ereignis ab, im Was erinnern Kinder von Lernfilmen? 53 Verlauf der Grundschulzeit nimmt die Menge an frei berichteter Information aber deutlich zu (Roebers & Schneider, 2001). Mit unspezifischen Abrufhilfen in Form von Bildkärtchen, die als Hinweisreize für Personen, Orte, Aktionen und Dialoge vorgelegt werden, fällt der Zuwachs an korrekt erinnerter Information für Vorschulkinder deutlich geringer aus als für Zweitklässler (Roebers & Elischberger, 2003). Ein Grund dafür ist, dass bei der freien Wiedergabe hohe kognitive und sprachliche Anforderungen an das Kind gestellt werden, die gerade jüngere Kinder überfordern könnten. Die passende Information muss ohne Abrufhilfen wiedergefunden und frei formuliert werden, falsche Information muss erkannt und zurückgehalten werden, Nichtwissen muss erkannt und zugegeben werden. Im Vergleich dazu stellen offene Fragen geringere kognitive Anforderungen, da zumindest Abrufhinweise vorliegen. Aber auch hier muss eine Antwort frei formuliert werden, um die korrekte Information zu liefern. Die Beantwortung offener Fragen gelingt Kindern im Vergleich zur freien Wiedergabe bei Ereigniserinnerungen besser. Auch für dieses Gedächtnismaß sind im Verlauf der Grundschulzeit deutliche Zuwächse zu verzeichnen; es werden immer mehr richtige Antworten gegeben (Roebers & Howie, 2003). Allerdings besteht ein Problem dieses Fragetyps darin, dass auch viele falsche Antworten gegeben werden, was in Leistungs-Kontexten unerwünscht ist. Um eine falsche Antwort erfolgreich vermeiden zu können, muss ein Kind über die Fähigkeit verfügen, adäquat einzuschätzen, wie sicher eine potenzielle Antwort wirklich korrekt ist. Falls diese als sehr unsicher zu bewerten ist, muss daraus die richtige Konsequenz gezogen werden, nämlich das eigene Nichtwissen zugegeben werden. Solche metakognitiven Überwachungs- und Kontrollprozesse spielen bei Erinnerungsleistungen jeglicher Art eine wichtige Rolle. Die Entwicklung dieser Kompetenzen kann allerdings in der normalen Befragung nicht von der Gedächtnisentwicklung unterschieden werden. So können beispielsweise Entwicklungstrends verschleiert werden, da ältere Kinder aufgrund tatsächlich höheren Wissens seltener mit „ich weiß nicht“ antworten könnten, obwohl sie über eine bessere metakognitive Überwachung verfügen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass jüngere Kinder seltener mit „ich weiß nicht“ antworten, obwohl ihre metakognitiven Überwachungsprozesse ineffektiver sind, da sie eher eine falsche Antwort geben als ihr Nichtwissen zuzugeben. Die Trennung dieser Bereiche wird also erst dann möglich, wenn Fragen verwendet werden, auf die gar keine Antwort möglich ist, da die Information nicht präsentiert wurde. Bei solchen sogenannten nicht beantwortbaren Fragen fallen Unterschiede in der Enkodierung und Repräsentation von Informationen als Erklärung weg. Unbeantwortbare Fragen kommen in Alltagssituationen von Kindern häufig vor, wenn z. B. Eltern Details aus Kindergarten oder Schule erfragen, ohne zu wissen, ob dass, wonach sie fragen, überhaupt stattgefunden hat. Die wenigen bislang existenten Befunde zu Altersunterschieden in adäquaten „ich weiß nicht“ Antworten auf unbeantwortbare Fragen deuten insgesamt auf einen Alterstrend hin (Howie, 2002). Die Leistungen bei der Beantwortung von Rekognitionsfragen (Multiple-Choice-Format) zeigen dagegen häufig keine so starken Alterseffekte, zumindest ab der zweiten Klasse (Roebers & Schneider, 2000). Ein Grund dafür liegt in der Tatsache, dass diese Fragen primär die Enkodierung und Repräsentation von Informationen, nicht aber den freien Abruf prüfen (Schneider & Bjorklund, 1998). Sie ermöglichen also Rückschlüsse auf die Güte der Gedächtnisrepräsentation. Bei diesem Fragentyp haben die verbalen Fähigkeiten der Kinder einen geringeren Einfluss, da keine Antwort selbstständig generiert werden muss. Die Anzahl korrekter Antworten ist hierbei allerdings stets höher als bei offenen Fragen, da eine reine Ratestrategie schon in der Hälfte der Fälle zum Erfolg führt, weil eine von 54 Eva Beuscher et al. zwei vorgegebenen Antwortalternativen richtig ist. Die aufgeführten Unterschiede zwischen den verschiedenen Maßen der Behaltensleistung zeigen, wie wichtig es ist, verschiedene Indikatoren zu verwenden, da das Gedächtnis eben nicht als eine einheitliche Größe zu betrachten ist, die mit einem einzigen Maß sinnvoll zu erfassen wäre (Schneider & Weinert, 1995). Eine Reihe von Studien konnte verdeutlichen, dass unterschiedliche „Gedächtnisaufgaben“ im Sinne von Frage- oder Testformaten, untereinander nur mäßig korrelieren (z. B. Roebers & Schneider, 2002). Daher wurden die Probanden in der hier beschriebenen Studie mit den Frageformaten freie Wiedergabe, offene und lenkende Fragen, Rekognitionsfragen und unbeantwortbare Fragen getestet. Es wird also geprüft, wie die Erinnerungsleistungen bezüglich des Sachfilmes in Abhängigkeit von den verschiedenen Frageformaten und vom Alter der Kinder ausfallen. Um die Erinnerungsleistungen für Sachfilme besser einordnen und bewerten zu können, wurden in der vorliegenden Studie zwei Filme verwendet und die Behaltensleistungen miteinander verglichen. Grundsätzlich sind Sachfilme in ihrer zugrundeliegenden Struktur von vielen anderen Filmmaterialien zu unterscheiden, bei denen soziale Interaktionen im Vordergrund stehen, wie es beispielsweise bei Spielfilmen der Fall ist. Ein Lernfilm zur Vermittlung von Sachwissen beinhaltet meist wesentlich unzusammenhängendere einzelne Szenen als ein narrativer Spielfilm. Ferner werden häufig neue, unbekannte Begriffe und Konzepte vermittelt, während in einem Spielfilm zumeist episodisches Wissen vermittelt wird. Es erscheint unmittelbar eingängig, dass solche Sachfilme zu einer insgesamt inkohärenteren Gedächtnisrepräsentation, verbunden mit schlechterer Rekonstruktionsleistung führen (van