eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 53/2

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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"Also, man würde lieber rausgehen, wenn viele Hausaufgaben zu machen sind."

41
2006
Manfred Hofer
Christina Saß
Anhand von Interviews wurden Eltern (N = 24) über die Beziehungen zwischen schulischen und Freizeitaktivitäten bei ihren jugendlichen Kindern befragt. Inhaltliche Schwerpunkte der Interviews waren die Wertorientierungen ihrer Kinder, deren Verhaltensweisen beim Erledigen von Hausaufgaben und kulturelle Faktoren, die für die Lernmotivation von Kindern verantwortlich sind. Das Interview basierte auf der Theorie motivationaler Handlungskonflikte (Hofer et al., 2004). Sie besagt, dass die Entscheidung für eine Lernhandlung von den Anreizen alternativer Handlungen und den Wertorientierungen der Person abhängt, dass es nach einer Entscheidung für eine Lernhandlung zu Defiziten in der Lernregulation kommen kann, und dass viele Ablenkungen in unserer Kultur motivationale Handlungskonflikte wahrscheinlich machen. Die Einschätzungen der Eltern gehen in Teilen konform mit der Theorie. Von Interesse sind auch Abweichungen von der Theorie. Der Beitrag der Elternperspektive zur Aufklärung von Lernmotivation wird diskutiert.
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Die Theorie motivationaler Handlungskonflikte (Hofer et al., 2004) sagt Wahlkonflikte dann vorher, wenn zu einem Zeitpunkt mindestens zwei attraktive Handlungsalternativen vorhanden sind, die nicht gleichzeitig realisiert werden können. Solche Konflikte können bei Schülern vor allem zwischen Tätigkeiten für Schule und Freizeit auftreten. Sie werden als abhängig davon gesehen, wie wichtig ihnen die schulische Leistungserbringung im Verhältnis zu nicht schulbezogenen Freizeitaktivitäten ist. Als Folge von Handlungskonflikten werden Defizite in der Lernregulation angenommen. In den bisherigen Untersuchungen zur Theorie motivationaler Handlungskonflikte lag der Fokus auf der Sicht der Schülerinnen und Schüler, an- „When much homework has to be done, they prefer to go out.“ Motivational Action Conflicts of Adolescents in the View of their Parents Summary: Parents (N = 24) were interviewed to determine whether they observe their adolescent child experiencing conflicts between working for school and spending time in leisure activities. They were also asked how they perceive the value orientations of their adolescent children and whether cultural factors influence the learning motivation. The interview was designed according the constructs of the theory of motivational action conflicts (Hofer et al., 2004). The theory states that mood and performance of the pursued action depends on the incentives of alternative actions and on the individual values of the person. Cultural factors facilitate the occurrence of motivational conflicts. The results show that parents’ views parallel the theory. Interestingly, some of the results are in discordance to the theory. The relevance of the parents’ perspective for explaining learning motivation is discussed. Keywords: Learning motivation, value change, school-leisure conflict, homework Zusammenfassung: Anhand von Interviews wurden Eltern (N = 24) über die Beziehungen zwischen schulischen und Freizeitaktivitäten bei ihren jugendlichen Kindern befragt. Inhaltliche Schwerpunkte der Interviews waren die Wertorientierungen ihrer Kinder, deren Verhaltensweisen beim Erledigen von Hausaufgaben und kulturelle Faktoren, die für die Lernmotivation von Kindern verantwortlich sind. Das Interview basierte auf der Theorie motivationaler Handlungskonflikte (Hofer et al., 2004). Sie besagt, dass die Entscheidung für eine Lernhandlung von den Anreizen alternativer Handlungen und den Wertorientierungen der Person abhängt, dass es nach einer Entscheidung für eine Lernhandlung zu Defiziten in der Lernregulation kommen kann, und dass viele Ablenkungen in unserer Kultur motivationale Handlungskonflikte wahrscheinlich machen. Die Einschätzungen der Eltern gehen in Teilen konform mit der Theorie. Von Interesse sind auch Abweichungen von der Theorie. Der Beitrag der Elternperspektive zur Aufklärung von Lernmotivation wird diskutiert. Schlüsselbegriffe: Lernmotivation, Wertewandel, Schule, Freizeit, Hausaufgaben ■ Empirische Arbeit „Also, man würde lieber rausgehen, wenn viele Hausaufgaben zu machen sind.