Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2005
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Dyadisches Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern
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2005
Barbara Thies
Nach Schweer (1996) ist Vertrauen wesentlich von den impliziten Vertrauenskonzepten der Interaktionspartner abhängig und wurde in der präsentierten Studie dyadisch erfasst. Im Zentrum standen clusteranalytisch ermittelte Dyaden aus je einem Lehrer und einem Schüler (N= 143 Dyaden). Es ließen sich wechselseitig gelungene und wechselseitig misslungene Dyaden ermitteln, darüber hinaus fanden sich einseitige Dyaden, in denen nur jeweils der Lehrer oder der Schüler Vertrauen investierten. Die Zugehörigkeit zu einem Dyadentyp ging mit dem (wahrgenommenen) Leistungsverhalten der Schüler und weiteren unterrichts- bzw. interaktionsrelevanten Verhaltensweisen einher. Die Interaktionsqualität zwischen Lehrern und Schülern hing nicht ausschließlich vom Vertrauenserleben des Einzelnen, sondern von der Kompatibilität des Vertrauenserlebens von Lehrer und Schüler ab. Rückschlüsse auf die Interaktionsqualität ließen sich aus dem Vertrauenserleben eines Interaktionspartners allein nur eingeschränkt ziehen. Die Relevanz der dyadischen Perspektive für weitere Untersuchungen zum Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern wird abschließend diskutiert, vor allem vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Vertrauen, Motivation und Leistung.
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Vertrauen als strukturierende Variable der Lehrer-Schüler-Beziehung Bereits seit der Antike gilt das Vertrauen zwischen Erzieher und Zögling als Fundament erfolgreicher pädagogischer Bemühungen, auch Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik haben die Schaffung von Vertrauen als Postulat pädagogischen Handelns immer wieder in den Vordergrund ihrer Analysen gestellt, so etwa Bollnow in seiner grundlegenden Konzeption des Pädagogischen Bezugs, auf die vielfach aufgebaut wurde, z. B. im Rahmen des von Muth formulierten Pädagogischen Takts bis hin zu Schallers Kommunikativer Pädagogik (s. zusammenfassend Schweer, 1996). Auch in jüngerer Zeit haben sich vor dem Hintergrund der vielfältigen Aufgaben von Schule als zentrale Sozialisationsinstanz die Stimmen gemehrt, die der Qualität der Beziehung zwischen Lehrern und Schülern eine fundamentale Bedeutung beimessen (u. a. Breslauer, 1989, Hoffmann, Dyadic Trust Between Teachers and Students Summary: According to Schweer (1996), mutual trust depends largely on the implicit theories of trust both partners hold, and their compatibility. The presented empirical study analyzed trust between teachers and pupils under a dyadic perspective. The 143 dyads consisted of one teacher and one pupil each and were cluster-analyzed. Reciprocally successful and unsuccessful dyads were disclosed, in addition to one-sided dyads in which only the teacher, or the pupil invested trust. Dyad-type membership correlated with (perceived) teacher-student-interaction and with further behaviour patterns relevant to teaching and/ or interaction. Quality of teacher-student-interaction did not depend exclusively upon experienced trust but to a large extend also upon the compatibility of concepts of trust that teachers and pupils held. Therefore quality of interaction should not only be judged from the experience of trust of one interaction partner alone. The relevance of a dyadic perspective for future research on trust between teachers and students and the relation of trust to motivation and achievement is discussed. Keywords: Dyadic trust, teacher-student-interaction, reciprocity Zusammenfassung: Nach Schweer (1996) ist Vertrauen wesentlich von den impliziten Vertrauenskonzepten der Interaktionspartner abhängig und wurde in der präsentierten Studie dyadisch erfasst. Im Zentrum standen clusteranalytisch ermittelte Dyaden aus je einem Lehrer und einem Schüler (N = 143 Dyaden). Es ließen sich wechselseitig gelungene und wechselseitig misslungene Dyaden ermitteln, darüber hinaus fanden sich einseitige Dyaden, in denen nur jeweils der Lehrer oder der Schüler Vertrauen investierten. Die Zugehörigkeit zu einem Dyadentyp ging mit dem (wahrgenommenen) Leistungsverhalten der Schüler und weiteren unterrichtsbzw. interaktionsrelevanten Verhaltensweisen einher. Die Interaktionsqualität zwischen Lehrern und Schülern hing nicht ausschließlich vom Vertrauenserleben des Einzelnen, sondern von der Kompatibilität des Vertrauenserlebens von Lehrer und Schüler ab. Rückschlüsse auf die Interaktionsqualität ließen sich aus dem Vertrauenserleben eines Interaktionspartners allein nur eingeschränkt ziehen. Die Relevanz der dyadischen Perspektive für weitere Untersuchungen zum Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern wird abschließend diskutiert, vor allem vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Vertrauen, Motivation und Leistung. Schlüsselbegriffe: Dyadisches Vertrauen, Lehrer-Schüler-Beziehung, Reziprozität ■ Empirische Arbeit Dyadisches Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern Barbara Thies Hochschule Vechta Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2005, 52, 85 - 99 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 86 Barbara Thies 1988, Potschka, 1996, Weinold, 1988): Vertrauen fördert die Verantwortungsbereitschaft und erleichtert gleichermaßen Lehrern und Schülern die Bewältigung des schulischen Alltags, ermöglicht den Lehrern nicht zuletzt also auch die Erfüllung ihres pädagogischen Auftrags. Die Relevanz von Vertrauen als strukturierende Variable der Lehrer-Schüler- Beziehung wurde inzwischen empirisch belegt (für einen Überblick s. Schweer & Padberg, 2003, s. a. Schweer & Thies, 2004) - dies gilt nicht nur in Bezug auf sozio-emotionale, sondern auch für leistungsthematische Aspekte der Lehrer-Schüler-Beziehung: Wenngleich Befunde zum Zusammenhang von Vertrauen und dem „objektiven“ Leistungsverhalten der Schüler noch ausstehen, zeigte sich doch, dass vertrauende Schüler anstrengungsbereiter und zufriedener sind und zumindest subjektiv mehr lernen als nicht-vertrauende Schüler (s. insbesondere Schweer, 1997 a). Auf der Basis der differentiellen Vertrauenstheorie von Schweer (1997 b) haben die vorliegenden empirischen Untersuchungen gezeigt, dass erlebtes Vertrauen eine wahrnehmungsstrukturierende Funktion hat und somit die eigene Handlungsplanung