eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 52/4

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2005
524

Lesenlernen leicht gemacht

101
2005
Christof C. Krischer
Wolfgang H. Zangemeister
Ralf Meißen
Anhand amerikanischer und deutscher Veröffentlichungen erläutern wir, dass beim Lesen neben der visuellen Erkennung der Buchstaben die Bildung der zugehörigen Sprache besonders schwierig ist. Beim Lesenlernen stellt sich ein automatisierter, gleichmäßiger Lesefluss nur mit lesefertigkeitsgerechten Übungstexten ein. Anfänger benötigen vergrößerte Schrift, damit sie ihr zentrales Sehvermögen gleich gut nutzen können wie Fortgeschrittene. Dann bewegen beide ihre Blickrichtung mit der optimalen Geschwindigkeit des Sehsystems über den Text, obgleich Anfänger mit großen Buchstaben langsamer lesen als Fortgeschrittene mit normaler Schrift. Zu kleine, schwer erkennbare Schrift ergibt eine langsame und mühsame Lese-Blickbewegung, während mit übergroßer bzw. zu leichter Schrift die Blickbewegung ungünstig rasch wird. Computerunterstützung empfiehlt sich insbesondere bei gravierenden Leseschwächen oder Legasthenikern. Mit gleitender Textdarbietung lässt sich zudem bei laufendem Text die optimale Gleit- und damit Blickbewegungsgeschwindigkeit einstellen und eine Buchstabengröße auswählen, die zu einem angenehmen, gleichmäßigen und daher motivierenden Lesen führt.
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Die Fertigkeit, Sprache in Form von Schrift zu speichern, wurde erst spät in der Evolution, vor etwa Fünftausend Jahren (von den Sumerern) entwickelt. Lesen beinhaltet die Umkehr dieses Prozesses, d. h. die Rückverwandlung von Schrift in Sprache. Dazu müssen sowohl hinterals auch nebeneinander Buchstaben und Wörter visuell erkannt, in die Satzkonstruktionen eingeordnet und die zugehörige Sprache bzw. der Sinnzusammenhang gebildet werden (Tinker, 1969; McConkie, 1979; Rayner, 1983). Diese schwierige Koordination von visueller Wahrnehmung und Sprachbildung beim Lesen lässt normale Lesegeschwindigkeiten nur nach einem langjährigen Lernprozess erreichen (Rayner, 1986). Kognitiv-sprachliche Aspekte bei der Blickbewegungssteuerung behandeln Kliegl, Grabner, Rolfs und Engbert, (2004) in einem Sonderheft des European Journal of Cognitive Psychology, in dem auch zahlreiche andere Autoren ähnliche Aspekte behandeln. Easy Learning to Read Summary: Based on American and German publications we explain why in reading the transformation of letters into the corresponding sounds of language is much more difficult than visual recognition. Beginners will read smoothly and automated only with texts matching in difficulty the given reading skill. Also, letters have to be magnified in inverse proportion to reading skill in order to make optimal use of the high resolution in the retinal center and reach the same optimal gaze movement as proficient readers, even though with smaller reading speeds. Too small letters are difficult to recognize and reduce reading speed together with gaze movement, while too large letters result in an unfavorably fast gaze movement. The use of computers is recommended for the remediation of severe reading deficits, i. e. with dyslexics. By using the gliding text display one can select the optimal gliding speed and change the letter size until reading becomes comfortable. This motivates children to pursue the reading exercises. Keywords: Learning to read, automation, difficulty of text, print size, reading