“ Motivationale Handlungskonflikte von Jugendlichen aus Elternsicht 1 Manfred Hofer, Christina Saß Universität Mannheim Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2006, 53, 122 - 133 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 1 Wir danken zwei anonymen Reviewern für wertvolle Hinweise zur Verbesserung dieses Manuskripts. Motivationale Handlungskonflikte von Jugendlichen 123 hand deren Angaben die Kernaussagen der Theorie überprüft wurden. Informationen und Einschätzungen von Eltern können bisherige Ergebnisse erweitern. Eltern, insbesondere Mütter, haben häufig täglichen Kontakt mit ihren Kindern, können das Auftreten von Handlungskonflikten und ihre Bedingungen sowie ihre Konsequenzen wahrnehmen und verfügen über eigene Sichtweisen und Interpretationen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, in welchem Ausmaß Eltern, insbesondere Mütter, den Wettbewerb zwischen Schule und Freizeit bei ihren Kindern wahrnehmen und wie sie die Bedingungen und Auswirkungen von Handlungskonflikten einschätzen. Theoretischer Hintergrund Ausgangspunkt der Theorie motivationaler Handlungskonflikte ist die alltägliche Beobachtung, dass Jugendliche in der heutigen Gesellschaft mehr Ablenkungen ausgesetzt sind als früher, die ihnen mitunter eine Konzentration auf schulische Leistungserbringung erschweren. Die Theorie modelliert die Situation, in der sich Schüler befinden, wenn Handlungen, die schulisch gefordert sind und als wichtig angesehen werden, mit Handlungen konkurrieren, die stärker dem Wohlbefinden dienen (vgl. Hofer 2003; Hofer et al., 2004). In einem motivationalen Handlungskonflikt erleben Lernende Unvereinbarkeiten zwischen schulischen und Freizeithandlungen oder auch zwischen verschiedenen Freizeit- oder lernrelevanten Handlungen. Diesem Phänomen wurde in der bisherigen Forschung zu Lernen und Motivation kaum Beachtung geschenkt (Hofer, 2004). Motivationale Handlungskonflikte sollten vor allem dann auftreten, wenn Jugendliche sich ihre Aktivitäten offen halten und sich erst im letzten Moment für eine Tätigkeit entscheiden. Geplante Regelmäßigkeit der Aktivitäten sollte die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens herabsetzen und eine Entscheidung für die Lernhandlung begünstigen, weil die Bindung einer Handlung an einen Zeitpunkt Konflikte überflüssig macht (vgl. den Vorsatzbegriff bei Gollwitzer, Fujita, & Oettingen, 2004). Weiter wird angenommen, dass individuelle Werte einen Einfluss auf das Auftreten von Handlungskonflikten und die anschließend getroffenen Entscheidungen haben. Individuelle Werte sind verallgemeinerte Strukturen von persönlichen Zielen, die über verschiedene Situationen hinweg zur Anwendung gelangen (Hofer et al., 2004). Im Anschluss an interkulturelle Forschungen von Inglehart (1998; Inglehart & Baker, 2000) gehen wir von zwei Hauptdimensionen von Werten aus, die als überdauernd und unabhängig voneinander variierend angenommen werden: Leistungswerte mit Betonung auf Arbeit und Erfolg sowie Wohlbefindenswerte mit Betonung auf Freizeit und Freunde (siehe auch Noelle-Neumann & Petersen, 2001; Gensicke, 2002; Deutsche Shell 2002). Handlungskonflikte entstehen verstärkt bei Jugendlichen mit hoher Wohlbefindensorientierung, selten bei Jugendlichen mit hoher Leistungsorientierung. Die Theorie geht weiter davon aus, dass die Ausführung einer gewählten Handlung auch nach der Entscheidung durch die Anreize der nicht gewählten Alternative gestört wird. Es kommt dann zu Störungen der