erleichtert: Durch das Vertrauenserleben werden ungünstige, potenziell bedrohliche Handlungsfolgen psychologisch ausgeschlossen, so dass eine Vielzahl von Handlungsalternativen von vornherein ausgeschlossen werden kann. Erlebtes Vertrauen wird auf Seiten der Person (für die vertrauensrelevanten situativen Rahmenbedingungen s. Schweer, 1996, 1997 b) ermöglicht durch die individuelle Vertrauenstendenz im Sinne einer bereichsspezifischen Überzeugung, ob Vertrauen in einem spezifischen Lebensbereich überhaupt möglich ist. Je stärker diese Überzeugung individuell ausgeprägt ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Individuum vertrauensrelevante Interaktionsmerkmale aktiv aufnimmt und verarbeitet. Welche vertrauensrelevanten Interaktionsmerkmale dies im Einzelnen sind, wird durch eine weitere personale Antezedenzbedingung, nämlich die implizite Vertrauenstheorie beeinflusst: Die implizite Vertrauenstheorie umfasst die individuellen normativen Vorstellungen darüber, wie ein Interaktionspartner in einem spezifischen Lebensbereich sein sollte, damit ihm Vertrauen entgegengebracht werden kann. In einer ersten konkreten Interaktionssituation werden nun die bei dem konkreten Interaktionspartner wahrgenommenen Verhaltensweisen mit der impliziten Vertrauenstheorie abgeglichen. Je positiver dieser Vergleich ausfällt, umso stärker ausgeprägt kann sich das individuelle Vertrauenserleben gestalten (Vertrauenskonkordanz). Schweer (1996, 1997 a) konnte für die Lehrer-Schüler-Beziehung zeigen, dass sich Schüler an folgenden Dimensionen vertrauensfördernden Lehrerverhaltens orientieren: persönliche Zuwendung, fachliche Kompetenz und Hilfe, Respekt, Zugänglichkeit und Aufrichtigkeit. Wenngleich sich diese Merkmale als zentrale vertrauensfördernde Merkmale der Lehrer-Schüler-Beziehung aufzeigen ließen, ist die relative Gewichtung der Merkmale zueinander verschieden. So orientieren sich z. B. einige Schüler primär an sozio-emotionalen Variablen (z. B. Sympathie zum Lehrer, sich ernstgenommen fühlen, mit dem Lehrer auch außerhalb der in der Schule formalisierten Kommunikationskanäle sprechen können), während andere Schüler vor allem die fachliche Kompetenz des Lehrers bedeutsam finden (zu entsprechenden clusteranalytischen Befunden s. Schweer, 1997 c). Unabhängig aber von den differentiellen Verarbeitungsprozessen, die in ein „Vertrauensurteil“ münden, ließ sich dieses Vertrauensurteil als Indikator für die Güte der Lehrer-Schüler-Beziehung heranziehen. Das Ausmaß des Vertrauenserlebens ist kognitiv mit weiteren positiven Wahrnehmungseindrücken verknüpft, die sich insgesamt im Sinne eines Globalurteils auf wohlwollendes Verhalten des Lehrers beziehen. Für eine etwaige Relevanz des Vertrauens auf Seiten der Lehrer (z. B. ob es Lehrern wichtig ist, ihren Schülern vertrauen zu können bzw. ob ihre Schüler ihnen vertrauen; ob ver- Dyadisches Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern 87 trauensvolle Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern dem Lehrer die Ausübung seines Berufes erleichtern etc.) existieren bislang nur indirekte empirische Belege - es handelt sich hier insbesondere um Befunde zur Arbeitszufriedenheit von Lehrern und Erkenntnisse der Burn-out-Forschung. Beide zeigten unabhängig voneinander, dass die von der Lehrperson wahrgenommene Qualität der Beziehung zu den Schülern einen entscheidenden Einfluss auf das berufliche Selbstverständnis von Lehrern hat und somit auch eng verbunden mit der subjektiven beruflichen Kompetenzzuschreibung ist. In dieser Hinsicht zeigten empirische Befunde von Peez (1991; s. a. Ipfling, Peez & Gamsjäger, 1995), dass die berufliche Zufriedenheit der meisten Lehrer von deren Haupttätigkeit, nämlich der unterrichtlichen Arbeit mit Schülern und dem erzieherischen Erfolg abhing; Rudow (1994) eruierte außerdem die Struktur der Lehrer- Schüler-Beziehung als eine Hauptdeterminante der Arbeitszufriedenheit von Lehrern. In der Burn-out-Forschung wird vor allem die Bedeutung dieser Lehrer-Schüler-Beziehung für berufliches Scheitern thematisiert. Burnout (s. a. Barth, 1997) geht mit einer deutlich negativeren Sichtweise der eigenen Schulklasse einher. Barth (1997, S. 232) kam nach empirischen Untersuchungen zu dem Schluss: „Die Belastung durch die Schüler trägt eindeutig am meisten zum Ausbrennen von Lehrern bei.“ Operationalisierung von Vertrauen Die bisher aufgeführten Befunde zeigen die Bedeutung einer tragfähigen Lehrer-Schüler- Beziehung für Lehrer und für Schüler. Das Vertrauenserleben eines Interaktionspartners ist kognitiv mit weiteren positiven Wahrnehmungseindrücken verbunden und mündet in die eigene Handlungsplanung. Betrachtet man aber die Modellvorstellungen zur Lehrer- Schüler-Beziehung als solche (s. zusammenfassend Thies, 2000), wird evident, dass die Analyse des Vertrauenserlebens vor dem Hintergrund transaktionaler Modellvorstellungen weiterführende Erkenntnisse liefern wird. Das Vertrauenserleben ist keine feststehende Variable, sondern entwickelt sich im Rahmen der Beziehungsgeschichte von Lehrer(n) und Schüler(n) durch die Verarbeitung personaler und situativer Aspekte (s. a. Schweer, 1997 b). Lehrer und Schüler treten in Interaktion zueinander und modifizieren das eigene Verhalten auch anhand der Wahrnehmung des Verhaltens des Interaktionspartners. Dieses allgemeine interaktionsrelevante Phänomen (s. u. a. Schweer & Thies, 2000) tritt nun bei der Analyse des Vertrauens in besonders drastischer Weise zu Tage, da Vertrauen immer mit einer Reziprozitätserwartung verbunden ist: Wer Vertrauen investiert, erwartet, dass der Interaktionspartner dieses Vertrauen erwidert (u. a. Petermann, 1996). Von daher spielt gleichermaßen das tatsächliche Vertrauen des einen Interaktionspartners, aber auch dessen subjektive Dekodierung durch den anderen Interaktionspartner (und umgekehrt) eine bedeutsame Rolle für die Genese und die Stabilität der Vertrauensbeziehung. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass Lehrer und Schüler das investierte Vertrauen des jeweils anderen zumindest antizipieren. Ferner zeigten bereits die Befunde von Hofer zum differentiellen Lehrerhandeln (1981, 1986), dass Lehrer - trotz gegenteiliger überwiegend ideologisch gefärbter Postulate - eben nicht jeden Schüler gleich behandeln (können). Überträgt man diese Befunde auf die Genese von Vertrauensbeziehungen, liegt nahe, dass konkrete Beziehungen zwischen einem Lehrer und einem Schüler in das Erkenntnisinteresse rücken müssen, um derart komplexe Prozesse, wie die Vertrauensgenese, näher beleuchten zu können. Die alleinige Betrachtung von personalen Variablen der Lehrer und Informationsverarbeitungsprozessen auf Seiten der Schüler kann nur einen Teil des resultierenden Vertrauenserlebens erklären. Auf bereits etablierte Verfahren wie etwa die „social relations analysis“ (exemplarisch s. Kenny, 1991, 1994; Kenny & Albright, 1987) 88 Barbara Thies konnte allerdings für das hier verfolgte Erkenntnisinteresse nicht zurückgegriffen werden. Verfahren wie die „social relations analysis“ ermöglichen im Wesentlichen das Verfolgen zweier Fragestellungen: Zum einen werden hierbei die Beziehungen zwischen tatsächlich messbaren Dispositionen und deren Wahrnehmung durch soziale Interaktionspartner analysiert (also beispielsweise um die Frage, wie akkurat eine Person X die Ängstlichkeit einer Person Y beurteilen kann), letztendlich geht es hier also um Fragen der Wahrnehmungsgenauigkeit. Zum anderen ermöglichen solche Ansätze die Analyse von Wahrnehmungsübereinstimmungen zwischen verschiedenen Beobachtern, d. h. wodurch kommen ähnliche Eindrücke z. B. über die Vertrauenswürdigkeit eines spezifischen Lehrers durch eine Gruppe von Schülern wie etwa eine Schulklasse zustande. Eine solche Analyse war für die hier verfolgten Fragestellungen wenig zielführend, da weniger das Zustandekommen von Wahrnehmungsurteilen als vielmehr die Auswirkungen von wechselseitigen Wahrnehmungsurteilen für die Interaktion zwischen Lehrern und individuellen Schülern im Erkenntnisinteresse stehen. Für die Vertrauensforschung kommt erschwerend hinzu, dass eine dezidierte und interindividuell gültige Operationalisierung von Vertrauen und den zugehörigen Indikatoren vor dem Hintergrund der oben skizzierten empirischen Befunde zumindest fragwürdig erscheint. Solche Unterfangen, Vertrauen eindeutig (etwa durch das Ausmaß an kooperativem Verhalten) messbar zu machen, wie sie ja vor allem experimentalpsychologisch von Deutsch und seinen Schülern (Deutsch, 1958, 1962; Pruitt & Kimmel, 1977; Wrightsman, 1966) vorgelegt wurden, sind im Rahmen der Vertrauensforschung für reale Interaktionsbeziehungen verworfen worden bzw. fanden aufgrund der erörterten Problematik keinen Niederschlag in neueren empirischen Arbeiten. Der hier vorgestellten Argumentationslinie folgend, ist also anzunehmen, dass die alleinige Betrachtung einer der beiden Perspektiven, also die ausschließliche Fokussierung des Lehrer- oder des Schülervertrauens, zur Erforschung des tatsächlichen vertrauensrelevanten Interaktionsverhaltens unzureichend ist. Von daher wird im Folgenden ein dyadischer Analyse-Ansatz vorgestellt und mit empirischen Befunden unterlegt (s. a. Thies, 2002). Es wird also nicht nur das Vertrauenserleben von Lehrern und/ oder Schülern isoliert betrachtet, sondern zueinander in Beziehung gesetzt. Fragestellungen Im Zentrum der hier vorgestellten Untersuchung steht das Vertrauenserleben von Lehrern und Schülern und die damit verbundene Frage nach der Reziprozität von Vertrauensbeziehungen: Reicht die - vielfach übliche - Erfassung von Beziehungsqualität über die Befragung eines Interaktionspartners aus oder müssen hier vermittelnde Prozesse angenommen werden? Es wird untersucht, inwiefern sich innerhalb der Stichprobe wechselseitige Vertrauensbeziehungen finden und ob personale Faktoren auf Seiten von Lehrern und/ oder Schülern Einfluss nehmen. Als personale Variablen wurden die Vertrauenstendenz und die subjektive Relevanz von Vertrauen erhoben, um zu prüfen, ob Schüler bzw. Lehrer, die Vertrauen für möglich und wichtig erachteten, auch tatsächlich eher Vertrauensbeziehungen realisierten. Darüber hinaus sollte analysiert werden, ob Lehrer und Schüler wechselseitig in der Lage sind, das Vertrauenserleben des jeweils anderen zu entschlüsseln. Die Analysen wurden sowohl auf der Ebene des Subsystems Schulklasse als auch auf der direkten dyadischen Ebene zwischen je einem Lehrer und einem Schüler durchgeführt. D. h., dass für die gesamte Stichprobe Dyaden aus je einem Schüler und einem Lehrer gebildet wurden, um die tatsächliche Qualität der (Vertrauens-)Beziehungen individuell beschreibbar zu machen. Im Zentrum steht also die Frage, ob typische Muster in der dyadischen vertrauensrelevanten Interaktion bestimmbar sind. Dyadisches Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern 89 Methode Stichprobe und Messinstrumente Sechs Schulklassen der Jahrgangsstufen 7 bis 10 mit jeweils einem dazugehörigen Lehrer bildeten die grundlegende Analyseeinheit. Die Lehrer waren zwischen 38 und 52 Jahren alt; die Berufserfahrung variierte von 10 bis 27 Jahren. 83 Schülerinnen und 56 Schüler (bei 4 fehlenden Werten zur Geschlechtszugehörigkeit, so dass insgesamt 143 Schülerurteile vorlagen) nahmen an der dyadischen Untersuchung teil. Die Hälfte der Klassen stammte aus Jahrgangsstufe 7 - 8, die andere Hälfte aus Jahrgangsstufe 9 - 10. Auf eine nähere Differenzierung musste aufgrund der potenziellen Zuordenbarkeit der Lehrer aus Datenschutzgründen verzichtet werden. Die dyadische Untersuchung erfolgte im Jahr 2000 zum Schuljahresende (so dass eine hinreichende Beziehungsdauer zwischen Lehrern und Schülern sichergestellt war) an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Lehrer und Schüler bearbeiteten jeweils einen Fragebogen; die Konstruktion der Messinstrumente erfolgte bei den Lehrern auf der Basis einer qualitativen Vorstudie (Thies, 2002), bei den Schülern konnte auf die Itempools hinlänglich etablierter Messinstrumente zurückgegriffen werden (Schweer, 1996). Lehrer und Schüler beurteilten auf 7-stufigen Skalen relevante Aspekte des Vertrauens in der Lehrer-Schüler-Beziehung, u. a. wurden die Vertrauenstendenz und die subjektive Relevanz von Vertrauen erhoben (Items: „Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern ist nicht möglich“; „Das Vertrauen zu Lehrern/ Schülern ist mir wichtig“). Zusätzlich wurden Schülern und Lehrern parallele Messinstrumente vorgelegt, die jeweils aus Einschätzungen des konkreten Interaktionspartners sowie der eigenen Person bestanden, für die Schüler u. a. Fragen zur Beurteilung der Unterrichtsqualität (selbstberichtete Unterrichtsstörungen, Interaktionsunzufriedenheit, letztere auf der Basis der Analysen von Schweer, 1996, operationalisiert über das Item „Ich hätte lieber einen anderen Lehrer als diesen“), Interesse am Unterrichtsfach, wahrgenommene Beurteilung der eigenen Person bzw. des Leistungsverhaltens