Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Phonologische und zentral-exekutive Arbeitsgedächtnisprozesse bei der mentalen Addition und Multiplikation bei Grundschulkindern
101
2006
Joachim Thomas
Christof Zoelch
Katja Seitz-Stein
Ruth Schumann-Hengsteler
Die vorliegende Studie geht vor dem Hintergrund des Arbeitsgedächtnismodells von Baddeley und Hitch (2000) der Frage nach, inwieweit sich im Rahmen einer zunehmenden Automatisierung von mentaler Addition und Multiplikation phonologische und zentral-exekutive Arbeitsgedächtnisanteile am Rechenprozess verändern. Dazu lösten Kinder der dritten und vierten Klassenstufe in zwei Experimenten mentale Additions- und Multiplikationsaufgaben unterschiedlicher Komplexität. Als abhängige Variablen dienten die Lösungsgüte und die Lösungszeiten. Im Sinne des Dual Task Paradigmas bearbeiteten die Probanden simultan zu den visuell dargebotenen Rechenaufgaben unterschiedliche Zweitaufgaben. Experiment 1 fokussierte die Funktion des Rehearsalprozesses und des passiven phonologischen Speichers und damit die Bedeutung der phonologischen Schleife für den Rechenprozess. Dazu verwendeten wir neben einer neutralen Kontrollbedingung eine einfache und eine kanonische artikulatorische Unterdrückungsaufgabe sowie irrelevante Hintergrundsprache. Die Befunde weisen auf eine Relevanz des artikulatorischen Kontrollprozesses für mentale Rechenoperationen hin. In Experiment 2 kam neben der neutralen Kontrollbedingung eine zentral-exekutive Interferenzaufgabe, die Random Number Generation Aufgabe, zum Einsatz. Die Ergebnisse zeigen für beide Rechenarten deutliche zentral-exekutive Beteiligungen auf. In beiden Experimenten zeigte sich mit zunehmender Automatisierung der Rechenoperationen eine Abnahme der interferierenden Effekte der phonologischen (Experiment 1) und der zentral-exekutiven (Experiment 2) Zweitaufgaben. Rechenartspezifische Unterschiede in der Beteiligung beider Subsysteme werden beschrieben und diskutiert.
3_053_2006_004_0275
Phonological and Central Executive Working Memory Processes in Children’s Mental Addition and Multiplication Summary: The present study is investigating the effect of increasing automatization of mental addition and multiplication on the involvement of phonological and central executive working memory processes (Baddeley & Hitch, 2000). For this purpose two experiments were carried out: third and fourth graders were asked to solve mental addition and multiplication problems of different difficulty. Number of correct answers and solution times served as dependent variables. In addition to the visually presented arithmetic problems subjects were required to simultaneously execute different secondary tasks. Experiment 1 focuses on the role of phonological rehearsal and passive storage, components of the phonological loop in mental calculation processes. Therefore a simple and a canonical articulatory suppression task and an irrelevant speech condition were contrasted to a neutral control condition. Results indicate the relevance of an articulatory control process for mental arithmetic in primary school children. In experiment 2 a central executive interference task, the random generation task, was applied in addition to a neutral control condition. Both arithmetic operations involve central executive processes. Furthermore the two experiments found a decrement of phonological and central executive interference with an increasing automation of mental addition and multiplication. The varying amount of phonological and central executive involvement in addition and multiplication is discussed specifically. Keywords: Working memory, mental arithmetic, arithmetic in elementary school, development, dual task Zusammenfassung: Die vorliegende Studie geht vor dem Hintergrund des Arbeitsgedächtnismodells von Baddeley und Hitch (2000) der Frage nach, inwieweit sich im Rahmen einer zunehmenden Automatisierung von mentaler Addition und Multiplikation phonologische und zentral-exekutive Arbeitsgedächtnisanteile am Rechenprozess verändern. Dazu lösten Kinder der dritten und vierten Klassenstufe in zwei Experimenten mentale Additions- und Multiplikationsaufgaben unterschiedlicher Komplexität. Als abhängige Variablen dienten die Lösungsgüte und die Lösungszeiten. Im Sinne des Dual Task Paradigmas bearbeiteten die Probanden simultan zu den visuell dargebotenen Rechenaufgaben unterschiedliche Zweitaufgaben. Experiment 1 fokussierte die Funktion des Rehearsalprozesses und des passiven phonologischen Speichers und damit die Bedeutung der phonologischen Schleife für den Rechenprozess. Dazu verwendeten wir neben einer neutralen Kontrollbedingung eine einfache und eine kanonische artikulatorische Unterdrückungsaufgabe sowie irrelevante Hintergrundsprache. Die Befunde weisen auf eine Relevanz des artikulatorischen Kontrollprozesses für mentale Rechenoperationen hin. In Experiment 2 kam neben der neutralen Kontrollbedingung eine zentral-exekutive Interferenzaufgabe, die Random Number Generation Aufgabe, zum Einsatz. Die Ergebnisse zeigen für beide Rechenarten deutliche zentral-exekutive Beteiligungen auf. In beiden Experimenten zeigte sich mit zunehmender Automatisierung der Rechenoperationen eine Abnahme der interferierenden Effekte der phonologischen (Experiment 1) und der zentral-exekutiven (Experiment 2) Zweitaufgaben. Rechenartspezifische Unterschiede in der Beteiligung beider Subsysteme werden beschrieben und diskutiert. Schlüsselbegriffe: Arbeitsgedächtnis, Kopfrechnen, Rechnen in der Grundschule, Entwicklung, Doppelaufgaben ■ Empirische Arbeit Phonologische und zentral-exekutive Arbeitsgedächtnisprozesse bei der mentalen Addition und Multiplikation bei Grundschulkindern 1 Joachim Thomas, Christof Zoelch, Katja Seitz-Stein, Ruth Schumann-Hengsteler Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2006, 53, 275 - 290 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 1 Die Untersuchungen wurden im Rahmen von DFG-Projekten der letztgenannten Autorin durchgeführt (Schu 840/ 4-1,2). 