Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Psychologie im Lehramtsstudium: Relevanzurteile erfahrener Lehrkräfte
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2006
Stephan Dutke
Katja Singleton
In einer Fragebogenstudie schätzten 233 erfahrene Lehrkräfte die Relevanz psychologischer Themen für das Lehramtsstudium und die Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern ein. Die Themensammlung basierte auf dem von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie vorgeschlagenen Rahmencurriculum. Die Ergebnisse zeigen neben generell hohen Relevanzeinschätzungen themenspezifische Unterschiede: So wurde eher handlungsrelevanten Themen wie „Intervention und Beratung“ Vorrang vor vermeintlich theorieorientierten Inhalten, wie „Entwicklungspsychologische Grundlagen“ gegeben. Auch psychologische Themen, die die Schule als Organisation betreffen, wurden als weniger relevant bewertet. In allen Themenbereichen zeigten sich schulart- und dienstalterabhängige Urteilsunterschiede.
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Nach bildungspolitischen Richtungsentscheidungen über die künftige Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern (u. a. Konferenz der Rektoren und Präsidenten der Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland, 1998; Wissenschaftsrat, 2001) werden die Lehramtsstudiengänge in fast allen Bundesländern reformiert. Das bietet auch die Chance, psychologische Themen besser in der Ausbildung zu verankern. Welche inhaltlichen Standards aus psychologischer Sicht an das Lehramtsstudium anzulegen sind, hatte eine Kommission der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in ihrem Rahmencurriculum „Psychologie in den Lehramtsstudiengängen“ dargelegt (DGPs, 2002; Langfeld, 2001 a, b). Es betont sowohl die Berufsorientierung mit den zentralen Anforderungen des Unterrichtens, des Erziehens, des Diagnostizierens, Evaluierens und Kooperierens als auch die Wissenschaftsorientierung, in der die Psychologie ihr spezifisches Profil durch eine integrierte Vermittlung von Inhalt und (empirisch-experimenteller) Methode zeigen soll. Die Inhalte werden in vier Curricularbereiche („Lernen und Lehren“, „Entwicklung und Erziehung in sozialen Kontexten“, „Pädagogisch-Psychologische Diagnostik und Evaluation“ sowie „Intervention Psychology in Teacher Education: Experienced Teachers Judge the Relevance of Psychological Topics Summary: In a questionnaire survey, 233 experienced school teachers judged the relevance of psychological topics for the education of teachers. The collection of topics was based on a curricular framework suggested by Deutsche Gesellschaft für Psychologie (German Psychological Association). Results indicated that the relevance of psychological knowledge in teaching varied for different topics. More action-oriented content areas such as “Intervention and Counseling” were preferred over seemingly theory-guided contents such as “Basics of Developmental Psychology”. Psychological topics concerning the school as an organization were also considered less relevant. Furthermore, there were judgmental differences dependent on the type of school participants worked at and their work experience. Keywords: Psychology in teacher education Zusammenfassung: In einer Fragebogenstudie schätzten 233 erfahrene Lehrkräfte die Relevanz psychologischer Themen für das Lehramtsstudium und die Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern ein. Die Themensammlung basierte auf dem von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie vorgeschlagenen Rahmencurriculum. Die Ergebnisse zeigen neben generell hohen Relevanzeinschätzungen themenspezifische Unterschiede: So wurde eher handlungsrelevanten Themen wie „Intervention und Beratung“ Vorrang vor vermeintlich theorieorientierten Inhalten, wie „Entwicklungspsychologische Grundlagen“ gegeben. Auch psychologische Themen, die die Schule als Organisation betreffen, wurden als weniger relevant bewertet. In allen Themenbereichen zeigten sich schulart- und dienstalterabhängige Urteilsunterschiede. Schlüsselbegriffe: Psychologie im Lehramtsstudium ■ Forum Psychologie im Lehramtsstudium: Relevanzurteile erfahrener Lehrkräfte Stephan Dutke, Katja Singleton Technische Universität Kaiserslautern Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2006, 53, 226 - 231 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Psychologie im Lehramtsstudium 227 und Beratung“ mit jeweils drei Unterbereichen gegliedert (Tabelle 1). Doch welche psychologischen Wissensinhalte sehen berufserfahrene Lehrkräfte selbst als wichtig an? Zur Erkundung dieser Frage wurden die Inhalte des DGPs-Rahmencurriculums in eine Liste allgemeinverständlicher Themenbeschreibungen übersetzt. Diese wurden von Lehrkräften aller Schularten hinsichtlich ihrer Relevanz für das Lehramtsstudium und die Weiterbildung eingeschätzt. Methode Der Fragebogen enthielt 93 Items mit psychologischen Themen aus dem Rahmencurriculum der DGPs (2002). Die Items bildeten die Inhalte der vier Curricularbereiche (CB) in jeweils einer Unterskala für jeden Unterbereich ab. Die Items wurden in immer der gleichen Zufallsreihenfolge dargeboten und sollten hinsichtlich ihrer Relevanz für (a) das Lehramtsstudium und (b) die Weiterbildung auf zwei nebeneinander abgebildeten sechsstufigen Skalen (von „gar nicht wichtig“ bis „sehr wichtig“) eingeschätzt werden. Die Position dieser beiden Skalen wurde zwischen Teilnehmern zufällig variiert, sie hatte aber keinen Einfluss auf die Urteile. Die internen Konsistenzen sind auf der Ebene der Curricularbereiche hoch (Cronbachs Alpha zwischen .85 und .96, vgl. Tabelle 1), in den Unterskalen etwas geringer (.75 bis .93). Nur in der Unterskala „Ziele, Methoden und Verfahren“ des CB 3 ist die interne Konsistenz unbefriedigend. Zusätzlich wurden Personen- und Arbeitsplatzmerkmale erhoben: Schulart und -größe, Geschlecht, die Hauptfächer, die Anzahl der Dienstjahre nach dem zweiten Staatsexamen, die Wochenstundenzahl sowie die Anzahl der in den letzten zwei Jahren besuchten Weiterbildungsveranstaltungen. Der Fragebogen lag in einer Papier- und einer inhaltsgleichen Internet-Version vor. Eine vergleichende Auswertung ließ keine systematischen Unterschiede zwischen beiden Darbietungsformen erkennen. Eine ausführlichere Beschreibung der Fragebogenkonstruktion inklusive Voruntersuchungen und Itembeispielen bieten Dutke und Singleton (2006). Lehrkräfte aller Schularten wurden persönlich, über Internet-Foren oder per E-Mail an die Leitungen zufällig ausgewählter Schulen um Teilnahme gebeten. Der Fragebogen wurde im Frühjahr 2004 von insgesamt 233 Lehrkräften im Alter von 25 bis 63 Jahren (M = 43.8, SD = 10.2) ausgefüllt (55 % Frauen). Die durchschnittliche Berufserfahrung lag bei 16.5 Dienstjahren (SD = 11.6), die mittlere Zahl der Unterrichtsstunden pro Woche bei 21.4 (SD = 6.3). In den letzten zwei Jahren hatten die Befragten im Mittel an 5 Weiterbildungsmaßnahmen (SD = 4.5) teilgenommen. An Grundschulen unterrichteten 23.8 %, an Gymnasien und Realschulen je 19.9 %, Studium Weiterbildung Curricularbereich Items α M SD α M SD CB 1: Lernen und Lehren 33 .95 4.89 .71 .96 4.82 .78 Kognitive Grundlagen 8 .79 4.88 .71 .87 4.66 .89 Motivationale u. emotionale Voraussetzungen 12 .91 4.94 .78 .92 4.94 .84 Soziale und unterrichtliche Bedingungen 13 .91 4.79 .85 .90 4.85 .82 CB 2: Entwicklung und Erziehung 20 .95 4.70 .84 .96 4.18 1.04 Grundlagen 6 .84 4.62 .92 .90 3.93 1.15 Entwicklungsbereiche 7 .88 4.73 .90 .92 4.21 1.12 Entwicklungsgemäßes Erziehen u. Unterrichten 7 .85 4.76 .89 .86 4.40 1.02 CB 3: Diagnostik und Evaluation 16 .85 4.55 .94 .92 4.53 .86 