durch den Lehrer (Beispielitems: „Dieser Lehrer hält mich für einen schlechten Schüler“; „Dieser Lehrer will mir wirklich was beibringen“; „Bei diesem Lehrer störe ich gelegentlich den Unterricht“). Die Lehrer beurteilten u. a. das Leistungsverhalten des Schülers, wahrgenommene Unterrichtsstörungen, Vertrauenshandlungen des Schülers (Beispiele: „Dieser Schüler hat mir schon aus seinem Privatleben erzählt“; „Dieser Schüler hat keine Angst vor mir“; „Dieser Schüler fühlt sich von mir schlecht benotet“). Die Lehrer beurteilten also im Rahmen eines Kurzfragebogens mit 15 Items jeden konkreten Schüler. Das Vertrauen wurde jeweils in den parallelen Fragebogenteilen (Lehrerbeurteilung durch die Schüler und Kurzfragebogen der Lehrer) eindimensional erfasst (Ausmaß an Zustimmung zu folgenden Aussagen: „Ich vertraue diesem Lehrer/ Schüler“; „Dieser Lehrer/ Schüler vertraut mir“). Faktorenanalytisch ließen sich aus dem Itempool für die Schüler vier Faktoren vertrauensfördernden Lehrerverhaltens ermitteln: Vertrauensförderndes Interaktionsverhalten (u. a. „Dieser Lehrer hält Versprechen ein“), vertrauensförderndes Lehrverhalten (u. a. „Dieser Lehrer benotet gerecht“), Signalisieren von Sicherheit (u. a. „Bei diesem Lehrer habe ich keine Angst“) sowie Vertrauensvorleistungen des Lehrers („Dieser Lehrer spricht mich von sich aus an“), die insgesamt knapp 70 % der Varianz aufklären. Das Schülervertrauen („Ich vertraue diesem Lehrer“) korrelierte mit jedem Faktor hochsignifikant (von r = .52 bis r = .70), so dass die Erfassung von Vertrauen als „Globalurteil“ gerechtfertigt erschien. Für das Lehrervertrauen konnte keine Faktorenanalyse berechnet werden, eine Korrelationsanalyse zeigte aber auch hier, dass das Lehrervertrauen mit den Schülerbeurteilungen signifikant korrelierte (von r = .28 bis r = .60), also auch hier das Vertrauenserleben als Indikator der Beziehungsqualität herangezogen werden kann (für weitere methodische Details s. Thies, 2002). Aus den sechs untersuchten Schulklassen ließen sich 143 eindeutig zuordenbare Dyaden für die weitere Analyse verwenden, d. h. der Datenpool umfasste die Einschätzungen von 143 Schülern und 143 Urteile von sechs Lehrern über diese konkreten Schüler. Die Erhebungen wurden auf freiwilliger Basis jeweils im Klassenverband durchgeführt, die Zuordnung zu den Dyaden erfolgte über die Rangfolge der Schüler im Klassenbuch, diese wurde auf den Schülerbögen und dem vom Lehrer bearbeiteten Kurzfragebogen notiert. Im Anschluss wurden alle Fragebögen in einem Umschlag verschlossen, so dass neben der datenschutzrechtlichen Notwendigkeit die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schulklasse kodierbar war. Auf diese Weise ließen sich sämtliche Fragebögen jeweils einer konkreten Dyade zuordnen. Die Analyse der Vertrauensbeziehungen auf der Schulklassenebene wurde sowohl über Mittelwertunterschiede als auch über Korrelationen der einzelnen Items durchgeführt. Dem lag die Überlegung zugrunde, dass nichtsignifikante Mittelwerte Aussagen über die Kompatibilität der Intensitäten des Vertrauens auf der Schulklassenebene zulassen, signifikante Korrelationen hingegen (ggf. zusätzlich) Aussagen über die Differenziertheit des Vertrauenserlebens innerhalb der Schulklasse ermöglichen. Folgende Fragen wurden geprüft: (a) Wie intensiv vertrauen sich Lehrer und Schüler in den untersuchten Schulklassen? 90 Barbara Thies (b) Erkennen Lehrer und Schüler, ob der jeweils andere ihnen Vertrauen entgegenbringt? (c) Erzielt die dyadische Analyse einen höheren Erkenntnisgewinn im Hinblick auf die Beziehungsqualität zwischen Lehrern und Schülern als die alleinige Betrachtung des Vertrauenserlebens eines Interaktionspartners? (d) Hängt das Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern mit der Interaktionszufriedenheit zusammen? (e) Hängt das Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern mit der (wahrgenommenen) Leistungsfähigkeit der Schüler zusammen? (f) Welche Bedeutung haben personale Einflussfaktoren bei Lehrern und Schülern auf die Qualität der realisierten Vertrauensbeziehungen? Ergebnisse Intensitäten erlebten Schüler- und Lehrervertrauens Zunächst werden die für die weiteren Ausführungen zentralen Befunde auf der schulklassenspezifischen Ebene dargestellt. Aufgrund der für das Vertrauenserleben zentralen reziproken Wahrnehmungsprozesse wurden insgesamt vier Vertrauensmaße erhoben, jeweils bei Lehrern und Schülern das eigene Vertrauenserleben, aber auch das wahrgenommene Vertrauen auf Seiten des Interaktionspartners (s. Tabelle 1). Tabelle 2 zeigt die entsprechenden Mittelwerte für die sechs untersuchten Schulklassen (für die einzelnen Signifikanztests s. Thies, 2002), gleichzeitig sind die signifikanten Korrelationen zwischen den vier zentralen Vertrauensmaßen vermerkt (s. Tabelle 2). Sämtliche Vertrauensmaße unterschieden sich in den einzelnen Schulklassen stark voneinander, in allen Klassen wurde das Lehrervertrauen von den Schülern deutlichst unterschätzt (von Diff. = 0.61 bis Diff. = 2.22). In den Schulklassen 2 bis 5 ergaben sich auf der Klassenebene keine signifikanten Unterschiede zwischen der vom Schüler erlebten und der vom Lehrer wahrgenommenen Vertrauensintensität. Die korrelativen Befunde zeigten lediglich für Schulklasse 3 einen signifikanten Zusammenhang (r = .50). Unter diesem strengeren methodischen Kriterium gelang es also nur dem Lehrer dieser Schulklasse, die Vertrauensintensitäten innerhalb seiner Klasse nicht nur im Durchschnitt, sondern auch in der Richtung zu dekodieren: Er erkannte, welche Schüler ihm ein hohes und welche ihm ein geringes Maß an Vertrauen entgegenbrachten. Für das Lehrervertrauen zeigten die Befunde, dass die Schüler dreier Schulklassen (2, 3 und 5) jeweils erkannten, ob der Lehrer ihnen eher mehr oder eher wenig Vertrauen schenkte; allerdings hatten sich hier - wie in allen Schulklassen - signifikante Unterschiede zwischen dem vom Lehrer berichteten und dem vom Schüler wahrgenommenen Vertrauen ergeben. Insgesamt bedeuteten diese Befunde, dass diese Schüler zwar systematisch das Lehrervertrauen unterschätzten, aber die unterschiedlichen Intensitäten sehr wohl erkannt haben. In Bezug auf die Reziprozität des Vertrauens zeigten sich für fünf der untersuchten Schul- Untersuchungsgegenstand Untersuchungsgegenstand „Schüler“ „Lehrer“ Erlebtes Vertrauen in Schülervertrauen Lehrervertrauen den Interaktionspartner („Ich vertraue diesem Lehrer“) („Ich vertraue diesem Schüler“) Wahrgenommenes