276 Joachim Thomas et al. Die vorliegende Studie untersucht den Einfluss verschiedener Teilkomponenten des Arbeitsgedächtnisses auf das Kopfrechnen von Kindern im Grundschulalter. Die Frage nach der Abhängigkeit der Nutzung unterschiedlicher Ressourcen vom Grad der Automatisierung der Rechenleistungen und dem Umfang benötigter Teiloperationen ist dabei forschungsleitend. Grundlage bildet dabei das modulare Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley und Hitch (1974, 2000), das sich für eine Vielzahl von Studien als heuristisch fruchtbar erwiesen hat. In der ursprünglichen Formulierung des Modells unterscheiden die Autoren zwei modalitätsspezifische Subsysteme für die Speicherung und Manipulation von phonologischer und visuell-räumlicher Information und eine zentrale Kontroll- und Koordinationsinstanz - die zentrale Exekutive (Baddeley & Hitch, 1974). Waren die Vorstellungen zur Funktion der zentralen Exekutive in der ursprünglichen Konzeption noch relativ vage, so werden ihr in neueren Studien eine Reihe von aufmerksamkeitssteuernden und koordinativen Kontrollprozessen zugeschrieben. Inhibition und Fokussierung der Aufmerksamkeit, Koordination zeitgleicher Speicher- und Verarbeitungsprozesse, Kontrolle von Enkodierungs- und Abrufstrategien, flexibler Wechsel des selektiven Aufmerksamkeitsfokus sowie der Abruf und die Manipulation von Information aus dem Langzeitgedächtnis werden in diesem Zusammenhang diskutiert (Baddeley, 1996; Miyake, Friedman, Emerson, Witzki & Howerter, 2000; Fournier, Larigauderie, & Gaonac’h, 2004; Towse & Houston-Price, 2001). Die phonologische Schleife (phonological loop, PL) wird unterteilt in eine „passive“ Speicherinstanz und eine „aktive“ Rehearsal- und Verarbeitungskomponente (vgl. Baddeley, 1998; Gathercole & Hitch, 1993). Bei dem visuell-räumlichen Subsystem (visualspatial sketchpad, VSSP) lassen sich ein statisch-visuelles und ein dynamisch-räumliches Teilsystem unterscheiden (vgl. Logie, 1999; Pickering, Gathercole, Hall, & Lloyd, 2001; Schumann-Hengsteler, Strobl & Zoelch, 2004). Der für die Untersuchung von Teilkomponenten des Arbeitsgedächtnisses (AG) vorherrschende Ansatz ist das Dual Task Paradigma, bei dem durch eine interferierende Zweitaufgabe die Verfügbarkeit subsystemspezifischer Arbeitsgedächtniskomponenten reduziert wird. Hier haben sich verschiedene Doppelaufgaben bewährt, die phonologische (vgl. Klatte, Lee & Hellbrück, 2002), visuellräumliche (vgl. Logie, Zucco & Baddeley, 1990; Quinn & McConnell, 1996) bzw. zentral-exekutive Kapazität (vgl. Towse, 1998; Vandierendonck, De Vooght & Van der Goten, 1998; Baddeley, Della Sala, Papagno & Spinnler, 1997; Zoelch, Seitz & Schumann- Hengsteler, 2005) in Anspruch nehmen. Hinsichtlich der Nutzung des Arbeitsgedächtnisses bei Rechenoperationen lassen sich unterschiedliche Effekte für die Rechenart, die Aufgabenkomplexität und die beteiligten Arbeitsgedächtniskomponenten nachweisen. Addition. Lemaire, Abdi und Fayol (1996) untersuchten die Rolle der phonologischen Schleife und der zentralen Exekutive bei mentaler Addition von einfachen Zahlen mittels einer Verifikationsaufgabe. Interferenzeffekte sowohl bei artikulatorischer Suppression als auch bei der Random-Generation-Bedingung wurden von den Autoren als Nachweis für die Beteiligung beider Arbeitsgedächtniskomponenten beim Addieren interpretiert. Einen weiteren Beleg für die Beteiligung der phonologischen Schleife bei der Lösung mehrstelliger Additionsaufgaben liefert der phonologische Ähnlichkeitseffekt (Noël, Désert, Aubrun, & Seron, 2001). Demgegenüber konnten De Rammelaere und Kollegen (De Rammelaere, Stuyven, & Vandierendonck, 1999, 2001; De Rammelaere & Vandierendonck, 2001) bei Additionsaufgaben mit Zehnerübertrag zwar Effekte der zentralen Exekutive, nicht aber der phonologischen Schleife nachweisen. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die phonologische Schleife bei einfachen Arbeitsgedächtnisprozesse beim Kopfrechnen in der Grundschule 277 mentalen Rechenaufgaben eine untergeordnete Rolle spiele bzw. nicht involviert sei (vgl. auch Oberauer, Demmrich, Mayr & Kliegl, 2001). Fürst und Hitch (2000) untersuchten die mentale Addition dreistelliger Zahlen. Artikulatorische Unterdrückung führte nur dann zu Leistungseinbußen, wenn die Probanden die Aufgabenstellung bereithalten mussten, nicht jedoch, wenn sie dazu auf einen externen Speicher (Bildschirm) zurückgreifen konnten. Die zentrale Exekutive war dagegen durchgängig involviert. Interaktionen mit der Aufgabenkomplexität, operationalisiert über den Umfang von Übertragsoperationen, werden von den Autoren auf die unterschiedliche Belastung der zentralen Exekutive zurückgeführt. Seitz und Schumann-Hengsteler (2002) konnten hingegen Evidenz dafür liefern, dass neben der zentralen Exekutive auch die phonologische Schleife an der Speicherung von Zwischenergebnissen bei Additionsaufgaben beteiligt ist. In zwei Experimenten lösten ihre Probanden zweistellige Additionsaufgaben mit und ohne Übertragsoperationen. Als Zweitaufgabe wurden neben einer modalitätsunspezifischen Kontrollbedingung, der neutralen „Tapping“-Aufgabe (gleichförmiges Fingerklopfen), artikulatorische Unterdrückung mittels eines Wortes („Limo“), kanonische Artikulation (kontinuierliche Artikulation von Zahlen oder Buchstaben in der Folge von 1 bis 8) sowie eine Random-Generation-Bedingung (Produktion einer möglichst zufälligen Folge von Buchstaben bzw. Zahlen) dargeboten. Alle drei subsystemspezifischen Zweitaufgaben führten zu Leistungseinbußen, am stärksten wirkte sich erwartungsgemäß die Random-Generation-Bedingung aus. Generell waren die Interferenzeffekte stärker bei den Aufgaben, die Übertragsoperationen erforderten. Die Befunde sprechen dafür, dass bei komplexeren Additionsaufgaben sowohl Ressourcen der zentralen Exekutive als auch der phonologischen Schleife beansprucht werden. Multiplikation. Wie bei den Studien zur mentalen Addition zeigen auch die Befunde zur Multiplikation durchgängig eine Beteiligung der zentralen Exekutive an den Rechenprozessen. In zwei Experimenten ließen Seitz und Schumann-Hengsteler (2000) Multiplikationsaufgaben unterschiedlicher Komplexität durchführen. Die einfachen Aufgaben (z. B. 3 x 4) sollten erwachsene Rechner lediglich durch einen Abruf aus dem Langzeitgedächtnis lösen, während für die komplexeren Aufgaben (9 x 16) umfangreichere Rechen- und Speicheroperationen angenommen wurden. Im Vergleich zur neutralen Tapping- Bedingung zeigten sich Effekte der Random- Generation-Aufgabe bei leichten und schwierigen Multiplikationsaufgaben, während sich erwartungsgemäß eine Störung der phonologischen Schleife durch artikulatorische Unterdrückung nur bei schweren Aufgaben nachweisen lies. Die Störung der passiven Komponente der phonologischen Schleife durch irrelevante Hintergrundsprache zeigte ebenso wenig Effekte wie eine visuell-räumliche Tapping-Aufgabe. In mehreren Studien untersuchte Grube (2006) die Additionsleistungen von Kindern im ersten bis vierten Schuljahr mit Verifikationsaufgaben. Er verknüpfte dabei das Doppelaufgaben-Paradigma mit einem korrelativen Ansatz. Neben einer neutralen Bedingung hatten die Kinder zusätzlich zu den Additionsaufgaben