Lernregulation. Typische Verhaltensweisen von Jugendlichen im Umgang mit Handlungskonflikten sind Abbrechen, Hin- und Herspringen zwischen Tätigkeiten, Multitasking und Aufschieben. Sie dienen dazu, trotz der Entscheidung für eine Handlungsalternative auch der anderen zur Ausführung zu verhelfen. Weil die andere Handlung nicht ausgeführt werden kann, sollte zudem eine Beeinträchtigung der Stimmung resultieren. Dies sollte zu verringertem Lerninvestment, oberflächlicherem Lernen und schlechteren Schulleistungen führen, Variablen, die typischerweise im Zusammenhang mit Hausaufgabenverhalten untersucht wurden (Trautwein & Köller, 2003 a,b). Die Forschung zu Hausaufgaben 124 Manfred Hofer, Christina Saß (vgl. Trautwein & Köller, 2003 a) hat sich mit dem Phänomen der Tätigkeitskonkurrenz bislang nicht befasst. Das Phänomen motivationaler Handlungskonflikte wird schließlich als Ausdruck eines Wertewandels gesehen, der seinerseits Folge gesellschaftlicher Umstände ist (Hofer, 2003). Übereinstimmend wird ein Wertewandel „von Unterordnungs- und Folgsamkeitswerten zu Selbstentfaltungswerten“ gesehen (Inglehart, 1998; Klages, 2002). In westlichen postindustrialisierten Wohlstandsgesellschaften sind - auch für Schüler - viele höchst reizvolle Freizeitaktivitäten mit einem erheblichen Ablenkungs- und Verführungspotential zugänglich. Versucht man die skizzierte Theorie motivationaler Handlungskonflikte in die Motivationspsychologie einzuordnen, so kann sie als Spezialfall von Theorien der Selbstregulation (Baumeister & Vohs, 2004), insbesondere des selbstkontrollierten Lernens (Boekaerts, Pintrich & Zeidner, 2000) angesehen werden, wobei sie auf die Bedingungen des Misslingens selbstregulierten Lernens fokussiert. Sie erklärt die Motivation für eine (Lern-)Handlung nicht nur aus den Anreizen dieser Handlung (oder deren Folgen), sondern auch aus denen anderer damit rivalisierender Handlungen. Alternative Handlungen wirken sich nicht nur vor der Entscheidung für eine Handlung, sondern auch in den Phasen der Handlungsvorbereitung und -ausführung auf die Qualität der gewählten Handlung aus (vgl. Heise, Gerjets & Westermann, 1997). Die Theorie motivationaler Handlungskonflikte stellt durch ihre Verknüpfung von kulturellem Kontext (Boekaerts, 2003), Wettbewerb von Handlungen und Misserfolg bei der Regulation des Lernens einen eigenen Ansatz dar. Die empirische Fundierung der Theorie begann mit einer Interviewstudie an Jugendlichen (Schmid et al., 2005). Ein semi-strukturiertes Interview umfasste die Themen Wertorientierung, Schul- und Freizeittätigkeiten, Konflikte zwischen diesen beiden Gruppen von Aktivitäten sowie Strategien des Umgangs damit. Die Jugendlichen bewerteten sowohl „Leistung“ als auch „Wohlbefinden“ hoch, wobei Leistung stärker mit schulischen, Wohlbefinden stärker mit Freizeitaktivitäten verknüpft war. Die Jugendlichen berichteten über motivationale Handlungskonflikte und nannten als Reaktionen darauf das Aufschieben von Hausaufgaben zugunsten von Freizeittätigkeiten, das Springen zwischen verschiedenen Tätigkeiten, das vorzeitige Abbrechen von Lernhandlungen, ein eher oberflächliches Lernen sowie eine gedämpfte Stimmung beim Lernen, wenn reizvollere Alternativen „warten“ oder während des Lernens auftreten. Insgesamt berichteten die Jugendlichen als Folgen von Tätigkeitswettbewerb behaviorale, kognitive und affektive Destabilisierungen. Die aus den Interviews gewonnenen Aspekte gingen in zwei quantitative Fragebogenstudien mit insgesamt 888 Jugendlichen der sechsten und achten Klassen ein. Die Schüler gaben an, dass sie Handlungskonflikte zwischen Schule und Freizeit im Mittel „manchmal“ erleben. Die Entscheidung für eine Lern- oder Freizeitalternative hing erwartungsgemäß mit den Wertorientierungen zusammen (Fries et al., 2005). Im Falle von Handlungskonflikten interferierten die Anreize der nicht ausgewählten und der ausgeführten Handlungen mit der Handlungsmotivation (Hofer et al., 