Wahrgenommenes Wahrgenommenes Vertrauen bei dem Lehrervertrauen Schülervertrauen Interaktionspartner („Dieser Lehrer vertraut mir“) („Dieser Schüler vertraut mir“ ) Tabelle 1: Erhobene Vertrauensmaße Dyadisches Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern 91 klassen signifikante Korrelationen zwischen dem wahrgenommenen Lehrervertrauen und dem Schülervertrauen, wenngleich teilweise Unterschiede in den Intensitäten bestanden (Klassen 2 und 5). Ferner zeigten die durchgängig signifikanten Korrelationen zwischen dem Lehrervertrauen und dem wahrgenommenen Schülervertrauen in allen Schulklassen, dass in den kognitiven Strukturen der Lehrer, aber auch der Schüler, Entsprechungen vorliegen. Sowohl auf Seiten der Lehrer als auch auf Seiten der Schüler wurden also überwiegend reziproke Beziehungen wahrgenommen. Interaktionsmuster auf der dyadischen Ebene Um über alle untersuchten Schulklassen hinweg auf der dyadischen Ebene etwaige Subgruppen eruieren zu können, wurde eine Clusteranalyse über die vier vertrauensrelevanten Items (Schülervertrauen, wahrgenommenes Schülervertrauen, Lehrervertrauen, wahrgenommenes Lehrervertrauen, s. Tabelle 1) gerechnet. Aufgrund dieser Variablenkonstellation gingen also Dyaden aus je einem Lehrer und einem Schüler (und nicht einzelne Versuchspersonen) in die Clusteranalyse ein. Dies gewährleistete, dass die zugrunde gelegten Schüler- Wahrgenom. Lehrer- Wahrgenom. Signifikante vertrauen Schülervertrauen Lehrer- Korrelationen (SV) vertrauen (LV) vertrauen (WSV) (WLV) M SD M SD M SD M SD Schulklasse 1 3.50 1.67 4.50 1.19 5.26 1.15 3.74 1.41 SV - WLV (r = .608, p < .01) LV - WSV (r = .587, p < .01) Schulklasse 2 3.85 1.85 3.93 1.67 4.26 1.87 3.37 1.78 SV - LV (r = .466, p < .05); SV - WLV (r = .798, p < .001) LV - WLV (r = .617, p < .01) LV-WSV (r = .808, p < .001); WSV - WLV (r = .445, p < .05) Schulklasse 3 4.68 1.41 4.88 1.01 5.09 1.24 4.48 1.12 SV - WSV (r = .498, p < = .05); LV - WLV (r = .426, p < .05) LV-WSV (r = .609, p < .01) WSV - WLV (r = .438, p < .05) Schulklasse 4 3.60 1.66 4.24 1.59 4.56 1.73 3.20 1.58 SV - WLV (r = .477, p < .05) LV-WSV (r = .736, p < .001) Schulklasse 5 4.64 1.50 3.86 1.88 5.18 1.87 4.09 1.74 SV - LV (r = .443, p < .05) SV - WLV (r = .889, p < .001) LV - WLV (r = .507, p < .05) LV-WSV (r = .616, p < .01) Schulklasse 6 4.04 1.81 5.50 1.01 6.26 0.69 4.04 1.40 SV - LV (r = .433, p < .05) SV - WLV (r = .616, p < .01) LV-WSV (r = .419, p < .05) Tabelle 2: Schüler- und Lehrervertrauen in den untersuchten Schulklassen (N = 2 x 143) Anmerkung: Für die kursiv gesetzten korrelativen Beziehungen zwischen den Vertrauensmaßen ergeben sich keine signifikanten Mittelwertsunterschiede auf der Schulklassenebene; 7-stufige Skala (1 = „trifft überhaupt nicht zu“; 7 = „trifft völlig zu“); M = Mittelwert; SD = Standardabweichung; Korrelationskoeffizient „r“ (Pearson; 1-seitig) 92 Barbara Thies Ähnlichkeitskriterien in der Konstellation des wechselseitigen Vertrauens bzw. dessen wechselseitiger Wahrnehmung bedingt liegen. Aus inhaltlichen und statistischen Gründen erwies sich eine 4-Clusterlösung als am besten geeignet, den vorliegenden Datensatz zu beschreiben (s. Tabelle 3). In den in der untersuchten Stichprobe am häufigsten gefundenen Dyaden von Cluster 3 (N = 56) finden sich wechselseitig gelungene Vertrauensbeziehungen, das Lehrervertrauen ist hier besonders stark, aber auch das Schülervertrauen ist vergleichsweise hoch, und wird angemessen dekodiert. Die Dyaden in Cluster 4 (Dyadentyp: einseitiges Lehrervertrauen) (N = 39) sind ebenfalls durch hohes Lehrervertrauen, aber durch Einseitigkeit charakterisiert, der Lehrer nahm zwar ein mittleres Schülervertrauen wahr und erwiderte dieses; beides findet aber keinen Niederschlag auf Seiten der Schüler: Sie vertrauten dem Lehrer kaum, und glaubten auch nicht, dass dieser ihnen hohes Vertrauen entgegenbrachte. In Cluster 1 (Dyadentyp: einseitiges Schülervertrauen) (N = 34) herrscht hohes Vertrauen des Schülers in den Lehrer vor; dieses wurde vom Lehrer jedoch nicht hinreichend wahrgenommen. Charakteristisch für diese Dyaden ist also ebenfalls die Einseitigkeit der Vertrauensbeziehung, das hohe Schülervertrauen ist unerkannt und unerwidert. Die vergleichsweise seltenen Dyaden in Cluster 2 (Dyadentyp: wechselseitig misslungene Vertrauensbeziehungen) zeichnen sich durchgängig durch niedrige Vertrauensintensitäten aus: Sowohl die Schüler als auch die Lehrer vertrauten dem jeweils anderen nur gering; dies wurde auch entsprechend wahrgenommen. Abbildung 1 verdeutlicht die psychologischen Zusammenhänge des Vertrauenserlebens für die einzelnen Dyadentypen. Die Abbildung zeigt zwei ausgewogene und zwei nichtausgewogene Dyadentypen. Sie zeigt aber auch, dass an der Schnittstelle zwischen Lehrer- und Schülervertrauen vermittelnde Prozesse angenommen werden müssen. Zentral ist hierbei die Frage, warum in zwei der vier Dyadentypen (hier durch die gestrichelten Linien gekennzeichnet) keine Wechselseitigkeit zustande gekommen war. Um dies zu analysieren, wurden sowohl die direkten Wahrnehmungsprozesse bei Lehrern und Schülern als auch personale Einflussvariablen analysiert. Dyadentyp 1 Dyadentyp 2 Dyadentyp 3 Dyadentyp 4 Einseitiges Wechselseitig Wechselseitig Einseitiges SV misslungen gelungen LV (N = 34) (N = 14) (N = 56) (N = 39) Sig. M SD M SD M SD M SD Schülervertrauen 5.15 0.89 2.29 1.14 5.09 1.00 2.26 1.02 1-2; 1-4; 2-3; 3-4 Wahrgenommenes 4.34 1.13 1.64 1.08 4.08 1.07 2.74 1.19 1-2; 1-4; 2-3; Lehrervertrauen 2-4; 3-4 Lehrervertrauen 4.24 1.33 1.57 0.76 6.14 0.70 5.49 0.60 1-2; 1-3; 1-4; 2-3; 2-4; 3-4 Wahrgenommenes 3.32 1.07 2.07 0.92 5.63 0.78 4.69 1.06 1-2; 1-3; 1-4; Schülervertrauen 2-3; 2-4; 3-4 Tabelle 3: Mittelwertunterschiede bei der 4-Clusterlösung (N = 143 Dyaden) Anmerkung: Clusterzentrenanalyse; SV = Schülervertrauen; LV = Lehrervertrauen; Sig. = signifikante Unterschiede zwischen Clustern. Angegeben sind die Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der Cluster auf den jeweiligen (7-stufigen) Variablen, p < .05 (jeweils über einzelne 2-seitige t-tests abgesichert) Dyadisches Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern 93 Dyadentypische Unterschiede in der Beurteilung unterrichts- und interaktionsrelevanter Variablen Im Folgenden werden die dyadentypischen Beurteilungen der Unterrichtsqualität und der Lehrerbeurteilung dargestellt. Tabelle 4 gibt die entsprechenden Lehrer- und Schülereinschätzungen wieder. Die Interaktionsunzufriedenheit