Ziele, Methoden und Verfahren 5 .44 4.74 1.25 .83 4.39 1.05 Diagnostische Aufgaben 7 .88 4.69 .91 .86 4.61 .93 Evaluation und Qualitätssicherung 4 .75 4.22 1.09 .76 4.57 .97 CB 4: Intervention und Beratung 24 .96 4.81 .87 .94 5.04 .76 Grundbegriffe, Prinzipen und Techniken 12 .93 4.83 .91 .91 5.03 .79 Lern- und Leistungsauffälligkeiten 5 .83 4.69 .97 .77 4.96 .87 Sozial-emotional auffälliges Verhalten 7 .87 4.91 .88 .86 5.13 .81 Tabelle 1: Skalen und Unterskalen zur Relevanzeinschätzung der Curricularbereiche (CB) mit Anzahl der Items (Items), Cronbachs Alpha ( α ), Mittelwert (M) und Standardabweichung (SD) 228 Stephan Dutke, Katja Singleton an berufsbildenden Schulen 15.6 % und an Hauptschulen 11.3 % der Befragten. Ein geringerer Anteil der Befragten lehrte an Gesamt- (6.1 %) und Sonderschulen (3.5 %). Es nahmen Lehrkräfte aus allen Bundesländern teil. Für die Stichprobe lagen auch Daten über Berufszufriedenheit, Beanspruchung, Ungewissheitstoleranz, Glaube an eine gerechte Welt und Selbstwirksamkeit vor, die jedoch kaum mit den Relevanzurteilen korrelierten (ausführlicher: Dutke & Singleton, 2006). Ergebnisse In einer Varianzanalyse der Relevanzurteile mit 2 (Studium vs. Weiterbildung) x 4 (Curricularbereiche) Intrasubjektfaktoren waren beide Haupteffekte und die Interaktion signifikant (Mittelwerte in Tabelle 1). Die Relevanzurteile variierten über die vier Curricularbereiche [F(3,630) = 110.53, p < .001], wobei sich alle Bereiche signifikant von einander unterschieden (alle t-Werte > 2.79, df = 210, alle p-Werte < .01). Der CB „Entwicklung und Erziehung“ wurde dabei als am unwichtigsten und „Intervention und Beratung“ als am wichtigsten erachtet. Die Relevanz der Themen wurde für Studium und Weiterbildung unterschiedlich eingeschätzt [F(1,210) = 4.74, p < .05], wobei die Unterscheidung zwischen Aus- und Weiterbildung mit den Curricularbereichen interagierte [F(3,630) = 67.8, p < .001]. Während die Inhalte des CB 2 im Studium für wichtiger gehalten wurden als in der Weiterbildung [t(210) = 8.77, p < .001], kehrte sich dieses Verhältnis bei CB 4 um: Konzepte zu Intervention und Beratung wurden eher für weiterbildungsrelevant und weniger für studienrelevant gehalten [t(212) = 4.05, p < .001]. Innerhalb des CB „Lernen und Lehren“ wurden Studieninhalte des Unterbereichs „Motivationale und emotionale Voraussetzungen des Lernens und Lehrens“ für wichtiger gehalten als Wissen über „soziale und unterrichtliche Bedingungen des Lernens und Lehrens“ [t(225) = 4.24, p < .001]. In den letztgenannten Bereich gehören vor allem Items, die sich auf organisatorische Abläufe in einer Klasse, computergestütztes Lernen und soziale Interaktion im Unterricht beziehen. Innerhalb des insgesamt „unwichtigsten“ CB „Entwicklung und Erziehung“, erhielt im Studium erlerntes Wissen über „entwicklungsgemäßes Erziehen und Unterrichten“ noch die größte Relevanzzuschreibung, während die theoretischen und methodischen Grundlagen als unwichtiger betrachtet wurden [t(221) = 3.18, p < .01]. Der bereits angeführte Urteilsunterschied zwischen Weiterbildungs- und Studieninhalten galt für jeden der drei Unterbereiche (alle t-Werte > 6.0, df = 210, alle p-Werte < .001), wenngleich die Differenz der Relevanzurteile zwischen Studium und Weiterbildung im Unterbereich „Grundlagen“ besonders groß war. In CB „Diagnostik und Evaluation“ wurden „Evaluation und Qualitätssicherung“ im Studium für weniger wichtig gehalten als die Unterbereiche „Grundlagen“ [t(220) = 6.79, p < .001] und „Diagnostische Aufgaben“ [t(219) = 8.61, p < .001]. Die signifikante Interaktion zwischen Unterbereich und Ausbildungsphase zeigt [F(2,418) = 36.53, p < .001], dass „Evaluation und Qualitätssicherung“ vor allem für das Studium als weniger relevant erachtet wurde. In dem im Gesamturteil „wichtigsten“ CB „Intervention und Beratung“ zeigte sich, dass allen drei Unterbereichen eine höhere Relevanz für die Weiterbildung als für das Studium zugemessen wurde (alle t-Werte > 3.4, df = 210, alle p-Werte < .01). Ferner erhielt der Bereich „Sozial-emotional auffälliges Verhalten“ sowohl in der Weiterbildung als auch im Studium höhere Relevanzwerte als die Bereiche „Lern- und Leistungsauffälligkeiten“ [Studium: t(220) = 5.75, p < .001; Weiterbildung: t(218) = 4.16, p < .001] und „Grundbegriffe, Prinzipien, Techniken“ [Studium: t(222) = 2.10, p < .05; Weiterbildung: t(219) = 2.79, p < .01]. Die Urteile über alle Curricularbereiche waren unabhängig von der Schulgröße, der Unterrichtsfächerkombination und dem Geschlecht der Probanden. Stark korreliert waren die Relevanzurteile mit der Schulart, in der die Befragten unterrichteten, und mit ihrer Berufs- Psychologie im Lehramtsstudium 229 erfahrung. Hinsichtlich der Schulart wurden Lehrkräfte an (a) Grundschulen, (b) Haupt-, Real-, Gesamtschulen und berufsbildenden Schulen sowie (c) Gymnasien miteinander verglichen. Eine Varianzanalyse mit Curricularbereich als Intrasubjektfaktor und Schulart als Gruppierungsfaktor zeigte einen Haupteffekt der Schulart auf die Relevanzurteile [F(2,210) = 6.3, p < .01]. Lehrkräfte an Grundschulen schrieben allen Bereichen mehr Relevanz zu als Gymnasiallehrerinnen und -lehrer (alle t-Werte > 2.6, df = 94, alle p-Werte <.05, Mittelwertdifferenzen zwischen .42 und .73). Der Interaktionsterm war nicht signifikant. Die Ratings von Haupt-, Real-, Gesamt- und Berufsschullehrkräften lagen zwischen denen der anderen beiden Gruppen. Analysiert man die Curricularbereiche einzeln (mit Unterbereich als Intrasubjektfaktor und Schulart als Gruppierungsfaktor), tritt der Schularteffekt in jedem der vier Curricularbereiche auf (alle F-Werte > 3.10, alle p-Werte < .05). Hinsichtlich der Berufserfahrung wurde die Stichprobe am Median (Mdn = 15 Jahre) in eine Gruppe mit längerer bzw. kürzerer Berufserfahrung geteilt. Eine Varianzanalyse mit Curricularbereich als Intrasubjektfaktor und Berufserfahrung als Gruppierungsfaktor zeigte einen signifikanten Haupteffekt der Berufserfahrung auf die Relevanzurteile für das Studium [F(1,210) = 10.38, p < .01]. Lehrkräfte mit längerer Erfahrung schätzten die Relevanz aller Themen höher ein als weniger erfahrene (alle t-Werte > 2.4, df = 210, alle p-Werte < .05, Mittelwertdifferenzen zwischen .27 und .37). Werden die Curricularbereiche einzeln analysiert (mit Unterbereich als Intrasubjektfaktor und Berufserfahrung als Gruppierungsfaktor), ist der Haupteffekt des Dienstalters innerhalb jedes Curricularbereichs signifikant (alle F- Werte > 6.0, alle p-Werte < .05). Diskussion Bezogen auf die Urteilsskala wurden alle Themenbereiche für relevant gehalten. Das hohe Gesamtniveau der Urteile unterstreicht den Anspruch der Psychologie auf eine wichtige Rolle in der Lehramtsausbildung, wenngleich nicht ausgeschlossen werden kann, dass die absolute Höhe der Relevanzurteile durch Selbstselektion der Befragten noch einmal erhöht worden sein könnte. Das hohe Werteniveau könnte auch die Urteilsvarianz begrenzt haben, sodass die Urteilsunterschiede in den vorliegenden Daten möglicherweise unterschätzt werden. Der Vergleich der Relevanzurteile zwischen den Themenbereichen ist insofern instruktiv, als er Auskunft nicht nur über das Bild der Psychologie innerhalb der Lehrerschaft gibt, sondern auch über das Rollenverständnis der Befragten. So spiegeln die Daten erstens ein traditionelles Verständnis des Theorie-Anwendungsverhältnisses wider. Einerseits wurden die Themen der Intervention und Beratung (CB 4, vor allem in Fragen des sozialemotionalen Verhaltens von Schülern) als hoch relevant erachtet. Andererseits wurde Wissen über die psychische Entwicklung (CB 2, vor allem im Bereich der Grundlagen) für relativ unwichtig gehalten. Dabei wurden vermeintlich eher wissenschaftsorientierte Themen dem Studium zugeordnet, eher berufsorientierte Themen der Weiterbildung. Folgte man diesem Präferenzmuster in der Ausgestaltung neuer Lehramtsstudiengänge, vergäbe man u. U. die Chance zu vermitteln, in welcher Weise Theorien über menschliches Verhalten in der Bewältigung beruflicher Aufgabenstellungen nützlich sein können. Der alltagspsychologischen Erwartung, eine Theorie sei dann praxistauglich, wenn aus ihr unmittelbare Entscheidungs- und Handlungshilfen abgeleitet werden können, ist entgegenzusetzen, dass Theorien Konstrukte bereitstellen können, die eine veränderte kognitive Rekonstruktion beruflicher Situationen ermöglichen. Theorien sind nicht zwangsläufig Lieferanten einer Handlungsanleitung, sondern auch Instrumente eines erweiterten Verständnisses beruflicher Handlungssituationen. Außerdem zeigte sich, dass eine einfache Theorie-Praxis-Kontrastierung den Daten nur teilweise gerecht wird. Beispielsweise wurde 230 Stephan Dutke, Katja Singleton auch das Thema „Qualitätssicherung“ (CB 3) für vergleichsweise wenig relevant gehalten, obgleich es angesichts vielfältiger schulischer Qualitätssicherungsprogramme sicherlich einen starken Bezug zum Schulalltag hat. Auch zeigte sich, dass die „sozialen und unterrichtlichen Bedingungen des Lehrens und Lernens“ (u. a. organisatorische Abläufe in einer Klasse, computergestütztes Lernen und soziale Interaktion im Unterricht) als unwichtiger erachtet wurden als die anderen Themen in CB 2. Auch dies sind keine Inhalte, denen man Anwendungsrelevanz grundsätzlich absprechen könnte. Aber es sind Themen, ebenso wie Qualitätssicherung, die in einem traditionellen Rollenverständnis nicht zwangsläufig zu den Kernbereichen des beruflichen Handelns von Lehrern und Lehrerinnen gehören. Zweitens ist bemerkenswert, dass „Diagnostik und Evaluation“ (CB 3) für weniger relevant als andere Bereiche gehalten wurde. Dies steht im Kontrast zu Folgerungen, die aus den unbefriedigenden Befunden der PISA-Studie (z. B. Baumert et al., 2001, S. 119f) über die oft mangelnden diagnostischen Fähigkeiten deutscher Lehrkräfte gezogen wurden. Für noch weniger relevant als die individuumszentrierten diagnostischen Aufgaben hielten die Befragten organisationsorientierte Diagnostikthemen wie Evaluation von Unterricht und Schulorganisation oder Methoden der Qualitätssicherung. Die Psychologie täte gut daran, auch im Lehramtsstudium arbeits- und organisationspsychologisches Wissen auf die Schulentwicklung, die Arbeitssituation von Lehrern, das Führungsverhalten von Schulleitungen oder die Leistungsbewertung von Lehrkräften zu beziehen (vgl. Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, 2003). Drittens schätzten erfahrene Lehrkräfte die Wichtigkeit psychologischer Themen in allen Curricularbereichen höher ein als weniger erfahrene. Ebenso vergaben Lehrkräfte an Grundschulen grundsätzlich höhere Relevanzwerte als Gymnasiallehrkräfte, ohne dass dies mit der Art der Themen interagierte. Die nahe liegende Interpretation, Grundschullehrkräfte hielten psychologische Inhalte deshalb für wichtiger, weil der Umgang mit Grundschülern mehr psychologisches Wissen erfordere als der Umgang mit Gymnasiasten, scheint zu kurz zu greifen - schließlich wurde dieser Schularteffekt in jedem Curricularbereich und jedem Unterbereich gefunden. Mag es als plausibel gelten, dass Wissen über den Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten in Gymnasien seltener benötigt werde als in anderen Schulen, so sollte beispielsweise Wissen über die kognitiven Grundlagen des Lernens und Lehrens in Gymnasien ebenso wichtig sein, beispielsweise mit Blick auf den weitaus komplexeren Lernstoff und den höheren Leistungsanspruch. Auch der Befund, dass Evaluation und Qualitätssicherung