skill Zusammenfassung: Anhand amerikanischer und deutscher Veröffentlichungen erläutern wir, dass beim Lesen neben der visuellen Erkennung der Buchstaben die Bildung der zugehörigen Sprache besonders schwierig ist. Beim Lesenlernen stellt sich ein automatisierter, gleichmäßiger Lesefluss nur mit lesefertigkeitsgerechten Übungstexten ein. Anfänger benötigen vergrößerte Schrift, damit sie ihr zentrales Sehvermögen gleich gut nutzen können wie Fortgeschrittene. Dann bewegen beide ihre Blickrichtung mit der optimalen Geschwindigkeit des Sehsystems über den Text, obgleich Anfänger mit großen Buchstaben langsamer lesen als Fortgeschrittene mit normaler Schrift. Zu kleine, schwer erkennbare Schrift ergibt eine langsame und mühsame Lese-Blickbewegung, während mit übergroßer bzw. zu leichter Schrift die Blickbewegung ungünstig rasch wird. Computerunterstützung empfiehlt sich insbesondere bei gravierenden Leseschwächen oder Legasthenikern. Mit gleitender Textdarbietung lässt sich zudem bei laufendem Text die optimale Gleit- und damit Blickbewegungsgeschwindigkeit einstellen und eine Buchstabengröße auswählen, die zu einem angenehmen, gleichmäßigen und daher motivierenden Lesen führt. Schlüsselbegriffe: Lesenlernen, Automatisierung, Textschwierigkeit, Buchstabengröße, Lesefertigkeit ■ Forum Lesenlernen leicht gemacht Christof C. Krischer Wolfgang H. Zangemeister Ralf Meißen Forschungszentrum Jülich Universität Hamburg Fachhochschule Aachen, Abt. Jülich Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2005, 52, 293 - 300 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 294 Christof C. Krischer et al. Seit der Pisa-Studie ist allgemein bekannt, dass deutsche Schüler große Lesedefizite aufweisen und es bereits etwa 4 % deutsche Analphabeten gibt. Da Lesen die Grundlage von allen hoch qualifizierten Berufen, der professionellen und privaten Internetnutzung sowie der sinnvollen Freizeitgestaltung bildet, kann seine ökonomische Bedeutung kaum überschätzt werden. Ziel dieser Arbeit ist es, über Vergleiche mit bekannten Beispielen aus dem Leben, und doch wissenschaftlich fundiert, zu erläutern, dass Lesen auf ein enges Zusammenwirken von visueller und sprachlicher Verarbeitung angewiesen ist und dass sowohl visuelle als auch sprachliche Verarbeitungsdefizite schädliche und deshalb u. U. kostenträchtige Mehrbelastungen hervorrufen. Kurz gehen wir auf deutsche, ausführlicher auf englischsprachige Arbeiten ein. Der sprunghaften Blickbewegung beim Sehen widmen wir besondere Aufmerksamkeit, weil sich anhand dieser in der Sinnesphysiologie einzigartigen intermittierenden Arbeitsweise die Lesebedingungen leicht charakterisieren und optimieren lassen. Visuelle Beschränkungen beim Lesen Die intermittierende Arbeitsweise Die visuelle Erkennung von Objekten geschieht während sog. Fixierungen. Der Blick ruht dabei im Mittel für 0.25 Sekunden auf dem Sehobjekt, um den Sehzellen in der Netzhaut Zeit zu geben, über langsame photochemische Reaktionen aus den Lichtreizen elektrische Erregungen zu bilden und anschließend die Erregbarkeit des Sehfarbstoffs wiederherzustellen. Das Gehirn verarbeitet die Erregungsmuster zu Bildern, denen nach Zwischenspeicherung in einem Arbeitsgedächtnis (Berti & Schröger, 2003; Krajewski, Kron, & Schneider, 2004) der Sinn entnommen wird, beim Lesen die Sprache. Die Dauer der Fixierungen schwankt, je nach Schwierigkeit des Textes, zwischen 0.15 und 0.35 Sekunden (Rayner, 1983; Heller & Müller, 1983). Sehr kurze