war bei den Schülern des wechselseitig misslungenen (Typ 2) und des Dyadentyps 4 (einseitiges Lehrervertrauen), also bei denjenigen Schülern, die wenig Vertrauen erleben, am stärksten ausgeprägt. Die Schüler der anderen beiden Dyadentypen waren vergleichsweise zufrieden mit der Interaktionsqualität zu den jeweiligen Lehrern. Dies deckt sich mit der Lehrerperspektive, bei den wechselseitig misslungenen Dyaden (Typ 2) glaubte auch der Lehrer, dass die entsprechenden Schüler unzufrieden sind, eine mäßige Unzufriedenheit wurde den Schülern der einseitigen Schülervertrauen Lehrervertrauen hoch hoch niedrig niedrig Abbildung 1: Zusammenhänge des wechselseitigen Vertrauens bei den verschiedenen Dyadentypen Dyadentyp 1 Dyadentyp 2 Dyadentyp 3 Dyadentyp 4 Einseitiges Wechselseitig Wechselseitig Einseitiges SV misslungen gelungen LV (N = 34) (N = 14) (N = 56) (N = 39) Sig. Unterrichtsqualität M SD M SD M SD M SD Interaktions- 2.91 1.78 5.50 1.95 2.88 1.74 4.79 1.95 1-2; 1-4; 2-3; unzufriedenheit 3-4 der Schüler Wahrgenommene 4.41 1.62 6.21 1.31 3.36 1.45 4.32 1.40 1-2; 1-3; 2-3; Interaktions- 2-4; 3-4 unzufriedenheit der Schüler Selbstberichtete 3.59 1.78 4.71 1.94 3.55 1.85 3.74 1.73 Unterrichtsstörungen Wahrgenommene 4.15 2.31 5.86 1.66 3.02 1.54 3.26 1.74 1-2; 1-3; 2-3; Unterrichtsstörungen 2-4 Lehrerbeurteilung (Schülerperspektive) Dieser Lehrer ist ein 3.12 1.72 4.71 1.77 2.96 1.49 4.51 1.83 1-2; 1-4; 2-3; schlechter Lehrer 3-4 Lehrerbeurteilung (Lehrerperspektive) Der Schüler hält 4.44 1.48 5.43 1.70 3.39 1.12 4.28 1.30 1-3; 2-3; 2-4; mich für einen 3-4 schlechten Lehrer Tabelle 4: Dyadentypische Beurteilung der Unterrichtsqualität und des Lehrers (N = 143 Dyaden) Anmerkung: Clusterzentrenanalyse; Sig. = signifikante Unterschiede zwischen Clustern. Angegeben sind die Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der Cluster auf den jeweiligen (7-stufigen) Variablen, p < .05 (jeweils über einzelne 2-seitige t-tests abgesichert) 94 Barbara Thies Dyadentypen (1 und 4) attestiert. Die Intensität von Unterrichtsstörungen wurde von den Lehrern in allen Dyaden wesentlich stärker akzentuiert als von den Schülern: In der Wahrnehmung der Lehrer wurden Unterrichtsstörungen insbesondere von Schülern des wechselseitig misslungenen Dyadentyps (Typ 2) und etwas weniger stark von Schülern des Dyadentyps 1 (einseitiges Schülervertrauen) realisiert, die Lehrer fühlten sich also primär von denjenigen Schülern gestört, denen sie nicht vertrauten. Es zeigte sich darüber hinaus, dass die Schüler der Dyadentypen 2 (wechselseitig misslungen) und 4 (einseitiges Lehrervertrauen) die jeweiligen Lehrer als „schlechte“ Lehrer empfanden. In Bezug auf die Lehrerperspektive wiederum zeigte sich, dass die Lehrer sich von den Schülern aus den wechselseitig gelungenen Dyaden (Typ 3) noch am wenigsten als schlechter Lehrer beurteilt fühlen, am schlechtesten von denjenigen Schülern der wechselseitig misslungenen Dyaden. Es stellt sich die Frage, ob die doch erheblichen Beurteilungsunterschiede zwischen Schülern (bzw. Lehrern) verschiedener Dyadentypen, sich in der Wahrnehmung der Leistungsfähigkeit der Schüler niederschlagen. Daher wurden die Dyadentypen auf signifikante Unterschiede überprüft (s. Tabelle 5). Die Schüler der vier Dyadentypen unterschieden sich nicht in ihrem selbstberichteten Interesse am Unterrichtsfach des jeweiligen Lehrers (hier liegen allerdings auch sehr hohe Standardabweichungen vor). In der selbstberichteten Mitarbeit allerdings zeigten sich signifikante Unterschiede insbesondere in Hinblick auf Dyadentyp 3: Die Schüler dieses Dyadentyps beteiligten sich am stärksten am Unterricht des jeweiligen Lehrers. Von erheblicher pädagogischer Relevanz ist der Befund, dass die Schüler der verschiedenen Dyadentypen sich darin unterscheiden, ob sie jeweils glaubten, dass ihr Lehrer sie für einen Tabelle 5: Dyadentypische Beurteilung in der Leistungseinschätzung (N = 143 Dyaden) Dyadentyp 1 Dyadentyp 2 Dyadentyp 3 Dyadentyp 4 Einseitiges Wechselseitig Wechselseitig Einseitiges SV misslungen gelungen LV (N = 34) (N = 14) (N = 56) (N = 39) Sig. M SD M SD M SD M SD Interesse am 4.65 2.01 4.14 2.28 4.79 1.99 3.97 2.16 Unterrichtsfach des beurteilten Lehrers Selbstberichtete 4.15 1.56 3.64 2.17 4.82 1.51 3.72 1.69 1-3; 3-4 Mitarbeit Glaube, für einen 3.26 1.73 4.86 2.35 2.27 1.67 3.92 1.86 1-2; 1-3; 2-3; schlechten Schüler 3-4 gehalten zu werden Lehrermeinung, 3.82 1.64 4.29 2.34 2.88 1.31 3.38 1.27 1-3; 2-3 dass der Schüler ein schlechter Schüler ist Schülereinschätzung, 3.30 1.11 3.17 1.03 2.75 0.94 3.59 1.43 1-3; 3-4 ein schlechter Schüler zu sein Anmerkung: Clusterzentrenanalyse; Sig. = signifikante Unterschiede zwischen Clustern. Angegeben sind die Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der Cluster auf den jeweiligen (7-stufigen) Variablen, p < .05 (jeweils über einzelne 2-seitige t-tests abgesichert) Dyadisches Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern 95 schlechten Schüler hält: Die Schüler wechselseitig gelungener Dyaden (Typ 3) glaubten dies kaum und unterschieden sich in dieser Einschätzung signifikant von allen anderen Dyadentypen. Darüber hinaus unterschieden sich diese Schüler auch in der tatsächlichen Lehrereinschätzung ihrer Leistungsfähigkeit und im Selbstbild ihrer Leistungsfähigkeit. Die Schüler aus wechselseitig misslungenen Dyaden (Typ 2) hingegen erkannten, dass der Lehrer sie für vergleichsweise schlechtere Schüler hält, sie selbst sind allerdings weniger dieser Ansicht. Es zeigte sich also insgesamt eine deutliche Konfundierung wechselseitigen Vertrauens mit der Wahrnehmung der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Schüler. Personale Einflussfaktoren auf dyadische Interaktionsmuster Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, worin die ermittelten Unterschiede begründet liegen. Wenn personale Variablen auf Seiten der Lehrer im Vordergrund stehen, dürften sich die sechs Lehrer nicht gleichmäßig auf die einzelnen Dyadentypen verteilen. Von daher wurde eine Häufigkeitsauszählung über die einzelnen Schulklassen (und damit die einzelnen Lehrer) und die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Dyadentypen durchgeführt (s. Tabelle 6). Es zeigte sich, dass es insgesamt kaum systematische Verzerrungen dahingehend gab, dass sich die sechs Lehrer ad personam auf jeweils einem Dyadentyp häuften. Vier der befragten Lehrer finden sich in allen ermittelten Dyadentypen. Zwei der befragten Lehrer (Lehrer 3 und Lehrer 4) lassen sich nicht in den wenig gelungenen Vertrauensbeziehungen (Dyadentyp 2) auffinden (Lehrer 6 findet sich subjektiv nur in gelungenen Vertrauensbeziehungen wieder). Dies ist für sich genommen wenig verwunderlich, da dieser Dyadentyp nur eine geringe Fallzahl (10 % der Dyaden) aufweist. Personale Variablen auf Seiten des Lehrers können demzufolge nur eine geringe Rolle spielen, da alle Lehrer unterschiedliche Vertrauensbeziehungen realisiert haben. Da aber für jeden Lehrer die Analyse für die Schüler einer spezifischen Schulklasse erfolgt war, verbleiben weiterführende Interpretationen auf einer stark spekulativen Ebene. Analog zur Lehrerperspektive stellte sich die Frage, ob es jenseits der dyadischen Interaktion systematische Unterschiede in den vertrauensrelevanten Kognitionen der Schüler, erhoben über die Vertrauenstendenz und die subjektive Relevanz des Vertrauens, gab (s. Tabelle 7). Es zeigte sich, dass sich die Schüler des Dyadentyps 3 (wechselseitig gelungene Vertrauensbeziehungen) hinsichtlich der Ver- Tabelle 6: Verteilung der Dyadentypen auf die einzelnen Schulklassen Dyadentyp 1 Dyadentyp 2 Dyadentyp 3 Dyadentyp 4 Einseitiges Wechselseitig Wechselseitig Einseitiges SV misslungen gelungen LV (N = 34) (N = 14) (N = 56) (N = 39) gesamt Lehrer 1 3 1 7 9 20 Lehrer 2 7 6 8 6 27 Lehrer 3 9 - 12 4 25 Lehrer 4 8 4 6 7 25 Lehrer 5 7 3 8 4 22 Lehrer 6 - - 15 9 24 gesamt 34 14 56 39 143 96 Barbara Thies trauenstendenz systematisch von allen anderen Dyadentypen unterschieden: Bei ihnen war die Vertrauenstendenz am stärksten ausgeprägt; die anderen Cluster unterschieden sich diesbezüglich nicht signifikant. Ebenfalls dyadentypische Unterschiede fanden sich in Bezug auf die subjektive Relevanz des Vertrauens in der Lehrer-Schüler-Beziehung: Die Dyadentypen 1 (wechselseitig gelungen) und 3 (einseitiges Schülervertrauen) maßen dem Vertrauen in diesem Lebensbereich eine höhere Bedeutung bei als die Schüler der Dyaden 2 (wechselseitig misslungen) und 4 (einseitiges Lehrervertrauen). Diskussion Die vorgestellten empirischen Befunde zeigten zusammengenommen, dass Vertrauen ein relevantes Beziehungsmerkmal für den schulischen Alltag darstellt. Im Einzelnen hat sich gezeigt: (a) Schüler neigten dazu, dass Lehrervertrauen zu unterschätzen, Lehrer hingegen tendierten zu einer Überschätzung des Schülervertrauens. Dies trifft vermutlich auch für die Interaktion zwischen den Eltern der Schüler und ihren Kindern zu, entsprechende Befunde liegen bislang m. E. nicht vor (zur allgemeinen Tendenz, die Reziprozität von Beziehungen zu überschätzen, s. a. Neubauer, 1990). (b) Die Interaktionszufriedenheit der Schüler korrespondierte mit ihrem in den Lehrer investierten Vertrauen. (c) Es ließen sich wechselseitig gelungene und wechselseitig misslungene Lehrer-Schüler-Dyaden ermitteln, darüber hinaus fanden sich auch einseitige Dyaden. Die wechselseitigen Dyadentypen sind insofern im Gleichgewicht, als Einstellung und Befindlichkeit des jeweils anderen angemessen wahrgenommen wurden. (d) Die Lehrer verteilten sich annähernd gleichmäßig über die Dyadentypen, nahezu alle Lehrer realisierten also gelungene und misslungene Vertrauensbeziehungen. Bei den Schülern ließen sich die Vertrauenstendenz und die subjektive Relevanz des Vertrauens zu einem Lehrer als personale Antezedenzien ermitteln. (e) Die Zugehörigkeit zu einem Dyadentyp hängt mit leistungsthematischen Variablen zusammen: Die Schüler in wechselseitig gelungenen Dyaden hielten sich für gute Schüler und gingen davon aus, dass der Lehrer sie ebenfalls für gute Schüler hält, auch berichteten sie über eine stärkere Mitarbeit im Unterricht. (f) Die empirischen Befunde unterstreichen die Relevanz der dyadischen Perspektive; die alleinige Betrachtung des Schüler- oder des Lehrervertrauens würde zu nicht angemessenen Rückschlüssen auf den schulischen Alltag führen. Auf der schulklassenspezifischen Ebene zeigte sich, dass Vertrauen als Beziehungsmerkmal in den verschiedenen Schulklassen unterschiedlich stark realisiert wurde, es zeigte sich aber auch, dass es neben unterschiedlichen Intensitäten des Vertrauenserlebens starke Unterschiede in der Reziprozität des Vertrauens Dyadentyp 1 Dyadentyp 2 Dyadentyp 3 Dyadentyp 4 Einseitiges Wechselseitig Wechselseitig Einseitiges SV misslungen gelungen LV (N = 34) (N = 14) (N = 56) (N = 39) Sig. M SD M SD M SD M SD Vertrauenstendenz 3.97 1.43 3.69 1.03 4.62 1.46 4.61 1.41 1-3; 2-3; 3-4 Subjektive Relevanz 5.41 1.50 4.57 1.70 5.32 1.65 4.59 1.70 1-4; 3-4 Tabelle 7: Dyadentypen und allgemeine vertrauensrelevante Kognitionen (N = 143 Dyaden) Anmerkung: Clusterzentrenanalyse; SV = Schülervertrauen; LV = Lehrervertrauen; Sig. = signifikante Unterschiede zwischen Clustern. Angegeben sind die Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) der Cluster auf den jeweiligen (7-stufigen) Variablen, p < .05 (jeweils über einzelne 2-seitige t-tests abgesichert) Dyadisches Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern 97 und in der Dekodierung durch die jeweiligen Interaktionspartner gab: So gelang es vier Lehrern der sechs untersuchten Schulklassen, das Vertrauenserleben der Schüler insgesamt annähernd zu dekodieren (die Unterschiede in den Vertrauensintensitäten der Schüler und deren Wahrnehmung durch den Lehrer waren auf der Mittelwertsebene nicht signifikant; auf der individuellen Ebene gelang dies wiederum nur einem dieser vier Lehrer, die Beurteilungen korrelierten nur in dieser Schulklasse signifikant). Dieser Befund lässt sich dahingehend interpretieren, dass es Lehrern leichter gelang, das Schülervertrauen als unterrichtsklimatische Variable zu entschlüsseln, die differentielle Dekodierung war ungleich schwieriger. Eine leichte Dekodierung war vor allem dann möglich, wenn der Schüler eine Vertrauenshandlung (u. a. Selbstöffnung, Bitte um Feedback, s. a. Schweer, 1996) realisierte, dies wiederum setzte einen Anlass voraus: Ein Schüler, der sich jederzeit vertrauensvoll an einen spezifischen Lehrer wenden würde, dies aber nur dann tut, wenn er sich in einer problematischen Situation oder aber zumindest nicht in einer Routinesituation befindet. Die Auftretenswahrscheinlichkeit von Vertrauenshandlungen im schulischen Alltag dürfte dann insgesamt wenig häufig sein. Ungünstig bzw. problematisch für den Lehrer ist neben dem wechselseitig misslungenen Dyadentyp 2 (niedrige Vertrauensintensitäten bei Lehrern und Schülern) vor allem der Dyadentyp 4 (einseitiges