für Gymnasiallehrkräfte unwichtiger waren als für Lehrkräfte anderer Schularten, passt kaum zu dem besonderen Qualitätsanspruch von Gymnasien. Die psychologiedidaktische Herausforderung besteht nach wie vor in der Korrektur jener Fehleinschätzung, die Bovet (2002) so konstatiert: Die erziehungswissenschaftlichen Anteile am Lehramtsstudium (die Psychologie eingeschlossen) seien in den Augen vieler „vor allem für den Unterricht bei den Kleinen und Behinderten gut“ (S. 127). Die Chancen für einen Ausbau der psychologischen Anteile am Lehramtsstudium sind nicht schlecht: Viele psychologische Themen erfahren Akzeptanz bei den Praktikern, und die neuen Studienkonzeptionen lassen mehr Raum für ihre Umsetzung in der Lehre. Allerdings muss dieser Raum auch angemessen ausgefüllt werden. Die neuen Curricula werden zunehmend kompetenzorientiert formuliert (Arnold, 2005). Das bedeutet, eine exklusive Zuschreibung von Inhalten zu bestimmten wissenschaftlichen Disziplinen wird seltener. Damit werden auch andere an der Lehramtsausbildung beteiligte Kräfte Anspruch auf die Vermittlung psychologischer Inhalte erheben - in der Weiterbildung ist dies längst der Fall. Die vor Ort tätigen Psychologie-Lehrenden müssen ihre fachlichen Ver- Psychologie im Lehramtsstudium 231 tretungsansprüche deutlich artikulieren und nachhaltig umsetzen, damit die Psychologie in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern die Rolle behält oder erhält, die ihr, gemessen an der Fundiertheit ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse, zukommen sollte. Anmerkung Wir danken Holger Schaan für seine Mitarbeit bei der Datenerhebung und -auswertung, Gislinde Bovet für ihre hilfreichen Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Manuskripts und der Sektion Aus-, Fort- und Weiterbildung (AFW) des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) für die Zusammenarbeit und ihre Unterstützung bei der Durchführung dieser Studie. Literatur Arnold, R. (2005). Didaktik der Lehrerbildung. Das Konzept der reflexiven pädagogischen Professionalisierung. Pädagogischer Konstruktivismus, Teil 5 (Beilage). GEW-Zeitung Rheinland-Pfalz, 114 (2), XVII - XX. Baumert, J., Klieme, E., Neubrand, M. Prenzel, M., Schiefele, U., Schneider, W., Stanat, P., Tillmann, K.-J. & Weiß, M. (Hrsg.). (2001). PISA 2000: Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (2003). Berufspolitisches Programm über Psychologie in Schulen. http: / / www.bdp-verband.org/ bdp/ archiv/ berufspol_programm_schule_%202003. pdf. Bovet, G. (2002). Zur Psychologieausbildung in gymnasialen Lehramtsstudiengängen und im Referendariat. Seminar, 2, 123 - 140. Deutsche Gesellschaft für Psychologie (2002). Psychologie in den Lehramtsstudiengängen. Ein Rahmencurriculum. http: / / www.dgps.de/ dgps/ kommissionen/ lehramt/ 001.php4. Dutke, S. & Singleton, K. (2006). Psychologie in der Aus- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern: Relevanzurteile erfahrener Lehrkräfte. Psychologische Berichte Online, 3 (http: / / kluedo.ub.uni-kl.de/ voll texte/ 2006/ 1930/ ). Konferenz der Rektoren und Präsidenten der Hochschulen in der Bundesrepublik Deutschland (1998). Empfehlungen zur Lehrerbildung. Entschließung des 186. Plenums vom 2. 11. 1998, Bonn 1998. Langfeldt, H.-P. (2001 a). Kommissionsbericht: Psychologie in den Lehramtsstudiengängen. Psychologische Rundschau, 52, 115 - 117. Langfeldt, H.-P. (2001 b). Zur Diskussion gestellt: Psychologie in den Lehramtsstudiengängen. Psychologische Rundschau, 52, 170 - 173. Wissenschaftsrat (2001): Empfehlungen zur künftigen Struktur der Lehrerbildung. Berlin: Deutscher Wissenschaftsrat 2001. Stephan Dutke Katja Singleton Technische Universität Kaiserslautern Fachbereich Sozialwissenschaften Fachgebiet Psychologie Pfaffenbergstr. 95 D-67663 Kaiserslautern E-Mail: dutke@sowi.uni-kl.de