2004; Dietz, Schmid & Fries, 2005). Auch konnten Zusammenhänge zwischen Werten, Handlungskonflikten, Lernregulation, investierter Lernzeit und Noten ermittelt werden (Fries et al., 2005). Schließlich zeigten experimentelle Untersuchungen, dass Ablenkungen in einer Lernsituation Motivation, Steuerung und Erfolg des Lernens beeinträchtigen (Dietz, 2005). Eltern nehmen das Verhalten ihrer Kinder wahr und bilden Erklärungen aus. Diese im Gedächtnis gespeicherten Vorstellungen basieren auf der Verarbeitung von Beobachtungen und Erfahrungen im weiteren Sinne. So vermuten Eltern als wesentliche Ursachen für mittelmäßige Schülerleistungen, wie in internationalen Schulleistungsstudien gezeigt, ver- Motivationale Handlungskonflikte von Jugendlichen 125 änderte gesellschaftliche Verhältnisse, z. B. „Es liegt daran, dass sich die Schüler in unserer Freizeitgesellschaft keine Zeit mehr zum häuslichen Lernen nehmen“ (Kohler, 2005). Untersuchungen zur Übereinstimmung von Eltern und Schülern bei der Einschätzung von Verhalten und Motivation bei Hausaufgaben (Cooper, Lindsay, Nye & Greathouse, 1998; Trautwein & Kropf, 2004) zeigen relativ geringe Korrespondenzen zwischen diesen beiden Personengruppen im Hinblick auf Zeit, Sorgfalt und Ernsthaftigkeit der Hausaufgabenbearbeitung. So eignen sich Elternangaben als eigenständige Datenquelle bei der Erfassung des interessierenden Phänomens. In der vorliegenden Studie sollen die Kognitionen von Eltern über die in der Theorie motivationaler Handlungskonflikte postulierten Konstrukte erfasst werden. 1. Wie kognizieren Eltern bei ihren Kindern die Phänomene motivationale Handlungskonflikte, motivationale Interferenz, regelmäßige Aktivitäten und Werte? 2. Welche Zusammenhänge zwischen den wahrgenommenen Kognitionen lassen sich feststellen? 3. Wie interpretieren Eltern kulturelle Einflüsse auf die Lernmotivation von Kindern? Der heuristische Charakter der Studie legt nahe, anstatt einer standardisierten methodischen Vorgehensweise als methodischen Zugang semi-quantifizierende, teil-strukturierte Interviews zu wählen. Diese Methode ermöglicht einerseits, relevante Konstrukte bei Eltern theorienah zu erfassen. Andererseits ist sie hinreichend offen bezüglich möglicher Antworten von Eltern, die theoretisch nicht erwartete Kognitionen enthalten. Stichprobe Die Stichprobe von 24 Elternteilen wurde durch Vermittlung von Mitgliedern der Schulpflegschaft sowie über den Bekanntenkreis der Zweitautorin rekrutiert. Die dazugehörigen Kinder (13 Jungen, 9 Mädchen) waren zwischen 10 und 15 Jahre alt (Mittelwert 12; 8) und hatten mindestens ein Geschwister. Sie verteilten sich auf Hauptschule (8), Realschule (7) und Gymnasium (9). Fünfzehn der Befragten waren Mütter, acht waren Väter. Ein Großvater hatte die Elternrolle in schulischen Angelegenheiten übernommen. Die meisten Befragten waren zumindest teilweise berufstätig. Alle Elternteile waren verheiratet. Nach telefonischer Kontaktaufnahme wurde ein Interviewtermin zu Hause vereinbart, bei dem es um Hausaufgaben, Lernen und allgemeine Erziehungsfragen gehen solle. Die Interviews dauerten zwischen 40 Minuten und zwei Stunden, im Mittel etwa eine Stunde. Der Interviewleitfaden Das Interview wurde anhand der Konstrukte der Theorie motivationaler Handlungskonflikte strukturiert. Um die Fragen an die Wahrnehmungen der Eltern anzupassen, wurden ausführliche Probeinterviews mit insgesamt vier Müttern durchgeführt, die eine erhebliche Kürzung des Leitfadens und Umformulierung unklarer Fragen nach sich zogen. Die Probeinterviews gingen nicht in die Auswertung ein. Es interessieren Fragen zu fünf Bereichen. (1) Nach Behandlung der Themen „Lernen für die Schule“ und „Freizeitgestaltung“ als Vorbereitung wurde zur Erfassung von motivationalen Handlungskonflikten gefragt, inwieweit die Eltern eine Konkurrenz zwischen den Bereichen Schule und Freizeit (sowie innerhalb des Schulbzw. Freizeitbereichs) sehen (z. B. „Wie häufig kommen Situationen vor, in