den Broek, 1997). Erst kausale Zusammenhänge ermöglichen eine hochorganisierte episodische Repräsentation des Gesamtereignisses. Ein Modell, das diese Dimension der Kausalität sowie weitere Dimensionen eines Ereignisses im Hinblick auf die Gedächtnisrepräsentation berücksichtigt, ist das Event-Indexing-Modell (Zwaan, Langston & Graesser, 1995). Es stellt eine Weiterentwicklung des Ansatzes der Situationsmodelle (z. B. van Dijk & Kintsch, 1983) dar. Laut dem Event- Indexing-Modell spielt neben der Kausalität auch die räumliche Region, in der das Ereignis stattfindet, eine Rolle, weiterhin der Zeitrahmen des Ereignisses sowie die einbezogenen Protagonisten und deren Intentionalität. Eingehende Informationen werden mit den enkodierten anhand von Ähnlichkeiten und Unterschieden auf diesen Dimensionen abgeglichen. Das mentale Modell wird dadurch ständig aktualisiert. Verknüpfungen zwischen einzelnen Ereignissen werden erstellt und gewichtet. Bei Uneinheitlichkeiten auf diesen Dimensionen werden die einzelnen Ereignisse weniger stark verknüpft. In der Abrufsituation ist es dann unwahrscheinlicher, dass ein Element weitere aktiviert. Es hat sich aber gezeigt, dass nicht alle fünf Indizes gleichbedeutend sind, sondern dass die Dimensionen Raum und Zeit bei Kindern eine eher untergeordnete Rolle spielen (Nieding, 2001). Die kausale Verknüpftheit der einzelnen Ereignisse ist dagegen von entscheidender Bedeutung. In dem in dieser Studie verwendeten Film werden lediglich einzelne Verarbeitungsschritte bei der Herstellung von Zucker aus Zuckerrüben nacheinander von einem nicht sichtbaren Sprecher beschrieben und kommentiert. Kausalzusammenhänge sind durch diese Filmstruktur schwerer erkennbar als bei einem Spielfilm. Trotzdem scheinen Kinder der untersuchten Altersgruppen diesen Film nicht generell mit Listenstruktur, also als rein temporale Sequenz mit serialer Reihenfolge, zu enkodieren, da sonst bei freier Wiedergabe Primacy- und Recency-Effekte auftreten würden. Eine Vorstudie mit demselben Filmmaterial hat gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Zumindest ein gewisses Ausmaß an Kausalität scheint also auch für die jüngsten Kinder erkennbar zu sein. Was erinnern Kinder von Lernfilmen? 55 Auch ein erkennbares Ziel als Auslöser kausaler Konsequenzen ist im Sachfilm vorhanden, ebenso wie eine hierarchische Episodenstruktur, im Sinne von abgestuften Einzelepisoden, die stattfinden, um das Ziel zu erreichen. In dem hier verwendeten Sachfilm führt das Ziel (Zucker herstellen) zunächst zu einer Handlungsabsicht (Rüben ernten), welche wiederum zu abgestuften Subhandlungen (mit Erntemaschine auf das Feld fahren und Rüben aus der Erde ziehen) führt. Allerdings finden alle „Handlungen“ im Sachfilm als pure Maschinenaktionen statt, ohne handelnden Protagonisten. Dies könnte den Informationsabruf deutlich erschweren. Intentional handelnde Protagonisten, die im Film auftreten, tragen entscheidend dazu bei, kausale Inferenzen zu bilden. Um den Einfluss von Protagonisten und erkennbaren Intentionen auf die Erinnerungsleistung zu prüfen, wurde als Vergleich zum Sachfilm eine deutlich kohärentere Spielfilmepisode verwendet. Hierin führt ein Ziel (Schatz finden) ebenfalls zunächst zu einem Vorhaben (Geheimgang finden), welches wiederum in abgestufte Einzelaktionen (über Wiesen laufen und den Eingang suchen und frei graben) mündet. Allerdings dominiert hier eine Gruppe von Protagonisten die Handlung, die explizit dieses Ziel verfolgen. Nicht nur die Tatsache, dass überhaupt Protagonisten auftreten, sondern auch, dass diese in einer Gruppe von Kindern bestehen, könnte sich weiterhin positiv auf die Behaltensleistungen auswirken, da gerade Kinder für kindliche Zuschauer überaus saliente Reize darstellen und aufmerksamkeitsfördernd wirken (Lorch & Sanchez, 1997). Neben den Hauptpersonen beinhaltet der Spielfilm eine Geschichtenstruktur mit klarem Setting, auslösendem Ereignis, internalen Zuständen der Protagonisten, Handlungszielen, Anstrengungen, Konsequenzen und schließlich Resultaten (Trabasso & Nickels, 1992). Dies erleichtert die Einspeicherung zusätzlich. Derartige Geschichten sind Kindern meist von klein auf aus Erzählungen und Büchern vertraut, sodass sie für das Format der Sendung über Vorwissen verfügen. Bei der Suche nach effektiven Lernmedien wird häufig nach weiteren Faktoren gesucht, die neben dem Alter der Kinder den Lernerfolg beeinflussen. In Theorien zur sogenannten „Wissenskluft“ (Tichenor, Donohue & Olien, 1970) wird der sozioökonomische Status der Familie als ein solcher Einflussfaktor diskutiert. Diese vertreten die Annahme, dass gebildetere intelligentere Personen mit vergleichsweise höherem sozioökonomischen Status generell mehr Wissen durch Massenmedien erwerben als Personen mit niedrigem Status. Als Gründe dafür werden allerdings weniger grundlegende Unterschiede in den Verarbeitungsprozessen diskutiert als vielmehr motivationale Faktoren, kommunikative Fertigkeiten, Vorwissen, Sozialkontakte mit vermehrtem produktivem Austausch und selektivere Exposition (Tichenor et al., 1970). Schon diese Aufzählung verdeutlicht, dass bei der Suche nach Einflussfaktoren auf Lerneffekte vielmehr proximate Faktoren berücksichtigt werden sollten und ein globaler, distaler Faktor wie der sozioökonomische Status wohl kaum ein sinnvoller Prädiktor sein kann. Ein geeigneterer Aspekt, der sicher vom Status der Familie nicht unabhängig ist, aber wesentlich hilfreicher bei der Erklärung von Unterschieden sein könnte, ist die sprachliche Entwicklung der Kinder. Ein weiterer potenzieller „näherer“ Einflussfaktor könnte der durchschnittliche Fernsehkonsum der Kinder sein. Mehr Erfahrung mit dem Medium könnte zu besseren Erinnerungsleistungen führen, da fernseherfahrene Kinder geübter im Treffen metakognitiver Entscheidungen sein könnten, z. B. darüber, wie viel mentale Anstrengung investiert werden muss. Dieser Zusammenhang ist beispielsweise im Verarbeitungsmodell von Clifford und Kollegen postuliert worden (Clifford et al., 1995). In der vorliegenden Studie wurden alle drei genannten Faktoren, also sozioökonomischer Status, sprachliche Entwicklung und durchschnittlicher Fernsehkonsum, bezüglich potenzieller Einflüsse auf die Behaltensleistungen überprüft. 