eine Tapping-Aufgabe bzw. eine artikulatorische Suppressionsaufgabe durchzuführen. Nur bei den Schülern der ersten Klassenstufe zeigte sich dabei ein Effekt der artikulatorischen Unterdrückung. Die Ergebnisse lassen sich wiederum als Nachweis für die Beteiligung der phonologischen Schleife bei der Verwendung von Zählstrategien ansehen. Da die Aufgaben sich auf den Zahlenraum bis 20 beschränkten, ist wahrscheinlich, dass die Schüler der höheren Klassenstufen überwiegend Abrufstrategien nutzen konnten. Die Bedeutung des Arbeitsgedächtnisses für die Bereithaltung der Aufgabenstellung betonen Adams und Hitch (1997). Die Autoren 278 Joachim Thomas et al. stellten bei einer Stichprobe von Grundschulkindern deutlich verringerte Leistungen bei auditiv gegenüber visuell präsentierten Additionsaufgaben fest. Dabei profitierten die älteren Schüler zunehmend mehr von der visuellen Darbietung. Im Vergleich zu Erwachsenen finden sich relativ wenig experimentelle Studien mit Kindern im Grundschulalter, die das Paradigma der Doppelaufgaben nutzen. Hitch, Cundick & Haughey (1987) untersuchten die Leistung von Kindern im Alter von 8 Jahren mit zweistelligen Additionsaufgaben im Verifikationsformat. Artikulatorische Unterdrückung führte im Gegensatz zu einer neutralen Tapping-Bedingung zu Leistungseinbußen, die von den Autoren als Hinweis auf die Beteiligung der phonologischen Schleife bei der Nutzung von Zählstrategien interpretiert wird. In einer Reihe von Studien konnten Bull und Kollegen (Bull & Johnston, 1997; Bull, Johnston & Roy, 1999; Bull & Scerif, 2001) Zusammenhänge zwischen der Rechenleistung und Maßen für verschiedene Komponenten des Arbeitsgedächtnisses nachweisen. Die Autoren kommen dabei zu dem Ergebnis, dass die Kapazität der phonologischen Schleife eine geringe Rolle spielt; entsprechende Spannenmaße zeigten keinen Zusammenhang zur Rechenleistung, wenn die Lesefertigkeit kontrolliert wurde. Deutlich waren dagegen die Zusammenhänge zwischen der Rechenleistung und der Kapazität der zentralen Exekutive, die mit dem Wisconsin Card Sorting Test (WCST: Heaton, Chelune, Talley, Kay & Curtiss, 1993) erfasst wurden. Bei differenzierter Betrachtung der Bedeutung einzelner zentral exekutiver Teilprozesse wie der Inhibitionskapazität, des flexiblen Wechsels zwischen zwei Aufgaben sowie der Koordination der Subsysteme (vgl. Miyake et al., 2000; Fournier et al., 2004) für den Rechenprozess ließen sich Korrelationen zwischen der Rechenleistung und der Hemmungseffizienz (Stroop-Aufgabe) sowie der Flexibilität (WCST) aufzeigen (Bull & Scerif, 2001). Die Zusammenhänge hatten auch nach Auspartialisierung der mit der Mathematikleistung hoch korrelierten Lesekompetenz sowie der Intelligenzleistung Bestand. In verschiedenen Studien an Grundschülern wurden defizitäre Arbeitsgedächtnisprozesse als mögliche Ursache von Rechenschwäche angegeben (Gaupp, 2003; Geary & Brown, 1991; Geary & Hoard, 2001; Siegel & Linder, 1984; Swanson, 1993). Passolunghi und Siegel (2001) untersuchten eine Stichprobe von neunjährigen Grundschülern mit und ohne Beeinträchtigung der Rechenleistungen und fanden Zusammenhänge zwischen dem Leistungsniveau in Rechenaufgaben und Maßen zur inhibitorischen Kontrolle. Ferner unterschieden sich die rechenschwachen von den normal rechnenden Kindern bei zahlenbasierten Spannenaufgaben, nicht jedoch bei Wortspannenaufgaben. Die Befunde der Autoren lassen sich so eher als Hinweis auf eine Beteiligung der zentralen Exekutive und weniger als Beleg für eine Nutzung der phonologischen Schleife interpretieren. Gaupp (2003) verglich rechenschwache und nicht rechenschwache Dritt- und Viertklässer u. a. hinsichtlich phonologischer, visuell-räumlicher und zentralexekutiver Leistungen. Sie fand ebenfalls keine Belege für die Beeinträchtigung phonologischer, wohl aber visuell-räumlicher und zentral-exekutiver Arbeitsgedächtnisprozesse bei rechenschwachen Kindern. Zusammenfassend ist eine Beteiligung der zentralen Exekutive beim Kopfrechnen von Grundschülern als gesichert anzusehen. Demgegenüber sind die Befunde zu den beiden Subsystemen des Arbeitsgedächtnisses uneinheitlich. Nicht ausreichend geklärt ist die spezifische Funktion sowohl der zentralen Exekutive als auch der beiden Subsysteme für unterschiedliche Teilprozesse mentaler Addition und Multiplikation. Dies soll hier in zwei Experimenten untersucht werden. Zunächst werden in Experiment 1 die phonologische Schleife und ihre Bedeutung fokussiert. Sie scheint bei der Addition dann eine wichtige Rolle zu spielen, wenn Zählstrategien zur Anwendung kommen oder die Bereit- Arbeitsgedächtnisprozesse beim Kopfrechnen in der Grundschule 279 haltung der Aufgabenstellung erforderlich ist. Nicht eindeutig geklärt ist, welche Rolle die phonologische Schleife bei komplexeren Operationen, wie z. B. dem Zehnerübertrag und somit dem Bereithalten von Zwischenergebnissen beim kindlichen Kopfrechnen spielt. In Experiment 2 wird die Beteiligung der zentralen Exekutive in Abhängigkeit von Lösungsprozessen bei Aufgaben unterschiedlicher Komplexität untersucht. In beiden Experimenten soll darüber hinaus geklärt werden, wie sich die Beanspruchung der Teilkomponenten des Arbeitsgedächtnisses in Abhängigkeit von zunehmender Automatisierung verändert. Experiment 1 Die Inanspruchnahme von Komponenten des Arbeitsgedächtnisses ist abhängig von den kognitiven Prozessen bei der Enkodierung des Problems, den operativen Lösungsprozessen sowie der Generierung eines Outputs. Dabei scheint das Bereithalten der Aufgabenstellung sowie möglicher Zwischenergebnisse eine wichtige Funktion der phonologischen Schleife zu sein. Wir erwarten einen Leistungsabfall bei der Lösung von mentalen Rechenaufgaben durch eine zusätzliche Belastung der phonologischen Schleife mit einer Zweitaufgabe. Dieser Leistungsabfall sollte dann größer sein, wenn die Rechenaufgabe aufgrund von Übertragsoperationen besondere Speicheranforderungen stellt. Analog zu den dargestellten Befunden bei Erwachsenen (Seitz & Schumann-Hengsteler, 2002) erwarten wir einen stärkeren Effekt der Störung der aktiven Rehearsal-Komponente der phonologischen Schleife gegenüber der passiven Speicherkomponente. Wir erwarten weiterhin, dass sich diese Effekte dann stärker auswirken, wenn Teilprozesse weniger stark überlernt und damit automatisiert sind, d. h., wenn die Schüler keine Abrufstrategie nutzen können. Bei Multiplikationsaufgaben des kleinen Einmaleins wird die Automatisierung im Sinne eines Ergebnisabrufs besonders trainiert. Wir nehmen daher an, dass bei mentaler Multiplikation geringere Interferenzeffekte im Bereich des phonologischen Subsystems zu finden sind als bei der mentalen Addition. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass sich bei Schülern, bei denen der Automatisierungsprozess weniger vorangeschritten ist, stärkere Interferenzeffekte zeigen als bei Schülern höherer Klassenstufen. Methode Stichprobe 93 Grundschüler der dritten und vierten Klassenstufe nahmen an der Untersuchung teil. 24 Kinder der dritten Klassenstufe (9; 5 Jahre) und 23 Kinder des 4. Schuljahres (10; 6 Jahre) lösten Additionsaufgaben, 23 Drittklässler (9; 6 Jahre) und 23 Viertklässler(10; 7 Jahre) lösten Multiplikationsaufgaben. Material Additionsaufgaben. Es wurden zwölf zweistellige Additionsaufgaben im Zahlenraum bis Hundert je Interferenzbedingung vorgegeben, sechs einfache (ohne Zehnerübertrag) und sechs komplexe (mit Zehnerübertrag) in abwechselnder Reihenfolge. Multiplikationsaufgaben. Die Multiplikationsaufgaben entstammten dem kleinen Einmaleins, wobei die sechs einfachen Aufgaben mindestens einen Multiplikator kleiner oder gleich fünf aufwiesen (z. B. 3 · 6 = ) und bei den sechs komplexen Aufgaben beide Multiplikatoren größer fünf waren (z. B. 6 · 9 = ). Es wurden keine gleichzahligen Aufgaben (z. B. 8 · 8 = ) vorgegeben. Interferenzaufgaben Neutrales Tapping (NT, Kontrollbedingung ohne subsystemspezifische Beteiligung): Die Versuchsperson musste mit dem Zeigefinger der dominanten Hand (ca. 2 Taps pro Sekunde in gleichmäßigem Rhythmus) auf den Tisch tippen. Irrelevante Hintergrundsprache (IH). Über einen Kopfhörer wurde den Versuchspersonen gleichmäßige japanische Hintergrundsprache mit der Anweisung präsentiert, diese nach Möglichkeit zu ignorieren. Der Schallpegel der Sprache betrug ca. 60 dB(A). Einfache artikulatorische Suppression (EAS). Hier mussten die Versuchspersonen die Silbe „bla“ fortwährend, etwa zweimal pro Sekunde, wiederholen. Zur Nennung des Rechenergebnisses wurde die Silbenartikulation unterbrochen. Kanonische artikulatorische Suppression (KAS). Die Probanden mussten hier eine gleichmäßige Artikulation der Zahlen „eins, zwei, drei, vier“ in stetiger Wiederholung vornehmen. Zur Ergebnisnennung wurde wiederum die Zahlenreihe unterbro- 280 Joachim Thomas et al. chen und sollte dann an gleicher Stelle wieder aufgenommen werden. Die Produktionsfrequenz war identisch zur einfachen artikulatorischen Suppressionsbedingung mittels der Silbe „bla“. Versuchsdurchführung: Jedes Kind wurde in einer Einzelsitzung untersucht. Die Zuordnung der Kinder zu den Experimentalbedingungen erfolgte zufällig. Die experimentellen Bedingungen wurden randomisiert. Vor jeder Interferenzbedingung erfolgte eine kurze Einführung und ein Übungsdurchgang der Zweitaufgabe ohne die primäre Rechenaufgabe. Danach mussten die Kinder mit der Ausführung der Zweitaufgabe beginnen. Erst nach Beendigung einer Bedingung durfte das Artikulieren oder Tappen wieder eingestellt werden. Die Antwortnennungen der Kinder und die Lösungszeiten wurden vom Versuchsleiter aufgezeichnet. Die Rechenaufgaben wurden nach der Lösungsnennung ausgeblendet. Nach einem Inter-Stimulus-Intervall von 500 Millisekunden erschien die nächste Aufgabe. Die Kinder erhielten keine Rückmeldung über die Richtigkeit ihrer Antworten. Die Untersuchung dauerte 15 - 20 Minuten pro Kind. Untersuchungsdesign: Eine Versuchsperson musste entweder Multiplikations- oder Additionsaufgaben bearbeiten, sodass ein vierfaktorielles Design mit den Zwischensubjektfaktoren Klassenstufe (3. und 4. Klasse) und Rechenart (Addition und Multiplikation) und den Innersubjektfaktoren Interferenz/ Zweitaufgabe (Neutrales Tapping, Irrelevante Hintergrundsprache, einfache artikulatorische Suppression und kanonische artikulatorische Suppression) sowie Aufgabenkomplexität (einfache und komplexe Aufgaben) resultierte. Es wurden die Lösungsgüte (Anzahl richtiger Aufgabenlösungen) und die Lösungszeit (in Millisekunden) untersucht. Da sich Effekte in der Lösungsgüte und/ oder der Lösungszeit ergeben können, erfolgte die Auswertung multivariat (Kail, 1985) und univariat. Ergebnisse Mittelwerte und Standardabweichungen der Lösungsgüte sind der Tabelle 1 und die der Lösungszeit Tabelle 2 zu entnehmen. Eine multivariate Varianzanalyse mit Messwiederholungen über die abhängigen Variablen Lösungszeit und Lösungsgüte erbrachte generelle Haupteffekte für die Faktoren Zweitaufgaben (F(6,82) = 12.35; p < .01; η 2 = .47), Aufgabenkomplexität (F(2,86) = 53.90; p < .01, η 2 = 0.56), Klassenstufe (F(2,86) = 28.51; p < .01, η 2 = .40) und Rechenart (F(2,86) = 15.79; p < .01; η 2 = .27). Die Aufgabenkomplexität interagierte signifikant mit der Klassenstufe (F(2,86) = 11.31; p < .01, η 2 = .21) und der Rechenart (F(2,86) = 7.56; p < .01, η 2 = .15). Alle weiteren Interaktionen erwiesen sich als statistisch nicht signifikant. Eine gesonderte univariate Betrachtung der Faktorwirkungen auf die abhängige Variable Lösungsgüte bestätigte die Ergebnisse der multivariaten Analyse. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Viertklässer in der Neutrales Irrelevante Einfache Kanonische Tapping Hintergrundsp. Artik. Sup. Artik. Sup. einfach komplex einfach komplex einfach komplex einfach komplex Addition 3. Klasse 5.65 5.26 5.39 5.04 5.35 4.52 5.3 4.30 (.57) (1.32) (.72) (1.02) (1.03) (1.34) (.93) (1.36) 4. Klasse 5.83 5.61 5.83 5.43 5.83 5.39 5.52 5.17 (.49) (.72) (.39) (.99) (.39) (.84) (.59) (1.03) Multiplikation 3. Klasse 5.43 4.91 5.39 4.83 5.22 4.91 5.22 4.65 (1.08) (1.47) (.99) (1.56) (1.28) (1.38) (1.20) (1.47) 4. Klasse 5.91 5.95 5.95 5.86 5.86 5.95 5.86 5.64 (.29) (.21) (.21) (.47) (.47) (.21) (.47) (.66) Tabelle 1: Mittelwerte und Standardabweichungen (in Klammern) für die Lösungsgüte nach Rechenart, Klassenstufe, Zweitaufgaben und Aufgabenschwierigkeit in Experiment 1 Arbeitsgedächtnisprozesse beim Kopfrechnen in der Grundschule 281 Lösungsgüte sowohl bei der Addition als auch der Multiplikation einen Deckeneffekt produzierten, d. h. die Kinder der vierten Klasse beherrschten diese elementaren Rechenaufgaben wie erwartet gut. Lediglich der Faktor Rechenart erbrachte keine signifikanten Unterschiede in der Lösungsgüte. Eine vierfaktorielle ANOVA für die Lösungszeit zeigte sich ebenso konform mit allen Befunden der multivariaten Analyse sowohl bezüglich der Hauptfaktoren als auch der gefundenen Interaktionen. Darüber hinaus zeigte die Analyse der Lösungszeiten weitere Interaktionen zwischen Aufgabenkomplexität und Zweitaufgaben (F(3,261) = 5.27; p < .01, η 2 = .06), Zweitaufgaben und Klassenstufe (F(3,261) = 4.34; p < .01, η 2 = .05), Zweitaufgaben und Rechenart (F(3,261) = 6.55; p < .01, η 2 = .07), Aufgabenkomplexität, Zweitaufgaben