denen sich ihr Kind nicht zwischen zwei Alternativen entscheiden kann? “). Um die Aufmerksamkeit der Eltern nicht zu stark auf den Aspekt des Wettbewerbs zu lenken, wurde eingangs gefragt, ob die Eltern glauben, dass sich die beiden Bereiche Schule und Freizeit positiv beeinflussen oder ob sie neutral zueinander stehen (zu Zielrelationen siehe Kruglanski et al., 2002). Außerdem gab es offene Fragen („Wann gibt es Konkurrenz, z. B. dass Ihr Kind gerne zwei Dinge gleichzeitig tun würde? “). (2) Zur Ermittlung der Regelmäßigkeit von Aktivitäten und deren Strukturierung im Tages- und Wochenablauf wurde die Regelmäßigkeit der Erledigung von Hausaufgaben ermittelt. Bei Freizeittätigkeiten wurde gefragt, inwieweit sie im strukturierten Rahmen stattfinden (z. B. Vereinssport oder Musikunterricht). (3) Zur Erfassung von Wertorientierungen wurden zwei Typenbeschreibungen verwendet. Es handelte sich um geschlechtskongruente Beschreibungen eines stark leistungsorientierten Jugendlichen (Textauszug: „Alex ist es vor allem wichtig, dass er im Leben etwas erreicht. Er hat klare Ziele. Er beißt sich auch durch eine unangenehme Aufgabe durch, wenn ihm sein Ziel wichtig ist.“) und eines ausgeprägt wohlbefindensorientierten Jugendlichen (Auszug: „Tom ist es vor allem wichtig, dass 126 Manfred Hofer, Christina Saß er im Leben Spaß hat und viel erlebt. Am liebsten verbringt er seine Zeit mit seinen Freunden. Er liebt Abwechslung und spontane Aktionen.“) (siehe Fries et al., 2005). Die Eltern sollten die Ähnlichkeit ihres Kindes zu diesen beiden Typen auf einer sechsstufigen Skala einschätzen. (4) Zur Ermittlung der Lernregulation wurden Fragen gestellt nach der Lerndauer („Wie lange kann sich Ihr Kind am Stück auf das Lernen konzentrieren? “), nach Handlungswechsel ( „Wie oft passiert es, dass Ihr Kind während der Hausaufgaben zwischendurch etwas anderes macht? “), Abbruch („Wie oft kommt es vor, dass die Hausaufgaben nicht zu Ende gemacht werden? “), Multitasking („Macht es während den Hausaufgaben noch andere Dinge, [z. B. Musik hören, fernsehen, telefonieren]? “, „Wie gut kann es verschiedene Dinge gleichzeitig tun? “), Aufschieben („Wie oft werden Hausaufgaben auf einen spätren Zeitpunkt verschoben? “) und zur Stimmung („Wie ist die Laune Ihres Kindes beim Lernen oder bei den Hausaufgaben? “). Die Fragen wurden von der Interviewerin während des Interviews jeweils auf einer fünfstufigen Skala geratet. Im Vergleich zur Erfassung des Hausaufgabenverhaltens bei Trautmann und Kropf (2004) richteten sich unsere Fragen auf spezifische Aspekte der Ernsthaftigkeit und Sorgfalt bei der Hausaufgabenbearbeitung der Kinder. Die Situationsbeschreibungen der Eltern ließen erkennen, dass sie über konkrete Repräsentationen verfügen, wie ihre Kinder Hausaufgaben machen. Schließlich wurde nach dem Verhältnis zwischen Freizeit und Lernzeit (mehr Freizeit oder mehr Zeit zum Lernen) und nach den Schulnoten in Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache gefragt. (5) Zur Ermittlung des Einflusses, den Eltern Faktoren gesellschaftlicher Werte auf die Lernmotivation von Jugendlichen beimessen, dienten offene Fragen wie: „Welche Einflüsse auf das Lernen von Schülern könnte es außerhalb von Schule und Elternhaus noch geben? “. Im Anschluss an die Befragung wurden den Eltern die wesentlichen Bestimmungsstücke der Theorie motivationaler Handlungskonflikte erläutert und die Möglichkeit zur explizit abweichenden Stellungnahme gegeben. Auswertung Die Interviews wurden mit Hilfe eines digitalen Diktiergerätes aufgezeichnet und vollständig transkribiert. Die Transkripte wurden anonymisiert. Zu den Themenbereichen liegen qualitative und quantitative Ergebnisse vor. Die qualitative Auswertung orientierte sich an der Analysetechnik der Strukturierung nach Mayring (2003). Die inhaltliche Kodierung der Analyseeinheiten erfolgte wie in der Schülerstudie (vgl. Schmid et al., 2005) deduktivinduktiv. In einem ersten Durchgang wurden