56 Eva Beuscher et al. Hypothesen Die ausgeführten Überlegungen führen zu der Annahme, dass die Behaltensleistungen für Informationen aus dem Sachfilm generell niedrig und im Vergleich zum Spielfilm schlechter sind. Dafür verantwortlich sollten Defizite nicht nur auf Abrufebene, sondern schon auf der Ebene der Gedächtnisrepräsentation sein. Daher wird erwartet, dass die Leistungen nicht nur in den Abrufmaßen (freie Wiedergabe und offene Fragen) schlecht ausfallen, sondern schon bei den Rekognitionsfragen, welche auf die Informationsrepräsentation schließen lassen. Die in Studien zur Gedächtnisentwicklung und zu alltäglichen Gedächtnisleistungen aufgetretenen Alterseffekte sollten ebenfalls für den Sachfilm auftreten, und sich für den Spielfilm replizieren lassen. Die Stabilität der Leistungen auf Gruppenebene sollte relativ hoch sein, da davon ausgegangen werden kann, dass gleiche Gedächtnisaufgaben bei unterschiedlichem Behaltensmaterial aufgrund ähnlicher kognitiver Anforderungen zu relativ ähnlichen Ergebnissen auf Gruppenebene führen (Schneider & Weinert, 1995). Allerdings werden Unterschiede in der individuellen Vorhersagbarkeit der Leistungen erwartet (also zwischen den einzelnen Kindern), da nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Leistungen aller Kinder gleich gut vorhersagbar sind. Vielmehr wird erwartet, dass die Leistungen der jüngeren Kinder instabiler sind. Variable Faktoren der Enkodier- und Abrufsituation und des Materials sollten hier eher zum Tragen kommen. Bezüglich der drei erhobenen Einflussfaktoren wird erwartet, dass der sozioökonomische Status der Familie für sich genommen keinen Einfluss auf die Gedächtnisleistungen haben sollte, vielmehr sollte sich das sprachliche Verständnis als naheliegenderer Faktor hier positiv auswirken, ebenso die Fernseherfahrung. Methode Stichprobe Insgesamt nahmen 90 Kinder (45 Mädchen) an der Untersuchung teil. Die Gruppe der Vorschulkinder bestand aus 27 Kindern (59 % Mädchen) mit einem mittleren Alter von 5 Jahren und 5 Monaten (SD = 5.5 Monate). Die Gruppe der Zweitklässler umfasste 34 Kinder (41 % Mädchen) mit einem mittleren Alter von 7 Jahren und 8 Monaten (SD = 6.5 Monate). Die Gruppe der Viertklässler bestand aus 29 Kindern (52 % Mädchen) mit einem mittleren Alter von 10 Jahren (SD = 4.6 Monate). Die Eltern der Kinder hatten schriftlich ihr Einverständnis für die Teilnahme an der Untersuchung erklärt. Stimulusmaterial Als Spielfilm wurde ein ca. 7-minütiger Ausschnitt aus einer Kinderfilm-Folge gezeigt, in der eine Gruppe von Kindern einen Schatz findet. Die Episode ist so geschnitten, dass die Geschichtenstruktur aufrechterhalten wird. Zu Beginn steht eine Einführung von Protagonisten und Situation, das Setting (Fünf Freunde besuchen ein Zwillingspärchen in einem Landhaus), es folgt ein initiierendes Ereignis (die Zwillinge erzählen von der Burg, die es früher dort gab und die bei einem Brand zerstört wurde). Die Reaktion der Protagonisten ist dann die Schlussfolgerung, dass ein Schatz zu finden sein muss und die Suche danach. Das Ziel zur Zustandsänderung ist die Absicht, den Schatz zu finden, bzw. als Unterziel zunächst die Absicht, einen Eingang zu einem Geheimgang zu entdecken. Dies bewirkt die Aktion des Suchens und Grabens und schließlich die Handlungsfolge des Findens des Schatzes. Als Sachfilm wurde eine ebenfalls ca. 7-minütige Sachgeschichte aus der Sendung mit der Maus verwendet, in der gezeigt wird, wie in mehreren Schritten in einer Fabrik aus Zuckerrüben Raffinade-Zucker hergestellt wird. Die dazu benötigten Zuckerrüben werden geerntet, gewaschen, gekocht, der Saft wird filtriert, wieder gekocht und schließlich zentrifugiert. Die Handlung wird von dem Moderator „Christoph“ eingeführt und kommentiert, der den meisten Kindern aus der Sendung mit der Maus bekannt ist. Allerdings tritt dieser während der Sendung nicht mehr in Erscheinung, sondern nur kurz zu Beginn. Diese Sendung weist keine klare Geschichtenstruktur mit den oben genannten Elementen auf, kausale Verknüpfungen zwischen den Einzelereignissen sind aber vorhanden. Im Gegensatz zu dem Spielfilm werden in diesem Film eine Reihe von in der Regel unbekannten Konzepten vermittelt, wie das Einkochen der Zuckerrüben, die Filtration und das Schleudern in einer Zentrifuge. Diese Konzepte werden anhand von Analogien verdeutlicht (beispielsweise wird die Filtration des Rübensaftes mit dem Filtern von Kaffee verglichen). Was erinnern Kinder von Lernfilmen? 57 Durchführung Alle Kinder sahen jeweils beide Filme im Abstand von zwei Wochen. Die Reihenfolge der beiden Filme wurde variiert, sodass eine Hälfte der Kinder zuerst den Spielfilmausschnitt sah, die andere zuerst den Sachfilm. Den Kindern wurde aus Gründen der ökologischen Validität keine explizite Behaltensinstruktion gegeben, allerdings waren sie bei der Filmvorführung darüber informiert, dass ihnen später jemand Fragen stellen würde. Nach jeweils einer Woche wurden alle Kinder einzeln interviewt. Zu Beginn des Interviews wurden sie um eine freie Wiedergabe des jeweiligen Filmes gebeten. Die entspricht zum Beispiel einer Unterrichtssituation, in der der Lehrer dazu auffordert, Gesehenes oder Erlebtes frei zu berichten. Anschließend wurden anhand eines vorher evaluierten Fragebogens offene beantwortbare und offene unbeantwortbare Fragen gestellt. Am Ende des Interviews wurden zusätzlich Fragen im Rekognitionsformat gestellt, die inhaltlich den offenen beantwortbaren Fragen