Fixierungen bilden zu wenig Erregung, sehr lange hingegen erschöpfen das Sehsystem, lassen die Sehobjekte schwinden (engl. „fading“) (Ditchburn & Fender, 1955), überlasten zudem das Arbeitsgedächtnis. Letzteres lässt sich beim Umblättern oder bei Zeilenverlusten beobachten, wenn Teile des gesehenen Textes vergessen sind, bevor die Sprache gebildet ist. Unter Vorbehalt kann man den Einfluss der getakteten Arbeitsweise des Sehsystems beim Lesen vergleichen mit dem, was bei der Landvermessung vom Flugzeug aus geschieht: Vollständige Kartierung (korrektes Lesen) ist nur möglich, wenn das Objektiv (Auge) hinreichend vergrößerte Objekte dargeboten bekommt, indem die richtige Flughöhe (Leseabstand, Buchstabengröße) eingehalten wird. Eine lückenlose Bildfolge (vollständiges Lesen) entsteht nur, wenn die Fluggeschwindigkeit (Blickbewegungsgeschwindigkeit) auf die Frequenz der Verschlussöffnung (Häufigkeit der Fixierungen) abgestimmt ist. Ein weiteres Beispiel wäre die Wirkungsweise eines Fließbandes: Hohe Produktivität in Stück pro Stunde (Wörter pro Minute) wird nur mit einer bestimmten Bandgeschwindigkeit in m/ Stunde (Blickbewegung in cm/ Sekunde) erreicht, wenn die angelieferten Werkstücke (Text) zueinander passen und vom Monteur mit seiner Ausbildung (Leser) während der Verweilzeit (Fixierungsdauer) richtig zusammengesetzt (gelesen) werden können. Das kleine „Sichtfenster“ in der Netzhaut Das äußerst vielseitige Sehvermögen des Menschen ist bestimmt durch die spezielle Anordnung von Sehzellen in der Netzhaut (Graham, 1966): Eine hohe Sehzelldichte im Zentrum, dem sog. Gelben Fleck, auch Fovea genannt, dient der raschen und genauen Erkennung von Details in Richtung der Sehachse. Diese Zone hoher Auflösung ist jedoch klein und hat im Abstand von 57 Zentimetern nur eine Breite von zwei Zentimetern, lässt also nur ein kürzeres Wort mit einem Blick, d. h. während einer Fixierung, erkennen. Schon zwei Finger breit neben der Sehachse erreicht die Sehschärfe wegen der geringen Sehzell- Lesenlernen leicht gemacht 295 dichte nur noch etwa ein Drittel des zentralen Wertes (Aulhorn & Harms, 1972). Die Fovea wirkt deshalb beim Lesen wie ein kleines Sichtfenster zur Bereitstellung von gut erkennbarem Text. Die geringe Sehzelldichte im Rand dient der Erkennung großer Gegenstände, z. B. in der Umgebung, und spielt deshalb bei der Orientierung eine wichtige Rolle. Die schwierige Sprachbildung Die Sprachbildung ist maßgeblich von der sog. phonologischen Bewusstheit geprägt (Einsiedler, Frank, Kirschhock, Martschinke & Treinies, 2002; Schneider & Küspert, 2003). Sie charakterisiert die Fähigkeit, aus Buchstabenfolgen im Text (Graphemen) sprachliche Laute (Phoneme) zu bilden (Brügelmann & Mannhaupt, 1990). Probleme haben damit naturgemäß Anfänger sowie Personen mit Sprachdefiziten, wie Sprachbehinderte, Ausländer oder Legastheniker. Für Letztere wurde in der Hirnforschung, u. a. über bildgebende Verfahren, gezeigt, dass viele von ihnen eine für das Lesen ungünstige Ausbildung bzw. Verschaltung von Sprach-, Seh- und Bewegungszentren im Gehirn haben (Warnke, 2000; Shaywitz, Shaywitz & Pugh, 2001). Möglichkeiten zur Früherkennung schlechter Veranlagung zum Lesenlernen beschreiben Breuer und Weuffen (2000), Jansen, Mannhaupt, Marx und Skowronek (1999), Barth und Gomm (2004), Mannhaupt (1999 a, 1999 b) sowie Schneider und Küspert (2003). Eine rationelle Überprüfung der Einhaltung vorgegebener Lesestandards an Schulen ist auch mit der sog. Gleitzeile möglich (Krischer, Coenen, Heckner & Hoeppner, 1994, Details im Anhang). Im klassischen Lehrbuch der Typographie erklärt Tinker (1969), dass zu kleine Buchstaben wegen Erkennungsproblemen schlecht zu lesen sind, zu große hingegen ungünstig viel Platz verschwenden. Die wenigen, während Anfänger Zeichen Z Fortgeschrittene Abbildung 1: Nutzung des Gelben Flecks als Sichtfenster: Nutzung des zentralen hochauflösenden Sehvermögens der Netzhaut, des sog. „Gelben Flecks“, hellgrauer Kreis, als „Sichtfenster“ beim Lesen normal großer Schrift. Fortgeschrittene Leser, rechts, erfassen mit einem Blick das ganze Wort „Zeichen“, Anfänger hingegen nur einen Buchstaben, z. B. das „Z“. Abbildung 2: Blickbewegungs- und Lesegeschwindigkeit in Abhängigkeit von der Buchstabengröße: Relative Änderung der Blickbewegungsgeschwindigkeit, oben, und der Lesegeschwindigkeit, unten, in Abhängigkeit von der Buchstabengröße relativ zur lesefertigkeitsgerechten Optimalgröße g = 1. Man beachte die starke Abnahme der Lesegeschwindigkeit bei zu kleinen Buchstaben, die geringe bei zu großen. Die Blickbewegungsgeschwindigkeit, oben, spiegelt in etwa den Platzbedarf der Buchstaben wider: Untervergrößerung bewirkt Verlangsamung mit g < 1 und mühsamen kleinen Blicksprüngen, Übervergrößerung hingegen unrationell große Blicksprünge mit g > 1. 296 Christof C. Krischer et al. einer Fixierung von Leseanfängern verarbeitbaren Buchstaben (Taylor, 1965) erreichen deshalb nur durch Vergrößerung ein gut erkennbares, Fovea-füllendes Format (s. Abb. 1 links). Die mathematische Beschreibung der Abhängigkeit der Lesegeschwindigkeit von der Buchstabengröße (Krischer, Zihl & Meißen, 1999) ist in der Kurve in Abb. 2 unten wiedergegeben. Dort charakterisiert die Blickbewegungsgeschwindigkeit 1 optimale Lesebedingungen: Mit der Buchstabengröße g = 1 (in Büchern meist 2 - 3 mm hohe Buchstaben) kommt während einer Fixierung das zentrale Sehvermögen voll für die Sprachbildung zum Tragen (s. Abb. 1 rechts). Die Blickrichtung bewegt sich dann viermal pro Sekunde um die Größe der Fovea vorwärts. Dies entspricht einer mittleren Blickbewegungsgeschwindigkeit von etwa acht Grad pro Sekunde. Ein mitgeführter Zeigefinger bewegt sich dabei im Leseabstand 57 cm mit acht cm pro Sekunde über den Text und durchläuft eine Zeile von 20 cm Länge in etwa 2.5 Sekunden. Paradoxerweise bewegen somit Anfänger unter den für sie optimalen Sichtverhältnissen ihre Blickrichtung etwa gleich schnell über den Text wie Fortgeschrittene, obgleich sie mit den stark vergrößerten Buchstaben viel langsamer lesen als Letztere mit normal großer Schrift. Zusammenwirken von visueller Erkennung und Sprachbildung Der für das Lesen so wichtige automatisierte Handlungsablauf (Mannhaupt, Hüttinger, Schöttler & Völzke, 1999) ist getragen von der beschriebenen optimalen Blickbewegung und wird von der Sprachfertigkeit stärker geprägt als vom Sehvermögen (der Sehschärfe). Ähnliches gilt für die Reparatur von Uhren: Selbst bei besten Sichtverhältnissen wird sie nur bei gründlicher Kenntnis der Funktionsweise der Uhrwerke erfolgreich sein. Die Dominanz der kognitiv-sprachlichen Lesefertigkeit drückt sich auch darin aus, dass bei sehr geringem Lesevermögen normalsichtige Leser nur ein Drittel der Lesegeschwindigkeit erzielen, die „normale“ Leser bei gleich stark geminderter Sehschärfe erreichen (Rayner, 1986; Krischer & Meißen, 1983). Beim Lesenlernen stellen sich somit optimale Lesebedingungen mit einem gleichmäßigen Lesefluss nur