die theoretisch hergeleiteten Kategorien auf das Material angewandt. Im Laufe weiterer Durchgänge wurden die Kategorien verändert, um den Aussagen der Eltern gerecht zu werden. Das System enthält auch Kategorien, die jenseits der hier behandelten Themen liegen. Zur Feststellung der Interkoderreliabilität bei den offenen Fragen wurden sieben Interviews von einer zweiten unabhängigen Person kodiert. Der Grad der Übereinstimmung über alle sieben Interviews gemittelt beträgt Z = .74 (Mayring, 2003). Für einzelne Antworten aus jedem Themenbereich wurden Quantifizierungen vorgenommen. Die entsprechenden Fragen wurden von der Interviewerin auf einer fünf- oder sechsstufigen Skala quantitativ geratet (siehe Tabelle 1). Die Interkoderreliabilitäten der Auswertung für alle Interviews lagen zwischen .44 und .86 (Kappa-Koeffizient) und sind nach den Bezeichnungen von Landis und Koch (1977) zwischen „moderate“ und „almost perfect“ zu bezeichnen. Ergebnisse Ergebnisse zur Frage nach den Konstrukten Die Mittelwerte und Standardabweichungen der quantifizierten Konstrukte sind in Tabelle 1 angegeben. Daraus ist ersichtlich, in welchem Umfang die Eltern die Aspekte beobachteten und welche interindividuellen Unterschiede vorlagen. (1) Motivationale Handlungskonflikte sollten dann auftreten, wenn eine Konkurrenz zwischen den Bereichen Schule und Freizeit auftritt. Dies wurde von den Eltern im Mittel mehrmals pro Woche gesehen (siehe Tabelle 1). Qualitativ lassen sich zwei Hauptmuster an Antworten identifizieren. Zum einen berichteten Eltern, dass Schule und Freizeit miteinander konkurrieren. Zum anderen waren die Eltern der Ansicht, dass beide einander ergänzen. Differenziertere Angaben finden sich zur ersten Hauptaussage. Sechzehn Eltern schilderten Konkurrenzsituationen. „Also, dass man lieber rausgehen würde, ist immer dann, wenn viele Hausaufgaben sind.“ Acht Eltern nahmen dieses Phänomen nur gelegentlich wahr. „Ja, das kommt natürlich immer mal wieder hoch. Wenn wer anruft, dann um drei Uhr: kommst du mit mir spielen? Und er ist mit den Hausaufgaben noch nicht fertig, das gibt natürlich immer Spannungen.“ Motivationale Handlungskonflikte von Jugendlichen 127 Konstrukt Teilkonstrukt Frage M s Antwortformat Motivationaler Wie häufig kommen Situationen vor, 1 0.8 dreistufig von „einmal pro Woche oder Handlungskonflikt in denen sich Ihr Kind nicht zwischen seltener“ (= 0) bis „ein- oder mehrmals zwei Alternativen entscheiden kann? am Tag“ (= 2) Planung Wie regelmäßig macht Ihr Kind 4.8 0.4 Fünfstufig von „überhaupt nicht und Struktur seine Hausaufgaben? regelmäßig“ (= 1) bis „immer“ (= 5) Zahl der strukturierten Freizeittätigkeiten? 2.1 1.4 Von 0 - 6 Werte Wohlbefindens- Ähnlichkeit zu Tom 4.5 1.0 Sechsstufig von „sehr unähnlich“ (1) orientierung bis „sehr ähnlich“ (6) Leistungs- Ähnlichkeit zu Alex 4.1 1.3 Siehe oben orientierung Motivationale Ausdauer Wie lange kann sich Ihr Kind am Stück 3.2 1.3 fünfstufig von „weniger als eine halbe Interferenz auf das Lernen konzentrieren? Stunde“ (1) über „etwa eine Stunde“ bis „mehrere Stunden“ (5) Handlungswechsel Wie oft passiert es, dass Ihr Kind während 2.3 0.8 fünfstufig von „nie“ (1) der Hausaufgaben zwischendurch etwas bis „wechselt sehr häufig“ (5) anderes macht? Abbruch Kommt es vor, dass Ihr Kind die 1.3 0.3 Zweistufig (nein = 1, ja = 2) Hausaufgaben nicht zu Ende macht? Multitasking Macht es während der Hausaufgaben 3 1.7 fünfstufig von „nie“ (1) bis „immer“ (5) noch andere Dinge (z. B. Musik hören, fernsehen, telefonieren)? Aufschieben Wie oft schiebt Ihr Kind seine 2.2 0.7 fünfstufig von „nie“ (1) bis „sehr häufig“ (5) Hausaufgaben auf? Stimmung Wie ist die Laune Ihres Kindes beim 1.9 0.6 fünfstufig von „überwiegend gut“ (1) Lernen oder bei den Hausaufgaben? bis „meist schlecht“ (5) Verhältnis Was ist mehr: Zeit für schulbezogene 3.8 1.1 fünfstufig von „wesentlich mehr Schule“ (1) Lernzeit zu Freizeit Tätigkeiten oder Zeit für Freizeitaktivitäten? bis „wesentlich mehr Freizeit“ (5) Schulnoten Durchschnittsnote Noten des letzten Zeugnisses in Mathematik, 2.7 0.6 Deutsch und der ersten Fremdsprache Tabelle 1: Mittelwerte und Streuungen der quantifizierten Elternantworten 128 Manfred Hofer, Christina Saß Am häufigsten wurde die Konkurrenz zwischen Hausaufgaben und Verabredungen mit Freunden genannt. Wenn Hausaufgaben bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertig sind, können sie mit festen Freizeitterminen in Konkurrenz treten. Konflikte zwischen verschiedenen Freizeitalternativen wurden nur von acht Eltern berichtet. Schüler gaben dafür zwischen „manchmal“ und „oft“ an (Fries et al., 2005). „Es ist natürlich auch ’ne Interessenkollision, wenn er Freunde hat, die gehen Fußballspielen und andere sagen, sie gehen ins Kino. Also da würd’ er beides gerne machen.“ Obwohl motivationale Handlungskonflikte als innere Zustände für Eltern nicht direkt beobachtbar sind, sind sie für viele offenbar ein nicht unvertrautes Phänomen. Einige Eltern sahen auch eine positive Verknüpfung zwischen den Bereichen Freizeit und Schule. Siebzehn Eltern fielen einzelne Beispiele ein, etwa dass das Kind in der Freizeit Materialien für den Unterricht sammelt. Verknüpfungen dieser Art vermissten aber viele Eltern. Sie sahen Unterricht und Freizeit als nebeneinanderstehende Bereiche. „Das steht nebeneinander. Weil das sind also zwei grundverschiedene Sachen: Schule das muss und ja, das geht nicht anders und nachmittags is: Juchhu.“ (2) Regelmäßigkeit von Aktivitäten. Antworten auf die Fragen zu Struktur und Planung zeigten, dass Eltern die Regelmäßigkeit der Hausaufgabenerledigung mit „meistens“ sehr optimistisch einschätzten (siehe Tabelle 1). Auch ist die Varianz sehr gering. „Also der macht ja immer die Hausaufgaben sofort nach der Schule, weil er das abgeschlossen haben möchte.“ (3) Werteausprägung. Die Eltern schrieben ihren Kindern anhand der beiden vorgegebenen Wertetypen im Mittel eine höhere Wohlbefindensorientierung als Leistungsorientierung zu, wobei jedoch beide Werte deutlich über dem neutralen Skalenpunkt lagen (Tabelle 1). Ein Beispiel für eine ausgewogene Werteverteilung findet sich in der Aussage: „Ich denke, sie ist da eher so’n Ausgleichsmensch, der sagt: ok, ich mach meinen Kram ordentlich, aber ich bin nicht karrieregeil, aber ich bin auch nicht der nur lustbetonte Mensch, dem Leistung vollkommen wurscht ist.“ Die Varianz weist auf Unterschiede in der Einschätzung der Eltern, insbesondere hinsichtlich der Leistungsorientierung, hin. „Aber er begreift dat noch nicht, glaube ich, so den Ernst der Sache, dat det wichtig ist, die Schule. Für ihn ist dat: Schule ist nicht wichtig, wichtig ist Spielen, draußen rumtoben.“ Die meisten Eltern äußerten die Meinung, dass es zwar eine typische Eigenschaft von Kindern sei, wohlbefindensorientiert zu sein, dass sich dies aber im Laufe der Zeit ändere. Spätestens im Erwerbsleben würde man die dafür nötige Leistungsorientierung schon noch entwickeln. (4) Beeinträchtigung der Lernregulation. Die Eltern berichteten verschiedene Erscheinungen beim Umgang mit Hausaufgaben. „Ausdauer“: Für viele Eltern beträgt die Zeitspanne, über die sich ihr Kind am Stück konzentrieren kann, im Mittel etwa eine Stunde. Viele Kinder können sich nach Angaben der Eltern gut konzentrieren. „Aber sie arbeitet dann doch ihr Pensum zügig und so ab, dass sie’s dann auch wirklich für erledigt hält.“ Doch ist die Varianz nicht unerheblich. Einige Eltern sehen einen Zusammenhang zwischen Ausdauer und Handlungsalternativen. „Ja, er hat Probleme mit dem Konzentrieren, auf jeden Fall. Er sagt: ‚Och, Mama, ich kann mich nicht konzentrieren. Ich muss immer an was anderes denken‘.“ „Handlungswechsel“ werden nur selten bis manchmal beobachtet (siehe Tabelle 1): „Sie macht das immer so häppchenweise. Also auch hier. Dann macht sie mal hier’n Teil Hausaufgabe, dann packt se ein und dann packt se oben wieder aus und macht das weiter oder zwischendurch so dieses Typische: ‚Ich muss was Trinken‘, ,Ich muss mal rausgehen‘, laufen oder irgendwas.