entsprachen. Offene beantwortbare Fragen fokussieren auf ein bestimmtes Detail, legen aber keine bestimmte Antwort nahe. Das Kind muss eine kurze Antwort frei formulieren (z. B. „Was geschieht mit dem Rübensaft, wenn er immer wieder gekocht wird? “ zu dem Sachfilm und „Als die Kinder über die Wiese liefen, was genau suchten sie? “). Offene unbeantwortbare Fragen betreffen dagegen Dinge, die das Kind aufgrund der im Film vermittelten Informationen gar nicht wissen kann, z. B. „Wie lange dauert es, den Saft in der Zentrifuge zu schleudern? “, obwohl das im Film nicht erwähnt wurde oder „Was machten die Zwillinge, kurz bevor die Kinder am Bauernhaus ankamen? “, obwohl das nicht gezeigt wurde. Bei den Rekognitionsfragen wurden dem Kind schließlich zwei Antwortalternativen zur Auswahl gegeben und es sollte die richtige auswählen, z. B. „Was geschieht mit dem Rübensaft, wenn er immer wieder gekocht wird? a) er wird sauberer und gelber, b) er wird weniger und brauner“ oder „Als die Kinder über die Wiese liefen, was genau suchten sie? a) Goldtaler, die zum Schatz gehörten, b) den Eingang des unterirdischen Ganges“. Offene Fragen werden in der Unterrichtspraxis bei Leistungskontrollen, z. B. beim Abfragen, häufig verwendet. Weiterhin ähneln die kognitiven Prozesse beim Beantworten konkreter offener Fragen beispielsweise denen bei der Bearbeitung eines Lückentextes, da konkrete Information mit Hilfe von Hinweisreizen abgerufen werden muss. Auch Rekognitionsfragestellungen sind im Grundschulunterricht üblich, z. B. bei „richtig-falsch“-Aufgaben. Zusätzlich zu den Filmfragen wurden die Untertests des Hamburg-Wechsler-Intelligenztests für Kinder (HAWIK-III, Tewes, Rossmann & Schallberger, 1999) der Skala „Sprachliches Verständnis“ durchgeführt (Wortschatztest, Gemeinsamkeiten finden, Allgemeines Wissen und Allgemeines Verständnis) sowie über einen Elternfragebogen der sozioökonomische Status in Form von Schulbildung der Eltern und momentaner Arbeitssituation und der Fernsehkonsum der Kinder erhoben. Der Fragebogen wurde den Kindern nach der ersten Befragung für die Eltern in einem offenen Umschlag mitgegeben. Die Eltern wurden vorher mit einem Elternbrief darüber informiert. Sie wurden darum gebeten, den Fragebogen auszufüllen und den Umschlag verschlossen dem Kind für den Klassenlehrer wieder mitzugeben. Ergebnisse Leistungsniveau Die freie Wiedergabe der Kinder zu den beiden Filmen wurde auf Tonband aufgezeichnet und von zwei trainierten Ratern unabhängig voneinander ausgewertet. Dazu stand jeweils eine Liste mit 40 Items (für den Spielfilm) bzw. 35 Items (für den Sachfilm) zur Verfügung, die den Film inhaltlich abdeckte und in einer Voruntersuchung entwickelt worden war, basierend auf der Prozedur von Baker- Ward, Ornstein, Gordon, Follmer & Clubb (1995), sodass jedes Item ein Element des Ereignisses darstellt. Es wurde für jedes Kind kodiert, ob es jedes Item richtig oder falsch wiedergegeben oder ausgelassen hatte. Das Niveau der Leistungen lag insgesamt sehr niedrig. Die Varianzanalyse ergab einen signifikanten Haupteffekt Alter F(2, 82) = 17.76, p < .01. Ein post-hoc-Test nach Newman- Keuls zeigte, dass sich alle drei Gruppen voneinander unterschieden, nämlich die 6-Jährigen (M = 7.5 %) schlechter abschnitten als die 8-Jährigen (M = 11.9 %) und diese schlechter als die 10-Jährigen (M = 18.0 %). Signifikante Unterschiede der Leistungen zwischen den beiden Filmen traten nicht auf, der Spielfilm wurde also in der freien Wiedergabe nicht besser erinnert. Im Vergleich zur freien Wiedergabe wurden die beantwortbaren offenen Fragen deutlich häufiger korrekt beantwortet, wie aus Tabelle 1 zu erkennen. Bei der jüngsten Altersgruppe sind tendenziell Bodeneffekte aufgetreten; mit 8 % beim 58 Eva Beuscher et al. Sachfilm und 17 % beim Spielfilm haben Kinder dieses Alters im Durchschnitt 0 - 1 Frage (Sachfilm) bzw. 1 - 2 Fragen (Spielfilm) korrekt beantwortet. 10-Jährige beantworteten die Hälfte der Fragen korrekt, allerdings nur den Spielfilm betreffend. Die Varianzanalyse ergab einen Haupteffekt Film F(1, 83) = 27.69, p < .01, [M = 22 % für den Sachfilm; M = 33.3 % für den Spielfilm] sowie einen Haupteffekt Alter F(2, 83) = 24.28, p < .01. Ein post-hoc-Test nach Newman-Keuls zeigte, dass sich über die beiden Filme hinweg alle drei Altersgruppen bedeutsam voneinander unterschieden, nämlich die 6-Jährigen [M = 12.8 %] schlechter abschnitten als die 8-Jährigen [M = 28.9 %] und diese schlechter als die 10-Jährigen [M = 41.3 %]. Der Anteil korrekt beantworteter Rekognitionsfragen, die inhaltlich mit den offenen beantwortbaren Fragen identisch sind, liegt deutlich höher, wie aus Tabelle 2 ersichtlich. Die Varianzanalyse ergab hier einen Haupteffekt Film, F(1, 83) = 6.61, p < .01, einen Haupteffekt Alter, F(2, 83) = 53, p < .01 und eine disordinale Interaktion zwischen Alter und Film, F(2, 83) = 7.94, p < .05, weshalb die Haupteffekte nicht interpretierbar sind. Nachgeschobene t-Tests für gepaarte Stichproben für jede Altersgruppe separat ergaben, dass der Unterschied zwischen den Filmen nur in der Gruppe der 6-Jährigen signifikant wird, t(22) = -2.77; p < .05. Die 6-jährigen Kinder gaben auf die Rekognitionsfragen für den Sachfilm [M = 24.8 %] im Vergleich zu den Fragen für den Spielfilm [M = 51.1 %] unerwartet wenig korrekte Antworten. Weiterhin fiel der Anteil korrekter Antworten auch im Vergleich zu den 8-Jährigen [M = 80.9 % für den Sachfilm, M = 76.8 % für den Spielfilm] und den 10-Jährigen [M = 79.3 % für den Sachfilm, M = 81.5 % für den Spielfilm] sehr niedrig aus. Da die Rekognitionsfragen eher die Wiedererkennung von Information prüfen, scheint die entscheidende Information aus dem Sachfilm bei den jüngsten Kindern nicht an wiederauffindbarer Stelle abgespeichert worden zu sein. Beim Spielfilm schnitt diese Gruppe dagegen deutlich besser ab, was auf starke Materialabhängigkeit