ein, wenn die Übungstexte in ihrer Schwierigkeit auf die jeweilige Lesefertigkeit abgestimmt sind (Dummer-Smoch & Hackethal, 1996) und die Buchstaben umso höher vergrößert sind, je geringer die Lesefertigkeit in der jeweiligen Klasse ist (s. Abb. 3). Abbildung 3: Vergrößerungsbedarf und Lernfortschritt beim Lesenlernen in der Schule: Vergrößerungsbedarf, oberes Diagramm und Lesegeschwindigkeit, unteres Diagramm, in altersabhängigen Schulklassen, Daten nach Rayner (1986). Die normierte Lesegeschwindigkeit 1 für leises Lesen Erwachsener entspricht etwa 300 Wörtern pro Minute. Man beachte die spiegelbildliche Kurvenform in den zwei Diagrammen: Um so größere Buchstaben werden benötigt, je weniger Lesegeschwindigkeit in der jeweiligen Klasse erzielt wird. Lesenlernen leicht gemacht 297 Bei Einschulung reicht eine etwa vierfache Vergrößerung über normal aus. Nur noch zweifach vergrößerte Buchstaben werden Ende der 2. Klasse benötigt. Die Kinder erreichen dann bereits etwa die Hälfte der normalen Lesegeschwindigkeit. Lesefibeln enthalten in der Regel derart in Größe und Schwierigkeit auf die jeweilige Altersstufe abgestimmte Texte und erleichtern so die Automatisierung der Blickbewegung verbunden mit dem motivationsfördernden Leseerfolg. Übungstexte, die in der Schwierigkeit abgestuft auf die Bedürfnisse beim Lesenlernen eingehen, finden sich z. B. im Kieler Leseaufbau (Dummer-Smoch & Hackethal, 1996, Hackethal, 1990 a, vgl. auch Roth & Warnke, 2001). Einer Einführung des Alphabets folgen darin grundlegende Lautierungsübungen mit einfachen Buchstabenfolgen wie „mi ko un“ (jeweils zunehmende Schwierigkeit), Wörtern wie „Mama, lesen, reißt“, bis hin zu konsonantenreichen langen Wörtern wie „Ochse, Endmoräne, Tausendgüldenkraut“. Die Sprachbildung setzt also eine rasche visuelle Erkennung der Schriftzeichen mit dem zentralen Sehvermögen voraus, die durch einen automatisierten und gleichmäßigen Lesefluss gekennzeichnet sind. Anfänger benötigen dazu Buchstaben, die umso stärker vergrößert sind, je geringer ihre in der jeweiligen Klassenstufe erreichte Lesegeschwindigkeit ist. Zu kleine Buchstaben wirken immer überfordernd, verlangsamen Lese- und Blickbewegungsgeschwindigkeit, während zu große Buchstaben unterfordern, die Lesegeschwindigkeit etwas mindern, die Blickbewegung hingegen ungünstig groß werden lassen. Computerunterstützung beim Lesenlernen und die Gleitzeile Computer, heute in den meisten Schulen eingesetzt, erlauben eine rasche und gezielte Bereitstellung der in Schwierigkeit und Schriftgröße auf die verschiedenen Lesedefizite abgestimmten Texte. Computertextsammlungen wie der Kieler Leseaufbau (Dummer-Smoch & Hackethal, 1996) sind dazu besonders gut geeignet, insbesondere für Förderungen außerhalb des Klassenverbandes. Sie können aber auch im regulären Unterricht das Auftreten von Leserückständen vermeiden helfen. Eingehend beschreiben den Leselernprozess beispielsweise Suchodoletz (2003) und Niemeyer (1995). Ferner kann vom Computer erzeugte horizontal gleitende Textdarbietung von Nutzen sein. Als sog. „Gleitzeile“ Ende der 70er Jahre im Forschungszentrum Jülich in interdisziplinärem Zusammenarbeiten mit Universitäten entwickelt, findet gleitende Textdarbietung Verwendung in TV-Untertiteln oder in der Werbung und ist Standard-Textdarbietungsmethode für hochgradig Sehbehinderte (Weigelin, Trier, Krischer, & Meißen, 1979), dient aber auch der Förderung lese- oder rechtschreibschwacher Kinder (Becher, 1986; Eiche, 1990; Hackethal, 