Lehrervertrauen). Zwar vertraute der Lehrer diesen Schülern, erkannte aber nicht, dass diese ihn ablehnten. Möglicherweise wollten oder konnten diese Schüler das Vertrauen des Lehrers nicht erwidern oder aber hatten das Vertrauen in ihn verloren (vorhandene Untersuchungen mit verschiedenen pädagogischen Stichproben zeigten, dass jeweils etwa die Hälfte der Lernenden die Erfahrung eines Vertrauensverlustes gemacht hatte, s. a. Schweer & Thies, 1996; Schweer, 1997 d). Ferner ist nicht auszuschließen, dass diese Schüler sich strategisch verhalten hatten und dem Lehrer eine positive Interaktion „vorgespielt hatten“. Unabhängig davon, welche Erklärung hier zutrifft, muss sich eine solche Situation langfristig belastend auch auf die Schüler ausgewirkt haben. Die Zugehörigkeit zu einem Dyadentyp hängt auch mit dem (wahrgenommenen) Leistungsverhalten der Schüler zusammen. Insbesondere die Schüler des Dyadentyps 3 (hohes Vertrauen bei Lehrern und Schülern) unterschieden sich systematisch von den anderen Dyadentypen: Sie hielten sich für gute Schüler und wußten, dass der Lehrer dies auch von ihnen glaubt; gleichzeitig berichteten sie über die höchste Mitarbeit im Unterricht. Betrachtet man parallel dazu die Schüler, die zum Dyadentyp 1 gehören (einseitig hohes Schülervertrauen), zeigt sich, dass diese Schüler zwar dem Lehrer vertrauten, sich selbst aber für eher schlechte Schüler gehalten haben (diese Ansicht teilte der Lehrer), darüber hinaus arbeiteten sie weniger mit. Sofern es sich hierbei tatsächlich um schlechtere Schüler gehandelt hat, ist nicht auszuschließen, dass der Lehrer hier kein Vertrauen aufbauen konnte, da diese Schüler seinen Unterrichtszielen im Wege standen. Möglicherweise sind Leistungsfähigkeit, zumindest aber Leistungsbereitschaft relevante Aspekte der impliziten Vertrauenstheorien von Lehrern (was diese in direkten Befragungen - ggf. aus Gründen der sozialen Erwünschtheit - mehrheitlich verneinten, s. Thies, 2002). Um das tatsächliche Ausmaß eines solchen Zusammenhangs abschätzen zu können, bedarf es allerdings in weiterführenden empirischen Arbeiten eines objektiven Außenkriteriums (z. B. Lernbzw. Leistungstests) sowie eines längsschnittlichen Untersuchungsdesigns, da zum jetzigen Zeitpunkt die Frage offen bleiben muss, ob Lehrer leistungsstärkeren Schülern generell leichter bzw. stärker vertrauen oder aber der motivationale Effekt von Vertrauen zu einem Leistungsanstieg führt. Auf Seiten der Schüler waren die Vertrauenstendenz und die subjektive Relevanz des Vertrauens bedeutsam für die Vertrauensgenese: Es sind diejenigen Schüler, für die das Vertrauen zu einem Leh- 98 Barbara Thies rer sehr wichtig war, die hohes Vertrauen zeigten. Ob sie nun aber zum Dyadentyp 1 (wechselseitig gelungen) oder 3 (einseitiges Schülervertrauen) gehören, hängt von der spezifischen Interaktion mit dem Lehrer ab. Vermutlich bestand für diese Schüler eine höhere psychologische Notwendigkeit, ihrem Lehrer vertrauen zu können, so dass sie dies (zumindest zunächst) auch dann taten, wenn das Vertrauen nicht erwidert wurde. Zusammengenommen zeigten die Befunde, dass Vertrauen eine zentrale Variable im schulischen Alltag darstellt und die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung entscheidend prägt. Pädagogisch von hoher Relevanz ist die Konfundierung von Vertrauen mit leistungsthematischen Variablen. Es waren die schwächeren Schüler, die weniger stark das Vertrauen des Lehrers gewonnen hatten, gleichwohl gerade diese Schüler eher von einer vertrauensvollen Beziehung profitieren würden, nicht zuletzt aufgrund starker Beziehungen zwischen Vertrauen und motivationalen Variablen (s. a. Wentzel, 1999; Thies, 2002): Das Vertrauen zu einem Lehrer ermöglicht zumindest eine angstfreiere Lernatmosphäre und lässt die Schüler möglicherweise „unbedarfter“ neue Lernwege beschreiten. Vertrauen erhöht die Anstrengungsbereitschaft, vertrauende Schüler verlassen sich sicherlich auch darauf, dass diese (angemessen) honoriert wird. In dieser Hinsicht lassen sich auch Befunde aus der Leistungsmotivationsforschung (u. a. Rheinberg, 2000) bzw. zur Bezugsnormorientierung von Lehrern (u. a. Rheinberg, 2001) heranziehen, um das Entstehen positiver bzw. negativer Leistungsentwicklungen auf der Grundlage gelungener oder misslungener Vertrauensbeziehungen näher beleuchten zu können. Denkbar wäre beispielsweise, dass das mit einer individuellen Bezugsnormorientierung verbundene „Feedback-Verhalten“ von Lehrern mit Bestandteilen der impliziten Vertrauenstheorien von Schülern zusammenfällt. Hinzu kommt, dass eine primär über Anstrengung argumentierende Leistungsrückmeldung sich positiv auf die Entwicklung bzw. Festigung des Leistungsmotivs auswirkt. Ergänzend lässt sich die in weiteren Untersuchungen zu beantwortende Frage formulieren, ob es sich bei den einseitigen Dyaden mit hohem Schülervertrauen um ängstliche bzw. schüchterne Schüler handelt, die dem Lehrer die Einschätzung erschweren, da sie sich unauffällig verhalten (zur Auftretenswahrscheinlichkeit unauffälligen oder angepassten Verhaltens bei ängstlichen Schülern s. a. Czeschlik, 2000; Kagan, 1994). Hinzu kommt, dass diejenigen Schüler, denen der Lehrer kein Vertrauen entgegenbrachte, auch wussten, dass der Lehrer sie für eher schlechtere Schüler hält. Eine solche Lehrerbeurteilung kann sich nun - zumindest bei jüngeren Schülern - tatsächlich auf das Fähigkeitsselbstbild dieser Schüler auswirken (s. zusammenfassend Fend & Stöckli, 1997). Im Sinne eines verantwortungsvollen Umgangs mit den Schülern müssen Lehrer also reflektieren, woran sie im Einzelnen die Vertrauenswürdigkeit eines Schülers, aber auch dessen Leistungsverhalten festmachen. Da diese Prozesse oftmals automatisiert ablaufen, lassen sich negative Kreislaufprozesse nur dadurch aufbrechen, dass der einzelne Lehrer seine Reflexionsbereitschaft aktiv erhöht. Die Auffindung unausgewogener Dyadentypen zeigte, dass die alleinige Betrachtung des Vertrauenserlebens von Lehrern oder Schülern tatsächlich wenig Rückschlüsse auf die Interaktionsqualität im schulischen Alltag zulässt und verweist auf die Relevanz mehrdimensionaler Erfassungen von Vertrauen, um ein realitätsnahes Bild bestehender Vertrauensbeziehungen und ihrer Korrelate im schulischen Alltag zu erhalten. 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Dr. Barbara Thies Hochschule Vechta Driverstraße 22 D-49377 Vechta Tel. (0 44 41) 1 54 90 Fax (0 44 41) 1 55 48 E-Mail: barbara.thies@uni-vechta.de