der Erinnerungsleistung jüngerer Kinder hindeutet. Bei den beiden älteren Gruppen ist der Anteil an korrekten Antworten bei den Rekognitionsfragen sehr hoch, im Vergleich zu den offenen Fragen desselben Inhaltes. Eine Varianzanalyse für diese beiden Altersgruppen ohne die jüngste Gruppe ergab keine Alters- und Filmunterschiede mehr. Die Varianzanalyse für die unbeantwortbaren Fragen ergab keine Unterschiede für die beiden Filme, sondern lediglich einen Haupteffekt Alter, F(2, 83) = 16.18, p < .01. Post-hoc- Sachfilm Spielfilm 6-Jährige 8.3 (11.9) 17.4 (15.9) 8-Jährige 24.4 (18.1) 33.5 (16.8) 10-Jährige 33.4 (21.1) 49.1 (19.2) Tabelle 1: Mittlerer Prozentanteil richtiger Antworten bei beantwortbaren offenen Fragen (Standardabweichungen in Klammern) Anmerkung: Sachfilm: 10 Fragen, Spielfilm: 8 Fragen Sachfilm Spielfilm 6-Jährige 24.8 (32.7) 51.1 (36.9) 8-Jährige 80.9 (14.0) 76.8 (14.5) 10-Jährige 79.3 (13.9) 81.5 (17.2) Tabelle 2: Mittlerer Prozentanteil richtiger Antworten bei Rekognitionsfragen (Standardabweichungen in Klammern) Anmerkung: Sachfilm: 10 Fragen, Spielfilm: 8 Fragen Sachfilm Spielfilm 6-Jährige 18.5 (30.8) 27.2 (26.0) 8-Jährige 59.2 (32.9) 52.2 (31.6) 10-Jährige 54.7 (27.8) 58.6 (24.3) Tabelle 3: Mittlerer Prozentanteil „Ich-weiß-nicht“- Antworten bei unbeantwortbaren offenen Fragen (Standardabweichungen in Klammern) Anmerkung: Sachfilm: 8 Fragen, Spielfilm: 4 Fragen Was erinnern Kinder von Lernfilmen? 59 Tests nach Newman-Keuls zeigten, dass sowohl die 8-Jährigen [M = 55.7 %] als auch die 10-Jährigen [M = 56.7 %] öfter angemessen mit „ich weiß nicht“ antworteten als die jüngsten Teilnehmer [M = 22.8 %]. Insgesamt ist also aus den Analysen des Leistungsniveaus in den verschiedenen Aufgaben ersichtlich, dass die Erinnerungsleistung der beiden älteren Altersgruppen relativ gut war, in der jüngsten Gruppe dagegen relativ schlecht, besonders für den Sachfilm. Die signifikanten Unterschiede im Vergleich der beiden Filme zeigen weiterhin, dass der Sachfilm insgesamt besser erinnert wurde als der Spielfilm. Stabilität der Leistungen Eine weitere Fragestellung war neben dem Niveau der Leistungen, wie stabil diese Leistungen über die beiden Filme und Befragungssituationen hinweg ausfallen. Dazu wurden für jede Aufgabe die Korrelationen zwischen den Leistungen für die beiden Filme berechnet, also Test-Retest-Korrelationen. Diese werden als Gruppenstabilitäten bezeichnet. Hiermit soll die Stabilität der gemessenen Dimension der Erinnerungsleistung über verschiedene Ereignisse hinweg überprüft werden (Roebers & Schneider, 2002). Die Korrelationen in Tabelle 4 zeigen, dass Leistungen in derselben Aufgabe für unterschiedliches Material mittelhoch und teilweise signifikant zusammenhängen. In der jüngsten Altersgruppe fallen Leistungen bei verschiedenem Stimulusmaterial und über verschiedene Interviewsituationen allerdings eher unterschiedlich aus, so dass eine Vorhersage schlecht möglich ist. Betrachtet man die Gruppenstabilitäten über die Altersgruppen hinweg, zeigt sich, dass die Stabilitäten für die Leistungen in allen vier Aufgaben insgesamt deutlich höher und durchgehend signifikant ausfallen, nämlich bei der freien Wiedergabe r = .48**, bei den offenen Fragen r = .55**, bei den Rekognitionsfragen r = .44** und bei den unbeantwortbaren Fragen r = .47**. Das bedeutet, dass Kinder, die im Vergleich zu ihrer Altersgruppe gut bei den Sachfilmfragen abschnitten, auch bei den Spielfilmfragen gut waren. Allerdings kann die Stabilität auf Gruppenebene lediglich als Obergrenze der Stabilität der Leistungen angesehen werden. Wie gut die Leistungen eines einzelnen Kindes vorhergesagt werden können, muss daher über die individuelle Stabilität (Labilität) geprüft werden. Im Vergleich zur Gruppenstabilität wird die individuelle Stabilität pro Kind und Aufgabentyp berechnet, nämlich als der Betrag der Differenz der z-transformierten Werte (transformiert über die Altersgruppen, pro Film) der Tabelle 4: Gruppenstabilitäten für alle verwendeten Aufgabentypen, für die drei Altersgruppen getrennt (6-Jährige / 8-Jährige / 10-Jährige) Sachfilm Freie Anteil Anteil Anteil Spielfilm Wiedergabe richtige „weiß nicht“ richtige bei bei offenen bei unbeantwort- Rekognitions- Fragen baren Fragen fragen Freie Wiedergabe .36/ .41*/ .26 Anteil richtige bei offenen Fragen .23/ .31/ .50** Anteil „weiß nicht“ bei unbeantwortbaren Fragen -.14/ .62**/ .32 Anteil richtige bei Rekognitionsfragen .15/ -.10/ .32 Sachfilm Freie Anteil Anteil Anteil Spielfilm Wiedergabe richtige „weiß nicht“ richtige bei bei offenen bei unbeantwort- Rekognitions- Fragen baren Fragen fragen Freie Wiedergabe .36/ .41*/ .26 Anteil richtige bei offenen Fragen .23/ .31/ .50** Anteil „weiß nicht“ bei unbeantwortbaren Fragen -.14/ .62**/ .32 Anteil richtige bei Rekognitionsfragen .15/ -.10/ .32 Anmerkung: * p < .05, ** p < .01 60 Eva Beuscher et al. jeweiligen Aufgabe im ersten und zweiten Film (Roebers & Schneider, 2002). Vergleichsweise geringe Differenzwerte stehen für hohe Stabilität, also gute Vorhersagbarkeit der individuellen Leistung. Die Werte werden zu Mittelwerten pro Altersgruppe zusammengefasst, sodass die Frage beantwortet werden kann, ob sich die drei Altersgruppen in ihrer individuellen Vorhersagbarkeit unterscheiden. Wie in Tabelle 5 zu erkennen, sind die Werte im individuellen Stabilitätsindex insgesamt eher hoch, d. h. die Differenzen der Leistungen zwischen den Filmen sind groß und die Stabilität ist niedrig. Ein Problem bei der Interpretation der Stabilitäten sind fehlende Grenzwerte für „stabil“ oder „instabil“, da die Werte auf z-Wert-Differenzen beruhen und dadurch auch größer 1 werden können. Allerdings liegen die hier berechneten z-Werte alle zwischen 0.1 und 1.5, sodass zumindest Anhaltspunkte für die Beurteilung vorliegen. Eine Varianzanalyse mit Messwiederholung (Alter x Frageformat) ergab