und Rechenart (F(3,261) = .95; p < .05, η 2 = .01) sowie Aufgabenkomplexität, Zweitaufgaben, Rechenart und Klassenstufe (F(3,261) = 2.53; p < .05, η 2 = .03). Zur Aufklärung der Interaktionen wurden gesonderte Varianzanalysen für jede Klassenstufe und Rechenart vorgenommen. Addition - 3. Klassenstufe Die Aufgabenkomplexität erwies sich für die 3. Klassenstufe sowohl bei multivariater (F(2,21) = 31.89, p < .01, η 2 = 0.75) als auch bei univariater Betrachtung, getrennt nach den abhängigen Variablen Lösungsgüte und Lösungszeit, als statistisch bedeutsam. Die Zweitaufgaben zeigten ebenfalls sowohl in der multivariaten als auch in den univariaten Analysen bedeutsame Effekte (MANOVA F(6,17) = 3.87, p < .05, η 2 = 0.58). Bei der univariaten Analyse der Lösungszeit fand sich außerdem eine bedeutsame ordinale Interaktion der Aufgabenkomplexität und der Zweitaufgaben (F(3,66) = 5.59, p < .01, η 2 = .20; vgl. Abb. 1). Bei den Aufgaben mit Zehnerübertrag führten die Zweitaufgaben zu einem größeren Anstieg der Lösungszeiten als bei den einfachen Additionsaufgaben. Ein Vergleich der verschiedenen Interferenzbedingungen ergab lediglich signifikante Mittelwertsunterschiede in der Lösungszeit und zwar zwischen der kanonischen artikulatorischen Suppression und allen anderen Bedingungen (NT, ICH, EAS), während sich die anderen Bedingungen nicht bedeut- Neutrales Irrelevante Einfache Kanonische Tapping Hintergrundsp. Artik. Sup. Artik. Sup. einfach komplex einfach komplex einfach komplex einfach komplex Addition 3. Klasse 6760 8465 6852 9190 7498 9985 10229 14125 (2634) (2804) (3263) (4433) (2976) (5042) (4458) (7253) 4. Klasse 4208 5197 4144 4981 4428 5430 6156 7455 (1116) (1722) (1318) (1612) (1268) (1959) (2403) (2906) Multiplikation 3. Klasse 4862 6060 5075 5943 4914 5801 6550 7923 (1662) (2544) (1764) (2414) (2015) (2651) (2249) (5637) 4. Klasse 2974 2901 2451 2939 2823 3266 3490 4258 (1117) (1017) (857) (1391) (1126) (1697) (1448) (1890) Tabelle 2: Mittelwerte und Standardabweichungen (in Klammern) für die Lösungszeit (in Millisekunden) nach Rechenart, Klassenstufe, Zweitaufgaben und Aufgabenschwierigkeit in Experiment 1 Hinweis zur Ausreißerkorrektur: Werte größer M + 2mal S wurde der jeweilige Einzelwert auf M + 2mal S gesetzt. 282 Joachim Thomas et al. sam voneinander unterschieden. Damit zeigten sich nur bei der Bedingung „kanonische artikulatorische Unterdrückung“ Leistungseinbußen gegenüber der Kontrollbedingung. Addition - 4. Klassenstufe Ähnlich wie in der dritten Klassenstufe konnten Haupteffekte der Aufgabenkomplexität sowohl bei multivariater (F(2,21) = 32.25, p < .01, η 2 = 0.75) als auch bei univariater Analyse der Lösungsgüte und der Lösungszeit gefunden werden. Der Effekt der Zweitaufgaben erwies sich ebenfalls bei multivariater (F(6,17) = 4.11, p < .05, η 2 = 0.59) und univariater Auswertung als bedeutsam. Bei einem Mittelwertsvergleich der Lösungszeiten zwischen den verschiedenen Interferenzbedingungen ergab sich das gleiche Ergebnismuster wie in der dritten Klassenstufe, d. h. nur die kanonische artikulatorische Suppressionsbedingung unterschied sich bedeutsam von den anderen drei Bedingungen. Multiplikation - 3. Klasse Die multivariate Auswertung zeigte Effekte der Aufgabenkomplexität (F(2,21) = 11.37; p < .01; η 2 = 0.52) und der Zweitaufgaben (F(6,17) = 3.33; p < .05; η 2 = .16). Der Komplexitätsfaktor ließ sich für die Lösungsgüte und die Lösungszeit bestätigen, der Faktor Zweitaufgaben dagegen nur für die Lösungszeit. Beim Vergleich der einzelnen Interferenzbedingungen ließen sich innerhalb der Variable Lösungszeit signifikante Mittelwertsunterschiede zwischen einzelnen Interferenzbedingungen nachweisen (NT leicht vs. KAS leicht : t 22 = -3.57; p < .003; IH leicht vs. KAS leicht : t 23 = -3.54; p < .003). Multiplikation - 4. Klasse Für die vierte Klassenstufe zeigte sich ein anderes Ergebnismuster: Bei multivariater Betrachtung der Faktoren Aufgabenkomplexität und Zweitaufgaben erwies sich lediglich letzterer als statistisch bedeutsam (F(6,16) = 12.18; p < .01, η 2 = 0.82). Der für die Lösungsgüte bereits angesprochene Deckeneffekt zeigte sich auch im Ausbleiben eines Effektes der Zweitaufgaben. Für die Lösungszeit zeigte sich hingegen ein sehr deutlicher Effekt der Interferenzbedingungen (F(3,63) = 28.99; p < .01; η 2 = 0.58). Der Mittelwertsvergleich der Lösungszeiten zeigte deutliche Unterschiede zwischen der kanonischen artikulatorischen Suppression und allen anderen Bedingungen (NT, ICH, EAS). Darüber hinaus ergab sich nur noch Abbildung 1: Lösungszeit nach Klassenstufe, Aufgabenschwierigkeit und Zweitaufgaben für Addition und Multiplikation in Experiment 1. NT = Neutrales Tapping; IH = Irrelevante Hintergrundsprache; EAS = Einfache Artikulatorische Suppression (Silbe „bla“); KAS = Kanonische Artikulatorische Suppression (1, 2, 3, 4) Arbeitsgedächtnisprozesse beim Kopfrechnen in der Grundschule 283 ein Unterschied zwischen der irrelevanten Hintergrundsprache und der einfachen artikulatorischen Unterdrückung (IH leicht vs. EAS leicht : t 22 = 3.39; p < .01). Auch bei der Multiplikation sind Effekte der Zweitaufgaben im Wesentlichen auf die Bedingung kanonische artikulatorische Suppression zurückzuführen. Diskussion Die Ergebnisse zeigen erwartungsgemäß bei allen Aufgaben einen Effekt der Klassenstufe. Dies gilt für die Lösungsgüte und die Lösungszeit. Auffallend sind die sehr guten Lösungsgüten der Viertklässler, die einen Deckeneffekt zeigen und damit einhergehend geringe Streuungen bei den Lösungsgüten und den Lösungszeiten aufweisen. Ein Effekt der Aufgabenkomplexität lässt sich für die Additionsaufgaben in der dritten und der vierten Klassenstufe nachweisen. Der größere operative Aufwand bei Aufgaben mit Zehnerübertrag wirkt sich offensichtlich auch bei einem höheren Automatisierungsgrad bei derartigen Rechenoperationen noch aus. Auch geübtere Rechner können zweistellige Additionsaufgaben nicht ausschließlich mit Abrufstrategien lösen. Die Befunde der Aufgaben zur Multiplikation sind dagegen weniger einheitlich. Effekte der Aufgabenkomplexität lassen sich bei den Lösungszeiten in beiden Klassenstufen nachweisen, während die Lösungsgüte nur bei der dritten Klassenstufe bedeutsam ist. Das Lehrziel für das „kleine Einmaleins“ besteht darin, den Abruf von elementarem arithmetischem Wissen zu automatisieren. Die Schüler der dritten Klassenstufe befinden sich noch mitten in diesem Lernprozess. Die Viertklässer sind beim Grundrechnen schon so geübt, dass der Effekt der Aufgabenkomplexität nur noch in der sensibleren abhängigen Variablen der Lösungszeit zu erkennen ist. Die