1990 b; Krischer et al., 1994, Details im Anhang; Krischer & Meißen, 1995) und hilft beim Schriftspracherwerb erwachsener Analphabeten (Stoffers, 1990). Der Arbeitskreis Leseförderung in Jülich setzt diese Arbeiten fort und verwendet in den Lehrerfortbildungen kurze Übungssätze, die von Computerprogrammen aus Wortsammlungen wie dem Kieler Leseaufbau (Dummer-Smoch & Hackethal, 1996) oder der Naumann’schen Wortliste (Naumann, 1990) gebildet werden. Je nach Bedarf lassen sich unter die Wörter auch Strichfolgen oder sinnfreie sog. „Pseudowörter“ (Brügelmann & Mannhaupt, 1990) einstreuen und nach dem Zufallsprinzip Übungssätze bilden, wie: „Der Hund … laut.“, „Lisa maselt ein Bild“ etc. Mit Fragesätzen, wie: „Sind Esel rot? “, „Essen Omas weiche Steine? “ können zudem Zwiesprachen zwischen Lehrkräften und Schülern oder Gruppen von Schülern angeregt und schwierige Übungen aufgelockert werden. Die Gleitzeile erfreut sich bei Kindern großer Beliebtheit, weil der bewegte Text ihre Aufmerksamkeit fesselt und ihnen unter opti- 298 Christof C. Krischer et al. malen Darbietungsbedingungen das Lesen „leicht“ erscheinen lässt. Die Steuerung der Blickbewegung erfolgt unbewusst (Krischer et al., 1994). Stationäre Fixierungen sind ersetzt durch kurze Folgebewegungen zur Erzeugung der für die Erkennung notwendigen stehenden Netzhautbilder. Es resultiert eine Leseblickbewegung bestehend aus kurzen Folgebewegungen nach links abgelöst von normalen Blicksprüngen nach rechts (Buettner, Krischer & Meißen, 1985; Belopolsky, 1989). Bei Leseförderungen mit der Gleitzeile können zudem optimale Lesebedingungen an der Blickbewegung erkannt werden: Sobald sich der eingleitende Text gut erkennen und in Sprache verwandeln lässt, bleibt die Blickrichtung in etwa auf die Mitte des Bildschirms gerichtet. Die Funktion der Gleitzeile beim Lesenlernen ist vergleichbar mit der von Stützrädern beim Lernen von Fahrradfahren. Für normales Lesen ist die Gleitzeile ebenso ungeeignet wie Stützräder beim Fahrradfahren, weil sie den Überblick über den Text (Bewegungsfreiheit) einschränkt und keine optimale Sinnentnahme (Bewegung) zulässt. Nützlich kann der Einsatz der Gleitzeile auch bei der Ganztagsbetreuung am Nachmittag sein, indem ausgebildete Lehrkräfte Eltern oder ältere Schüler einweisen, mit welchen Übungstexten, Gleitgeschwindigkeiten und Buchstabengrößen die jeweiligen Leseschwächen am besten zu beheben sind. Die Feinabstimmung der Gleitgeschwindigkeit sollten die Kinder mit der Tastatur selbst vornehmen. Computereinsatz empfiehlt sich also besonders für die Förderung Leseschwacher außerhalb des Klassenverbandes. Flexibel können die Übungstexte in Schwierigkeit und Buchstabengröße auf die jeweiligen Leseschwächen abgestimmt werden. Anhang: Details zu Leseförderversuchen mit der Gleitzeile (1994) In der Veröffentlichung zu Leseförderungen mit der Gleitzeile (Krischer et. al., 1994) wird über vier Fördermaßnahmen mit je vier leseschwachen Schulkindern der zweiten Klasse der Grundschule berichtet. Die mittlere Lesegeschwindigkeit der leseschwachen Kinder betrug zu Beginn der Förderungen im Mittel etwa 25 % des Klassendurchschnitts. Nach jeweils 24 Fördersitzungen von je etwa 15 Minuten Dauer hatte sich die Lesegeschwindigkeit auf etwa 46 % des Klassendurchschnitts Kurs Betreuerin WPM Anfang WPM Ende rel. Zuwachs gleitende Textdarbietung 1 1 a 5.2 (23.5) 18.2 (32.2) 3.5 (1.4) 2 b 10.5 15.0 (49.5) 1.4 3 a 7.7 (53.4) 25.1 (63) 3.3 (1.18) 4 c 15.0 35.0 (57.0) 2.3 Nachuntersuchung nach 1 ⁄ 2 Jahr 60.6 (74.7) 1.8 (1.3) Stehende Textdarbietung 2 5 a 13.0 37.0 2.8 6 b 8.0 19.0 2.4 7 c 23.5 44.0 1.9 Tabelle 1: Lesegeschwindigkeit am Anfang und Ende von Förderkursen (in Wörtern pro Minute, WPM) und relativer Zuwachs (2 entspricht Verdopplung) in der 2. Klasse der Grundschule mit gleitender und mit stehender Textdarbietung. 