hier einen Haupteffekt Alter, F(2, 78) = 3.92 p < .05. Ein posthoc-Test nach Newman-Keuls zeigte, dass die Leistungen der 6-Jährigen [M = .98, SD = .43] bedeutsam weniger gut vorhersagbar sind als die der 8-Jährigen [M = .73, SD = .35] und die der 10-Jährigen [M = .74, SD = .24]. Weiterhin zeigte sich eine signifikante Interaktion zwischen Alter und Frageformat, F(6, 234) = 3.85, p < .01. Die Rekognitionsleistung bei den älteren Kindern war im Vergleich zu den anderen Frageformaten recht stabil, bei den jüngeren dagegen im Verhältnis sehr instabil. Einflussfaktoren Neben dem Niveau und den Stabilitäten der Leistungen war eine weitere Fragestellung, welchen Einfluss der sozioökonomische Status und die sprachlichen Kompetenzen der Kinder sowie der durchschnittliche Fernsehkonsum auf die Erinnerungsleistungen haben. Zur Berechnung eines Wertes für den sozioökonomischen Status wurden die Angaben aus dem Elternfragebogen zur Ausbildung von Vater und Mutter (von 0 = kein Schulabschluss bis 5 = Hochschulabschluss) sowie die Angaben zu den Berufen der Eltern zu einem Summenwert addiert. Den Berufen wurden gemäß der Magnitude Prestige Skala (Wegener, 1985) Punktwerte von 20 (Handlanger) bis 187 (Ärzte) zugeordnet (M = 81.3, SD = 32.0). Dann wurde die gröbere, aber zuverlässigere Transformation der Punkte in Werte von 1 bis 6 analog zur Münchner Longitudinalstudie zur Genese individueller Kompetenzen (LOGIK-Studie, Schneider & Weinert, 1995) vorgenommen. Relevant war der höhere Beruf, unabhängig davon, ob dieser von Mutter oder Vater ausgeübt wurde. Der Summenwert setzt sich zusammen aus einer Zahl von 0 bis 5 für die Ausbildung der Mutter plus einer Zahl von 0 bis 5 für die des Vaters plus einer Zahl von 1 bis 6 für den „Prestigewert“ des höheren Berufes, sodass 1 bis 16 Punkte erreichbar sind. Der durchschnittliche Wert für die 6-Jährigen beträgt M = 7.6 Punkte (SD = 4.4), für die 8-Jährigen M = 6.1 Punkte (SD = 3.9) und für die 10-Jährigen M = 5.3 Punkte (SD = 3.5). Der sozioökonomische Status der Familie korreliert signifikant negativ (r = -.49**) mit dem Fernsehkonsum der Kinder Tabelle 5: Individueller Stabilitätsindex für die vier Frageformate Freie Offene Rekognitions- Unbeantwortbare Wiedergabe Fragen fragen Fragen 6-Jährige .92 (.66) .71 (.43) 1.40 (.90) .96 (.88) 8-Jährige .84 (.67) .76 (.64) .61 (.49) .72 (.52) 10-Jährige .97 (.77) .82 (.54) .51 (.42) .73 (.58) Was erinnern Kinder von Lernfilmen? 61 und signifikant positiv (r = .42**) mit dem sprachlichen Verständnis. Partialkorrelationen mit den abhängigen Variablen ergaben bei Kontrolle des sprachlichen Verständnisses insgesamt aber keine deutlichen Zusammenhänge mehr. Zur Berechnung eines Wertes für den durchschnittlichen Fernsehkonsum wurden die Eltern nach dem Fernsehkonsum ihres Kindes an einem durchschnittlichen Tag befragt. Dieser Wert wurde in Minuten umgerechnet. Die Angaben fehlen für 28 Kinder 1 . Der Wert für die 6-Jährigen beträgt M = 76 Minuten (SD = 52), für die 8-Jährigen M = 108 Minuten (SD = 59) und für die 10-Jährigen M = 105 Minuten (SD = 58). Der Fernsehkonsum korreliert nicht signifikant mit dem sprachlichen Verständnis der Kinder (r = -.18). Reanalysen der Ergebnisse, nachdem die Kinder per Mediansplit (Median = 90 Minuten pro Tag) in eine Gruppe mit hohem Konsum (N = 26) und eine Gruppe mit niedrigem Konsum (N = 36) aufgeteilt worden waren, ergaben für alle vier abhängigen Variablen keine Gruppenunterschiede. Der durchschnittliche Fernsehkonsum hat also keinen Einfluss auf die Erinnerungsleistungen. Zur Berechnung des Wertes für das sprachliche Verständnis wurden die vier Subtest- Wertpunkte der HAWIK-Untertests aufsummiert und anhand der Umrechnungstabelle in IQ-Äquivalente umgerechnet. Der durchschnittliche Wert für die 6-Jährigen beträgt M = 90 Punkte 2 (SD = 10.6), für die 8-Jährigen M = 103 Punkte (SD = 16.5) und für die 10- Jährigen M = 102 Punkte (SD = 16.9). Deutliche Zusammenhänge des sprachlichen Verständnisses zeigen sich zu den Leistungen in der freien Wiedergabe (r = .55** für den Sachfilm; r = .31** für den Spielfilm), den offenen Fragen (r = .57** für den Sachfilm; r = .47** für den Spielfilm) und den Rekognitionsfragen (r = .40** für den Sachfilm; r = .35** für den Spielfilm). Betrachtet man die Zusammenhänge für die drei Altersgruppen separat, zeigen sich in der jüngsten Gruppe keine signifikanten Korrelationen mehr, weder in der freien Wiedergabe zum Sachfilm (r = -.08) und zum Spielfilm (r = .24), noch bei den offenen Fragen zum Sachfilm (r = .03) und zum Spielfilm (r = .38) oder den Rekognitionsfragen (r = .20 beim Sachfilm, r = .33 beim Spielfilm). Reanalysen der Ergebnisse, nachdem die Kinder per Mediansplit (Median = 96 Punkte) in eine Gruppe mit hohem und eine Gruppe mit niedrigem sprachlichen Verständnis aufgeteilt worden waren, ergaben für alle vier abhängigen Variablen beider Filme hochsignifikante Gruppenunterschiede (Spielfilm: Für die freie Wiedergabe F(1, 79) = 7.37, p < .01, für die offenen Fragen F(1, 79) = 12, p < .01, für die Rekognitionsfragen F(1, 79) = 8.4, p < .01 und für die unbeantwortbaren Fragen F(1, 79) = 13.81, p < .01. Sachfilm: Für die freie Wiedergabe F(1, 83) = 12.72, p < .01, für die offenen Fragen F(1, 79) = 14.64, p < .01, für die Rekognitionsfragen F(1, 79) = 11.9, p < .01 und für die unbeantwortbaren Fragen F(1, 79) = 6.16, p < .05.). Das bedeutet, Kinder mit gutem sprachlichen Verständnis können sowohl besser eine freie Wiedergabe von Filminhalten liefern als auch Fragen dazu beantworten. Weiterhin hat sich gezeigt, dass das sprachliche Verständnis bei Kontrolle des sozioökonomischen Status und des Fernsehkonsums mit der individuellen Stabilität bei den Rekognitionsfragen korreliert (r = -.35). Je höher das sprachliche Verständnis eines Kindes, desto stabiler ist also seine Rekognitionsleistung für die beiden Filme. Diskussion Die vorliegende Studie zeigt, dass der Einsatz von Lernfilmen im Unterricht zur Vermittlung von Sachwissen - zumindest ohne Vor- oder Nachbereitung wie in dieser Studie - in Fra- 1 Nämlich für 9 6-jährige, für 8 8-jährige und für 11 10jährige Kinder, da diese Eltern ihrem Kind den Fragebogen nicht oder verspätet mitgaben. 