Zweitaufgaben zeigen bei einfachen und komplexen Aufgaben beider Rechenarten für beide Klassenstufen einen Effekt. Die Analyse der Mittelwertsdifferenzen verdeutlicht, dass dieser Effekt fast vollständig auf die Interferenz der kanonischen artikulatorischen Suppression zurückzuführen ist. Die stärkere Leistungsbeeinträchtigung durch die kanonische Zweitaufgabe gegenüber der einfachen artikulatorischen Suppression könnte als semantische Interferenz durch das Zahlenmaterial gewertet werden. Sie könnte aber auch auf die Notwendigkeit von zentral-exekutiven Kontrollprozessen zur Aufrechterhaltung der Artikulationsabfolge hinweisen (vgl. hierzu Seitz & Schumann-Hengsteler, 2002). Beide Erklärungsalternativen legen die Annahme einer Beteiligung der zentralen Exekutive bei der Ausführung dieser Zweitaufgabe nahe. Eine eindeutige Zuordnung der Ressourcenallokation zu beiden Teilkomponenten des Arbeitsgedächtnisses beim kanonischen Artikulieren mit Zahlen ist nicht möglich. In einer zweiten Studie wollen wir daher die Rolle der zentralen Exekutive bei der mentalen Addition und Multiplikation bei unterschiedlich geübten Rechnern einer Prüfung unterziehen. Experiment 2 Da von einer Beteiligung der zentralen Exekutive beim Kopfrechnen von Dritt- und Viertklässern auszugehen ist, erwarten wir einen Effekt einer Zweitaufgabe, die auf Ressourcen der zentralen Exekutive zugreift. Wir vermuten dabei eine stärkere Beeinträchtigung bei Additionsaufgaben mit Zehnerübergang gegenüber den Additionsaufgaben mit geringer Komplexität. Bei Multiplikationsaufgaben im einstelligen Zahlenbereich, wie sie im zweiten Schuljahr erworben werden, erwarten wir, dass die Aufgaben mit einem Multiplikator kleiner oder gleich fünf weniger stark durch die Zweitaufgabe beeinträchtigt werden als solche mit größeren Multiplikatoren. Der Einfluss der zentral-exekutiven Zweitaufgabe sollte darüber hinaus bei Schülern des vierten Schuljahres aufgrund des höheren Automatisierungsgrades der Rechenkompetenz geringer ausgeprägt sein als bei jüngeren Schülern. 284 Joachim Thomas et al. Methode Stichprobe 171 Schüler der dritten und vierten Klassenstufe nahmen an der Untersuchung teil. 42 Schüler der dritten Klassenstufe mit einem Durchschnittsalter von 8 Jahren und 11 Monaten lösten Additionsaufgaben. 41 Kinder derselben Klassenstufe (M = 9; 6 Jahre) rechneten Multiplikationsaufgaben. 44 Versuchsteilnehmer der vierten Klassenstufe (M = 10; 6 Jahre) rechneten Additionsaufgaben, 44 Viertklässler (M = 9; 10 Jahre) lösten Multiplikationsaufgaben. Material und Versuchsdurchführung Art, Anzahl und Variation der Komplexität bei den Additions- und Multiplikationsaufgaben entsprachen ebenso den Bedingungen des ersten Experimentes wie die technische Ausstattung und die Versuchsdurchführung. Interferenzaufgaben: Neutrales Tapping (NT, Kontrollbedingung ohne subsystemspezifische Beteiligung): Diese Zweitaufgabe musste wie in Experiment 1 durchgeführt werden. Random Number Generation (RG): Die Aufgabe der Versuchspersonen bestand darin, aus einem Itempool der Zahlen 1 bis 9 eine zufällige Reihe zu generieren. Der Versuchsleiter achtete darauf, dass alle zwei Sekunden die Nennung einer Zahl erfolgte. Die Artikulation der Zufallsreihe wurde lediglich zur Nennung des Rechenergebnisses unterbrochen. Untersuchungsdesign: Wieder handelte es sich um ein vierfaktorielles Design: Klassenstufe (2) x Rechenart (2) x Interferenz/ Zweitaufgaben (2: NT und RG) x Aufgabenkomplexität (2). Die Lösungsgüte (Anzahl richtiger Aufgabenlösungen) und die Lösungszeiten (in Millisekunden) wurden erhoben. Ergebnisse Die Tabellen 3 und 4 zeigen Mittelwerte und Standardabweichungen der beiden abhängigen Variablen Lösungsgüte und Lösungszeit. Die MANOVA mit Messwiederholungen wies Haupteffekte für die Zweitaufgaben (F(2,165) = 120.56; p < .01; η 2 = 0.59), die Aufgabenkomplexität (F(2,165) = 46.84; p < .01, η 2 = .36), die Klassenstufe (F(2,165) = 9.56; p < .01, η 2 = .10) und die Rechenart (F(2,165) = 11.67; p < .01; η 2 = .13) nach. Mit dem Faktor Aufgabenkomplexität interagierten sowohl die Rechenart (F(2,165) = 7.92; p < .01, η 2 = .09) als auch die Interferenzbedingung (F(2,165) = 6.03; p < .01, η 2 = .07). Darüber hinaus ergab sich eine bedeutsame Interaktion zwischen den Zweitaufgaben und der Rechenart (F(2,165) = 4.26; p < .01, η 2 = .05). Die univariate Analyse der Lösungsgüte erbrachte signifikante Effekte für die Zweitaufgaben, die Aufgabenkomplexität und die Klassenstufe. Die univariate Varianzanalyse für die Lösungszeit bestätigte das in der MANOVA festgestellte Ergebnismuster. Auch die nach- Interferenz Neutrales Tapping Random Generation Komplexität einfach komplex einfach komplex Addition 3. Klasse 4.88 3.85 4.34 3.34 (1.66) (2.19) (1.73) (2.06) 4. Klasse 5.64 4.80 4.82 3.84 (0.75) (1.49) (1.37) (1.72) Multiplikation 3. Klasse 4.93 3.93 4.00 3.49 (1.21) (1.99) (1.32) (1.53) 4. Klasse 5.45 4.66 4.77 4.23 (0.93) (1.41) (1.27) (1.55) Tabelle 3: Mittelwerte und Standardabweichungen (in Klammern) für die Lösungsgüte nach Rechenart, Klassenstufe, Zweitaufgaben und Aufgabenschwierigkeit in Experiment 2 Arbeitsgedächtnisprozesse beim Kopfrechnen in der Grundschule 285 gewiesenen Interaktionen zeigten das gleiche Ergebnismuster wie die vierfaktorielle MA- NOVA. Zur Aufklärung der gefundenen Interaktionen wurden wieder separate Varianzanalysen für die beiden Klassenstufen und Rechenarten durchgeführt. Addition - 3. Klassenstufe Die Aufgabenkomplexität erwies sich innerhalb der 3. Klassenstufe als statistisch bedeutsam und dies sowohl in der multivariaten (F(2,39) = 31.16, p < .01, η 2 = 0.67) als auch in den univariaten Analysen für Lösungsgüte und Lösungszeit. Auch für die Zweitaufgaben ergaben multivariate (F(2,39) = 18.76, p < .01, η 2 = .49) und univariate Analysen hinsichtlich der Lösungsgüte und der Lösungszeit statistisch bedeutsame Effekte. Dabei wirken die Aufgabenkomplexität und die Zweitaufgaben in der Analyse der Lösungszeiten (F(1,40) = 6.29, p < .05, η 2 = .14) im Sinne einer ordinalen Interaktion zusammen, d. h. bei komplexen Aufgaben wirkt sich der Einfluss der Zeitaufgabe stärker aus (vgl. Abb. 2). Hinsichtlich der Lösungsgüte ergab sich keine signifikante Interaktion der unabhängigen Variablen. Addition - 4. Klassenstufe Ein annähernd gleiches Ergebnismuster findet sich für die zweifaktoriellen Varianzanalysen der vierten Klassenstufe bei der Addition. Die Aufgabenkomplexität hatte sowohl bei multivariater (F(2,42) = 38.48, p < .01, η 2 = 0.65) als auch bei univariater Analyse der Lösungsgüte und der Lösungszeit einen bedeutsamen Einfluss. Auch die Zweitaufgaben zeigten bei multivariater (F(2,42) = 24.52, p < .01, η 2 = 0.54) und univariater Auswertung signifikante Effekte. Wie bei den Schülern der dritten Klassenstufe zeigte sich bei multivariater Betrachtung eine Interaktion der beiden Faktoren (F(2,42) = 3.58, p < .05, η 2 = .14), d. h., die Zweitaufgabe führte bei den komplexeren Aufgaben zu stärkeren Leistungseinbußen als bei den einfachen Aufgaben. Dieser Effekt erwies sich auch bei univariater Auswertung der Lösungszeit als statistisch bedeutsam, nicht jedoch bei der Lösungsgüte. Multiplikation - 3. Klasse Für die Multiplikation der Schüler der 3. Klasse ergab sich ein klares Ergebnismuster in der multivariaten und in den beiden univariaten Interferenz Neutrales Tapping Random Generation Komplexität einfach komplex einfach komplex Addition 3. Klasse 8079 10284 14279 19902 (5025) (5667) (8474) (12364) 4. Klasse 4974 7320 12019 17138 (2053) (3231) (8124) (11196) Multiplikation 3. Klasse 5691 6061 10092 12134 (3393) (2926) (5432) (7553) 4. Klasse 4308 4930 9186 10283 (1797) (2628) (7254) (11181) Tabelle 4: Mittelwerte und Standardabweichungen (in Klammern) für die Lösungszeit (in Millisekunden) nach Rechenart, Klassenstufe, Zweitaufgaben und Aufgabenschwierigkeit in Experiment 2 Hinweis zur Ausreißerkorrektur: Bei Werten größer M + 2mal S wurde der jeweilige Einzelwert auf M + 2mal S gesetzt. 286 Joachim Thomas et al. Analysen: Sowohl die Aufgabenkomplexität (MANOVA: F(2,39) = 52.75; p < .01; η 2 = 0.73) als auch die Zweitaufgaben (MANOVA: F(2,39) = 7.03; p < .01; η 2 = 0.26) zeigten bedeutsame Effekte auf die Lösungsgüte und die Lösungszeit. Bedeutsame Interaktionen ließen sich dagegen nicht nachweisen (vgl. auch Abb. 2). Multiplikation - 4. Klasse Für die vierte Klasse zeigte sich bei der Multiplikation ein anderes Ergebnismuster: Zwar erbrachte auch hier die Interferenzstatistik keine bedeutsamen Interaktionen, aber der Effekt der Zweitaufgaben wurde nur bei multivariater Analyse (F(2,42) = 7.10, p < .01, η 2 = .25) und gesonderter Betrachtung der Lösungsgüte statistisch bedeutsam, nicht jedoch für die Lösungszeit. Die Wirkung der Aufgabenkomplexität auf die Rechenleistung ließ sich sowohl multivariat (F(2,42) = 14.20; p < .01, η 2 = .40) als auch univariat für die Lösungsgüte und Lösungszeit feststellen. Diskussion Die Ergebnisse der zweiten Untersuchung zeigen ebenso wie Experiment 1 einen deutlichen Kompetenzzuwachs von der dritten zur vierten Klassenstufe (Lösungsgüte und Lösungszeiten). Dabei bleiben Effekte der Aufgabenkomplexität bestehen: Bei den Additionsaufgaben finden sich in der dritten und der vierten Klassenstufe starke Effekte, während bei den Multiplikationsaufgaben die Effektgrößen im vierten Schuljahr deutlich geringer ausfallen. Dies lässt sich auf die zunehmende Beherrschung von Abrufstrategien beim kleinen Einmaleins zurückführen. Weiterhin wurde ein eindeutiger Effekt der Interferenzbedingungen und damit eine Beteiligung der zentralen Exekutive nachgewiesen. Besonders interessant ist hierbei die Wechselwirkung zwischen der Aufgabenkomplexität und den Zweitaufgaben bei den Additionsaufgaben. Aufgaben, die den Zehnerübertrag erfordern, sind stärker von einer Zweitaufgabe störbar, die auf Ressourcen der zentralen Exekutive zugreift. Gesamtdiskussion Mit der vorliegenden Studie sollte die Beteiligung verschiedener Arbeitsgedächtniskomponenten (Baddeley & Hitch, 1974; Baddeley, 2000) beim Kopfrechnen von Kindern im Grundschulalter untersucht werden. Hintergrund ist die Frage nach Veränderungen in der Nutzung von subsystemspezifischen Arbeitsgedächtnisressourcen, die möglicherweise mit zunehmender Automatisierung des Rechenprozesses einhergehen. Beide hier vorgestellten Experimente, in denen insgesamt über 250 Kinder der dritten und vierten Klasse un- Abbildung 2: Lösungszeit nach Klassenstufe, Aufgabenschwierigkeit und Zweitaufgaben für Addition und Multiplikation in Experiment 2 (NT = Neutrales Tapping; RG = Random Generation) Arbeitsgedächtnisprozesse beim Kopfrechnen in der Grundschule 287 tersucht wurden, untermauern die zentrale Bedeutung, die das Arbeitsgedächtnis beim Kopfrechnen einnimmt. Phonologische Schleife: Der allgemeine Effekt der Zweitaufgaben (Neutrales Tapping, irrelevante Hintergrundsprache, einfache artikulatorische Suppression, kanonische artikulatorische Suppression) auf das Kopfrechnen der Grundschüler im ersten Experiment scheint zunächst ein klarer Beleg für die Bedeutung der phonologischen Schleife für das mentale Addieren und Multiplizieren der Dritt- und Viertklässer zu sein. Wie beim Kopfrechnen von erwachsenen Versuchspersonen, scheint also die phonologische Schleife auch bei Kindern involviert zu sein (Fürst & Hitch, 2000; Seitz & Schumann-Hengsteler, 2002). Eine spezifische Analyse zeigt jedoch, dass dieser Effekt bei unseren Grundschülern nicht durch die irrelevante Hintergrundsprache, der klassischen Zweitaufgabe zur Belegung des passiven phonologischen Speichers der phonologischen Schleife, verursacht ist. Auch die einfache artikulatorische Unterdrückung mit einem einsilbigen Wort, die Blockadeaufgabe für den aktiven phonologischen Rehearsalprozess, ist nicht ausschlaggebend für den starken Effekt der Zweitaufgaben beim Addieren und Multiplizieren von Dritt- und Viertklässern. Der Einfluss der Interferenzaufgaben geht vielmehr fast ausschließlich auf die Wirkung der kanonischen artikulatorischen Suppression (KAS) zurück. Das bedeutet, dass die unterschiedlichen Anforderungen der KAS im Vergleich zu der einfachen artikulatorischen Suppression (EAS) den Effekt verursachen. Beide Aufgaben blockieren zunächst den Rehearsalprozess der phonologischen Schleife, die KAS braucht aber zusätzliche Ressourcen, um die zu artikulierende Reihenfolge (1, 2, 3, 4) aufrechtzuerhalten. Ob diese Ressourcen nun phonologischer Natur sind, oder ob sie eher zur zentralen Kontroll- und Steuerinstanz und damit der zentralen Exekutive zuzurechnen sind, kann nicht abschließend beantwortet werden. Festzuhalten bleibt, dass es möglicherweise zentral-exekutive Anforderungen sind, die den Unterschied ausmachen und damit den Effekt bedingen. Anzumerken ist, dass auch Erwachsene beim Kopfrechnen durch kanonische Artikulation stärker beeinträchtigt sind, als durch einfache artikulatorische Unterdrückung (Seitz & Schumann-Hengsteler, 2002). Eine alternative Erklärungsmöglichkeit für die Unterschiede zwischen der einfachen und der kanonischen artikulatorischen Suppression liegt in semantischen Interferenzen, die das zu artikulierende Zahlenmaterial der KAS mit den Recheninhalten selbst hat. Dieser Erklärungsansatz wurde empirisch