1) Daten aus: Fig. 4 in Krischer et al., 1994; Werte in ( ) gelten für den Klassendurchschnitt 2) spätere Kontrollversuche Lesenlernen leicht gemacht 299 erhöht und sieben Monate nach der letzten Förderung bereits 80% des Klassendurchschnitts erreicht. Details zu Abbildung 4 dieser Untersuchung sind in Tabelle 1 aufgelistet, zusammen mit Kontrollversuchen zu Förderungen mit stehenden Texten. Für gleitende Textdarbietung ist aus der letzten Spalte von Tabelle 1 zu entnehmen, dass der Zuwachs an Lesegeschwindigkeit bei den Einzelförderungen im Mittel etwa 2.6 beträgt. Er ist somit etwa doppelt so groß wie der Lesegeschwindigkeitszuwachs im parallel ablaufenden Klassenunterricht mit 1.3. Der Zuwachs an Lesegeschwindigkeit schwankt jedoch je nach Ausbildung der Betreuerinnen zwischen 1.4 und 3.5. Den höchsten Zuwachs erzielt eine Pädagogikstudentin mit fast abgeschlossenem Studium (Betreuerin a) mit 3.5 bzw. 3.3. Ihr Fördererfolg ist etwa doppelt so groß wie der der Betreuerinnen ohne fachliche Ausbildung (b und c) mit 1.4 bzw. 1.8. Später durchgeführte konventionelle Förderungen mit stehendem Text als Kontrollversuche zeigen im unteren Teil von Tabelle 1, dass die Pädagogikstudentin mit 2.8 ebenfalls einen etwas größeren Zuwachs an Lesegeschwindigkeit erzielt als die Betreuerinnen ohne fachliche Ausbildung (b, c) mit 2.4 bzw. 1.9. Zusammenfassend: Die unbewusste Blickbewegungssteuerung bleibt der Hauptgrund für die große Beliebtheit von Förderungen mit der Gleitzeile bei Leseschwachen. Tabelle 1 erlaubt jedoch den weitergehenden Schluss, dass aufmerksame Mitarbeit beim Lesen zwar notwendige, keineswegs aber hinreichende Voraussetzung für das Erzielen großer Fördererfolge ist. Zum Vergleich: Auch Lehrfilme werden nur wirksam sein, wenn sie Lücken in der jeweiligen Ausbildung füllen. Verfehlen sie dies, mögen sie zwar unterhaltsam, nicht aber sehr förderlich sein. Die wesentlich höhere Effizienz der Einzelförderungen gegenüber dem Klassenunterricht unterstreicht, wie wichtig geringe Schülerzahlen in den Klassen sind. Literatur Aulhorn, E. and Harms, H. (1972) Visual Perimetry. Handbook of Sensory Physiology Vol VII/ 4, 102 - 145, Springer Barth, K. & Gomm, B. (2004). Gruppentest zur Früherkennung von Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten. München: Reinhardt. Becher, H. R. (1986). Neue mediale Möglichkeiten der Lese- und Rechtschreibförderung. Ehrenwirth’s Grundschulmagazin 5, p. 27. Belopolsky, V. I. (1989). Eye movement parameters during reading moving text. Perception, 18, 4, A 43. Berti, S. & Schröger, E. (2003). Die Bedeutung sensorischer Verarbeitung und Aufmerksamkeitssteuerung für Arbeitsgedächtnisfunktionen. Zeitschrift für Psychologie 211 (4), 193 - 201. Breuer H. & Weuffen, M. (2000). Lernschwierigkeiten am Schulanfang. Weinheim: Beltz. Brügelmann, H. & Mannhaupt, G. (1990). Lesen vor der Schule - Lesen in der Schule. 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Zangemeister Neurologische Universitäts-Klinik Hamburg E-Mail: Zangemei@uke.uni-hamburg.de Prof. Dr.-Ing. Ralf Meißen Fachhochschule Aachen, Abt. Jülich E-Mail: Meissen@fh-aachen.de