2 Der unterdurchschnittliche Wert der jüngsten Altersgruppe kommt vermutlich dadurch zustande, dass diese Kinder im Mittel noch nicht ganz sechs Jahre waren, der HAWIK aber erst ab 6; 0 normiert ist. 62 Eva Beuscher et al. ge gestellt werden muss. Über verschiedene Maße der Behaltensleistung hinweg behalten Vor- und Grundschulkinder von einem Sachfilm relativ wenig. Besonders die freie Wiedergabe der Filmereignisse gelingt nur bruchstückhaft. Der Grund dafür scheint nicht in der mangelnden Strukturiertheit und „Geschichtenähnlichkeit“ zu liegen, da auch für den Spielfilm die Wiedergabeleistung nicht besser ausfällt. Es scheint, dass selbst von Sendungen, die den Aufbau einer verknüpften Ereignisrepräsentation optimal unterstützen, keine nur annähernd zusammenhängende Wiedergabe der Informationen gegeben werden kann. Die Leistung bei der Beantwortung offener Fragen zu Einzelheiten aus dem Sachfilm fällt im Vergleich zur Wiedergabe ohne Abrufhinweise höher aus, allerdings immer noch unerwartet niedrig. Hier zeigt sich weiterhin, dass bestimmte Eigenschaften des Sachfilms einen negativen Einfluss auf die Leistungen zu haben scheinen, da Informationen aus dem Sachfilm von allen Kindern zur Fragenbeantwortung schlechter abrufbar sind als Informationen aus dem Spielfilm. Grund dafür könnte eine ungenügendere Verarbeitung der Informationen sein. Dafür verantwortlich sind möglicherweise fehlende Vorerfahrungen mit solchem Material und das Fehlen der vertrauten Episodenstruktur (Narvaez, van den Broek & Barron Ruiz, 1999). Weiterhin sind durch die höhere Schwierigkeit des Materials und geringes Vorwissen die kognitiven Anforderungen größer (Budd, Whitney & Thurley, 1995). Auch das Fehlen der intentional handelnden Protagonisten könnte sich nachteilig auf die Güte der Gedächtnisrepräsentation ausgewirkt haben, besonders im Vergleich zu den auftretenden Kindern im Spielfilm. Möglicherweise war dieser dadurch für die Kinder interessanter und emotional positiver besetzt. Ferner sind eventuell die Vorerfahrungen mit dem Anschauen und auch dem Wiedergeben von vergleichbaren Filmen aus dem Kinderprogramm größer. Im Gegensatz zur Abrufleistung wird die Wiedererkennensleistung der 8- und 10-jährigen Kinder von den skizzierten Unterschieden der beiden Filme nicht beeinflusst. Fast alle Informationen aus dem Sachfilm sind für diese Altersgruppen gut wiedererkennbar gewesen. Dies spricht dafür, dass die niedrige Anzahl an korrekten Antworten auf offene Fragen eher auf Abrufschwierigkeiten beruht als auf defizitärer Gedächtnisrepräsentation. Überraschenderweise zeigen dagegen die jüngsten Kinder große Schwierigkeiten, Informationen aus dem Sachfilm wieder zu erkennen. Dabei scheint es keineswegs so zu sein, dass Kinder in diesem Alter zentrale Inhalte allgemein nicht gut repräsentieren können, wie diskutiert wird (Collins, 1983). Dies scheint vielmehr speziell auf die Inhalte von Lernfilmen wie dem hier verwendeten zuzutreffen, da die Wiedererkennensleistungen für Informationen aus dem Spielfilm deutlich besser ausfielen. Das Identifizieren von Fragen, die sich auf Informationen beziehen, die im Film gar nicht vorkamen, gelang allen Kindern für den Sachfilm genauso gut wie für den Spielfilm; die Ergebnisse entsprechen vom Niveau her den Ergebnissen früherer Studien mit narrativem Material (Roebers & Fernandez, 2002). Diese metakognitive Überwachungskompetenz scheint hier also entgegen den Erwartungen nicht materialabhängig zu sein. Insgesamt zeigen die Ergebnisse der verschiedenen Maße der Behaltensleistung, dass pädagogisch intendierte Sendungen wie die hier verwendete zur Vermittlung von frei abrufbarem Sachwissen (d. h. freie Wiedergabe) relativ ineffektiv sind. Andererseits konnten wir zeigen, dass Behaltensleistungen und auch Altersunterschiede in Behaltensleistungen ähnlich wie bei Untersuchungen zur Gedächtnisentwicklung in Abhängigkeit vom verwendeten Maß stark variieren (Schneider & Bjorklund, 1998). Dies zeigt, wie wichtig die Verwendung unterschiedlicher Aufgaben ist, um verschiedene Aspekte von Behaltensleistungen erfassen zu können. Tatsächlich ergab der Vergleich der verschiedenen Maße der Behaltensleistungen, dass mittels Sachfilmen Was erinnern Kinder von Lernfilmen? 63 eine Familiarisierung mit neuen, sach-spezifischen Begriffen und Konzepten im Alter von 8 Jahren aufwärts durchaus gelingt. Im Rekognitionstest wurden nämlich von den beiden älteren Altersgruppen recht gute Leistungen erzielt. Betrachtet man die Unterschiede zwischen den drei Altersgruppen, ergibt sich ein noch differenzierteres Bild der Leistungen. Die Befunde deuten darauf hin, dass die 6-jährigen Kinder nicht nur quantitativ weniger von Lernsendungen profitieren als ältere, sondern dass auch qualitative Unterschiede in der Fähigkeit zur Informationsrepräsentation und in beeinflussenden Faktoren bestehen. Während die freie Wiedergabe von Informationen und die Beantwortung offener Fragen sich im Verlauf der Grundschulzeit weiter verbessern, wie die Unterschiede zwischen den 8- und 10-jährigen Kindern zeigen, sind bei der Wiedererkennung von Informationen schon 8-Jährige auf einem hohen Leistungsniveau angelangt, das im weiteren Entwicklungsverlauf material-unabhängig stabil zu bleiben scheint. Die Wiedererkennensleistungen der jüngsten Kinder sind dagegen noch stark materialabhängig. Die Schwierigkeiten des Lernfilmes verursachen gerade bei den 6-Jährigen mit ungenügenden Informationsverarbeitungskompetenzen frühe und grundlegende Probleme bei dem Aufbau einer