bislang nur an erwachsenen Rechnern geprüft und konnte für diese klar widerlegt werden (Seitz & Schumann-Hengsteler, 2002). Zusammenfassend ist nicht von einer Nutzung der phonologischen Schleife beim Addieren und Multiplizieren von Dritt- und Viertklässern nach den präsentierten Daten auszugehen. Unsere Ergebnisse stützen die Befunde, die der phonologischen Schleife wenig Bedeutung im Rechenprozess von Grundschülern zuschreiben (Bull & Johnston, 1997; Bull et al., 1999; Bull & Scerif, 2001), zumindest dann, wenn durch fortwährende visuelle Präsentation der Rechenaufgabe keine Bereithaltensprozesse benötigt werden. Andere, nämlich zentral-exekutive Arbeitsgedächtnisprozesse sollten demnach bedeutender für das Lösen der hier verwendeten Grundrechenaufgaben sein (vgl. auch Weberschock & Grube, 2006, in diesem Band). Zentrale Exekutive: Die Rolle der zentralen Exekutive wurde im zweiten Experiment geprüft. Die hier zum Einsatz gekommene Random-Number-Generation-Aufgabe (RG) zeigte deutliche Effekte auf die Rechenleistung der Dritt- und Viertklässer. Bei den Additionsaufgaben zeigten die Leistungen der Kinder beider Klassenstufen einen Einfluss der zentralen Exekutive, der dann besonders deutlich war, wenn Additionsaufgaben mit Zehnerübertrag bearbeitet wurden. Dies spricht dafür, dass die Anforderungen, 288 Joachim Thomas et al. die der Zehnerübertrag stellt, der zentralen Exekutive zuzuordnen sind (vgl. Seitz & Schumann-Hengsteler, 2002). Auch bei der Multiplikation wurde die Beteiligung der zentralen Exekutiven für beide Klassenstufen eindeutig nachgewiesen. Da keine differenziellen Effekte für die beiden Aufgabenkomplexitäten der Multiplikation auftraten, ist von grundsätzlich vergleichbaren zentral-exekutiven Beanspruchungen auszugehen. Der beobachtete „problem-size“-Effekt (vgl. Dehaene, 1993) bei den Multiplikationsaufgaben zeigt keinen Zusammenhang zu modalitätsspezifischen Arbeitsgedächtnisprozessen. Die Befundlage zu zentral-exekutiven Arbeitsgedächtnisprozessen zeigt eindeutig die bedeutende Rolle, die diese Teilkomponente für das Kopfrechnen von Grundschülern spielt (wie auch bei Erwachsenen, vgl. DeStefano & LeFevre, 2004). Korrelationen von Rechenleistungen und Maßen zur inhibitorischen Kontrolle (Passolunghi & Siegel, 2001), Stroopähnlichen Maßen der zentralen Exekutive und Rechenbeeinträchtigungen (Gaupp, 2003), Zusammenhänge von Rechenleistungen und Ergebnissen im Wisconsin Card Sorting Test (Bull et al., 1999) zeichnen gemeinsam mit der hier berichteten Studie der Doppelaufgaben trotz unterschiedlichster methodischer Herangehensweisen ein einheitliches Bild: Spätestens ab der dritten Klassenstufe stellt die zentrale Exekutive das für Kopfrechenaufgaben wichtigste Teilsystem des Arbeitsgedächtnisses dar. Da schon für das Grundschulalter unterschiedliche Komponenten der zentralen Exekutive anzunehmen sind (Zoelch, Seitz & Schumann-Hengsteler, 2005) muss die Frage nach diesen Komponenten und ihrer Beteiligung in einzelnen Rechenprozeduren weiter verfolgt werden. Deschuyteneer und Vandierendonck (2005) haben hier erste Schritte unternommen, die Aufgaben „input monitoring“ und „responce selection“ beim Kopfrechnen von Erwachsenen genauer zu untersuchen. Anwendung auf Rechenschwierigkeiten: Die Frage nach der Arbeitsgedächtnisbeteiligung am Rechenprozess von Grundschülern ist auch vor dem Hintergrund der häufigen Auffälligkeiten im Rechenerwerbsprozess (Rechenschwierigkeiten, Rechenschwäche, Dyskalkulie) besonders wichtig. Studien wie die von Gaupp (2003), in denen als rechenschwach diagnostizierte Kinder (nach DSM- IV-Kriterien) Beeinträchtigungen in spezifischen Arbeitsgedächtnisaufgaben zeigen, unterstreichen die Notwendigkeit dieser Grundlagenforschung. Erst wenn relevante Arbeitsgedächtniskomponenten isoliert werden können, bietet sich die Möglichkeit, Schwächen bei diesen Informationsverarbeitungsprozessen gezielt zu begegnen. Automatisierung von Rechenoperationen: Zwischen der dritten und der vierten Klassenstufe konnte konsistent ein Leistungsunterschied (Lösungsgüte und Lösungszeit) bei den hier bearbeiteten Aufgaben festgestellt werden. Dabei muss auf die Unterschiede zwischen den beiden Rechenarten hingewiesen werden. Die mentale Addition zweier zweistelliger Zahlen enthält mehr Teilprozesse als das Lösen von Multiplikationsaufgaben aus dem kleinen Einmaleins. Dies spiegelt sich in den Lösungszeiten wider. Aber auch diese, über den reinen Wissensabruf hinausgehenden Operationen laufen zunehmend automatisierter ab. Die zunehmende Effizienz beim Kopfrechnen spiegelt das erfolgreiche Erreichen eines zentralen Lernziels der Grundschule wider. Niveauunterschiede in den Lösungszeiten beider Grundrechenarten bleiben jedoch bestehen. Für den von uns untersuchten Zusammenhang von Automatisierungsgrad und Nutzung unterschiedlicher Arbeitsgedächtniskomponenten können wir abschließend festhalten: Es konnte keine Veränderung der Nutzung unterschiedlicher Arbeitsgedächtniskomponenten als Folge einer Automatisierung der Rechenprozesse beim Multiplizieren im Grundschulalter gefunden werden. Eine Tendenz zu einer abnehmenden Bedeutung der phonologischen Schleife (Interferenz durch die einfache artikulatorische Suppression) für Addi- Arbeitsgedächtnisprozesse beim Kopfrechnen in der Grundschule 289 tionsaufgaben zwischen der dritten und der vierten Klassenstufe ist der einzige Anhaltspunkt auf eine solche Veränderung in der Nutzung subsystemspezifischer Arbeitsgedächtnisressourcen. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der zentralen Exekutive und dem Automatisierungsgrad der Rechenroutinen kann nicht abschließend beantwortet werden. Hier sind weitere Untersuchungen erforderlich, in denen sowohl eine Differenzierung einzelner Funktionen der zentralen Exekutive (Deschuyteneer und Vandierendonck, 2005) als auch der bei der Lösung der Aufgaben beteiligten Prozeduren (Seitz & Schumann-Hengsteler, 2002) berücksichtigt werden sollten. Literatur Adams, J. W. & Hitch, G. J. (1997). Working memory and children’s mental addition. Journal of Experimental Child Psychology, 67, 21 - 38. Baddeley, A. D. (1996). Exploring the central executive. The Quarterly Journal of Experimental Psychology, 49, 5 - 28. Baddeley, A. (1998). Recent developments in working memory. Current Opinion in Neurobiology, 8, 234 - 238. Baddeley, A. (2000). Short-term and working memory. In E. Tulving & F. I. M. Craik (Eds.), The Oxford handbook of memory (pp 77 - 92). New York: Oxford University Press. Baddeley, A., Della Sala, S., Papagno, C., & Spinnler, H. (1997). 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