Ereignisrepräsentation. Auch die metakognitiven Kompetenzen, die zur Identifizierung unbeantwortbarer Fragen notwendig sind, scheinen den 6-jährigen Kindern noch weitgehend zu fehlen, sich aber mit Eintritt in die Schule relativ schnell auf ein stabiles Niveau zu entwickeln. Mit zunehmendem Alter sind Kinder also besser in der Lage, einen freien Bericht über ein Ereignis abzugeben, konkrete Fragen zu beantworten und falsch lenkenden Fragen zu widerstehen. Dies entspricht früheren Befunden (z. B. Roebers & Schneider, 2002). Weitere grundlegende Unterschiede zwischen den jüngsten Kindern und den Grundschulkindern bestehen im Einfluss der sprachlichen Entwicklung. Die Leistung der Grundschulkinder wird erwartungsgemäß stark von ihren sprachlichen Kompetenzen beeinflusst. Grundschulkinder, die über ein breiteres verbalisierbares Wissen und einen größeren Wortschatz verfügen, scheinen besser in der Lage zu sein, auch bei schwierigem Material eine gute Gedächtnisrepräsentation aufzubauen. Der positive Einfluss dieser Faktoren beschränkt sich nicht nur auf Frageformate, bei denen eine Antwort frei formuliert werden muss, sondern bezieht sich auch auf die Wiedererkennung von Informationen. Diese sprachlichen Kompetenzen spielen bei den Erinnerungsleistungen der Vorschulkinder in dieser Studie eine untergeordnete Rolle. Andere, variable Einflüsse wie die der Fernsehsituation, des Materials oder der Interviewsituation scheinen bei jüngeren Kindern entscheidend zu sein. Dadurch sind ihre Leistungen sehr schlecht vorhersagbar, also über verschiedene Situationen und unterschiedliches Filmmaterial hinweg deutlich labiler als die der älteren Kinder. Die Altersunterschiede in dieser Studie deuten folglich darauf hin, dass Filme zur Wissensvermittlung, obwohl diese häufig auch schon für Vorschulkinder konzipiert sind, bei jüngeren Kindern nicht zu einem Zuwachs an Sachwissen führen, da grundlegende Verarbeitungsprobleme zu bestehen scheinen. Die weiteren in dieser Studie erhobenen Faktoren neben dem Alter und der sprachlichen Entwicklung stellten sich als nicht leistungsbeeinflussend heraus. Die Theorie der Wissenskluft konnte nicht bestätigt werden, da der sozioökonomische Status insgesamt nur einen geringen Einfluss hat. Die Gedächtnisleistung wird höchstens sekundär über die sprachliche Intelligenz beeinflusst, welche bei Kindern aus Familien mit höherem sozioökonomischen Status höher ist. Auch der Fernsehkonsum der Kinder hatte in der vorliegenden Studie entgegen den Erwartungen keinen entscheidenden Einfluss. Die Stabilität der Leistungen variiert insgesamt wenig in Abhängigkeit von den erhobe- 64 Eva Beuscher et al. nen Faktoren, mit Ausnahme der Stabilität der Rekognitionsleistung. Bei älteren, aber auch bei Kindern mit höherer Behaltensleistung und höherem IQ ist diese stabiler, wohl da diese Kinder für den Sachfilm mehr korrekte Antworten geben. Allgemein kann aber aufgrund der Instabilität der Leistungen aus der Kompetenz eines Kindes, „sich gut merken zu können, was in Filmen vorkam“ noch nicht geschlossen werden, dass das Medium Fernsehen optimal zum Wissenserwerb genutzt werden kann. Insgesamt hat die vorliegende Untersuchung gezeigt, das die Gedächtnisleistungen von Vor- und Grundschulkindern für einen Sachfilm, zu dem eine Woche später Fragen gestellt wurden, relativ schlecht und deutlich schlechter als für einen Spielfilm ausfallen, besonders wenn Information aktiv abgerufen werden soll. Jüngere Kinder scheinen einen Großteil relevanter Informationen nicht effektiv zu repräsentieren. Somit stellen die Befunde einen ersten Schritt zur Evaluation des Einsatzes von Lernfilmen dar. Ein effektiver Einsatz kann also beispielsweise so aussehen, dass vor dem Einsatz solcher Lernfilme im Unterricht das Sachgebiet vorstrukturiert wird, z. B. anhand von bebilderten und erläuterten Texten, die zusammen erarbeitet werden. Ein solches Vorgehen ist auch in der Praxis des Grundschulunterrichtes meist üblich und wird somit durch die Ergebnisse dieser Studie bestärkt. Es kann dadurch relevantes Vorwissen aufgebaut werden, um eine kohärentere Gedächtnisrepräsentation zu ermöglichen. Der Einsatz von Sachfilmen dient dann zur Vertiefung des vorher erworbenen Wissens. Andererseits ist es auch sinnvoll, solche Filme ohne das Hauptziel einzusetzen, frei abrufbares Faktenwissen aufzubauen. Vielmehr bietet sich hiermit auch die Möglichkeit, den Einstieg in ein neues Themengebiet motivierend zu gestalten und Interesse und Neugierde zu wecken. Formate wie die „Sachgeschichten“ erfreuen sich bei der Zielgruppe der 3bis 13-Jährigen außerordentlich großer Beliebtheit (Lambrecht, 2002). Hier bietet sich also ein Medium, das von vorne herein einen enormen Vorteil gegenüber anderen Unterrichtsformen hat. In jedem Fall sollte die Auswahl geeigneter Filme aber in Abhängigkeit von den diskutierten Filmeigenschaften erfolgen. Weiterhin muss der Einsatz von Sachfilmen im Unterricht generell in Abhängigkeit vom Alter der Kinder stattfinden. Insgesamt zeigen die differentiellen und teilweise überraschenden Befunde dieser Studie die Notwendigkeit weiterer Forschung auf diesem Gebiet und die Wichtigkeit der Verknüpfung entwicklungspsychologischer Fragestellungen mit der Unterrichtsforschung. Literatur Anderson, D. R., Bryant, J., Wilder, A., Santomero, A., Williams, M. & Crawley, A. (2000). Researching Blue’s Clues: Viewing behavior and impact. Media Psychology, 2, 179 - 194. Baker-Ward, L., Ornstein, P. A., Gordon, B. N., Follmer, A. & Clubb, P. A. (1995). How shall a thing be coded? Implications of the use of alternative procedures for scoring children’s verbal reports. In M. S. Zaragoza, J. R. Graham, G. C. N. Hall, R. Hirschman & Y. S. Ben-Porath (Eds.), Memory and testimony in the child witness (Vol. 1, pp. 61 - 85). London: Sage. Bannert, M. (2003). 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