“ Motivationale Handlungskonflikte von Jugendlichen 129 Zu den Themen „Ausdauer“ und „Handlungswechsel“ nahmen die Eltern eine differenzierte Sichtweise ein. Manche Kinder lassen sich ablenken, wechseln den Arbeitsplatz oder stehen immer wieder auf, um etwas zu trinken oder zu essen. Andere scheinen ihre Hausaufgaben zu unterbrechen, wenn sie sich nicht mehr konzentrieren können. Möglicherweise wird die eine Art der Unterbrechung als Ablenkung, die andere als sinnvolle Erholungspause bei nachlassender Konzentration gesehen. Die Strategie des „Abbruchs“ wurde selten angeführt. Fast alle Kinder machten nach Angaben der Eltern ihre Hausaufgaben zu Ende. „Multitasking“ wurde als vergleichsweise häufige Strategie beim Erledigen von Hausaufgaben berichtet. Meist hören die Schüler parallel zu den Hausaufgaben Musik. „Und da läuft natürlich immer alles gleichzeitig. Da läuft die Glotze, da ist der Computer an. Da sitzt sie dann mit ihren Sachen dazwischen. Dann sitzt sie noch auf dem Sofa und lernt Vokabeln. Das funktioniert.“ Die Elternangaben dazu streuen erheblich. „Nee, da ist Ruhe. Nur wenn sie jetzt irgendwas hat, was sie anmalen muss, wo sie sich nicht konzentrieren muss dabei, dann macht sie Musik an.“ Die Eltern berichteten im Mittel über einen eher seltenen Gebrauch der Strategie „Aufschieben“. Meist komme dann eine andere Aktivität aus dem Freizeitbereich dazwischen. „Es kann auch sein, wenn er sagt, ein Freund hat nur früh Zeit, dass er dann auch abends die Hausaufgaben macht.“ In Bezug auf die „Stimmung“ berichteten die Eltern im Mittel, dass ihr Kind bei den Hausaufgaben eher gute Laune habe. Im qualitativen Material sind allerdings Hinweise auf gemischte Gefühle enthalten. „Wenn’s gut läuft, hat sie gute Laune Aber wenn sie müde ist, ist’s vorbei. (…) Dann ist sie stinkig.“ „Ja. Also wir haben auch Zeiten, wo wir Spaß haben beim Üben, aber im Großen und Ganzen haben wir doch mehr Stress dabei, beim Lernen.“ Das Verhältnis von Zeit, die für schulbezogene Tätigkeiten bzw. für Freizeitaktivitäten genutzt wird, entspricht den Befunden aus Zeitbudgetstudien, wonach wesentlich mehr Zeit in Freizeitaktivitäten als in Hausaufgaben investiert wird (Alsaker & Flammer, 1999). Alles in allem machen die Ergebnisse aus den Interviews deutlich, dass Rivalität zwischen Freizeit und Schule, das Phänomen des motivationalen Handlungskonflikts und Erscheinungen der reduzierten Lernregulation für die Eltern nicht allzu häufige, doch vertraute Erscheinungen darstellen. Ergebnisse zur Frage nach den Zusammenhängen zwischen den Konstrukten Zur Beantwortung der zweiten Fragestellung wurden anhand der quantitativen Skalen die Zusammenhänge zwischen den Konstrukten der Elternwahrnehmung ermittelt. Die Korrelationen zwischen den wahrgenommenen Wertorientierungen der Kinder und Handlungskonflikten sind erwartungsgemäß, wenngleich nicht signifikant. Bei hoher Leistungsorientierung wurden Handlungskonflikte selten berichtet, und je höher die Wohlbefindensorientierung eingeschätzt wurde, desto häufiger waren Handlungskonflikte. Bezüglich der Regelmäßigkeit der Aktivitäten ergaben sich ebenfalls keine signifikanten Korrelationen zwischen mit den Variablen „regelmäßige Hausaufgaben“ und „Zahl der vorgegebenen Freizeittermine“ und der Häufigkeit von Handlungskonflikten. Anders bei den Variablen der Lernregulation. Hier gab es einen signifikanten negativen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Handlungskonflikten und der Ausdauer (r = -.52, p < .01). Handlungskonflikte gingen mit geringerer Persistenz bei der Aufgabenbewältigung einher. Sie korrelierten auch mit der Häufigkeit des Aufschiebens von Hausaufgaben (r = .53, p < .05) sowie mit der Stimmung der Kinder während der Hausaufgaben (r = .45, p < .05). Von Kindern mit vielen Handlungskonflikten wurde im Schnitt schlechtere Laune berichtet. Keine Zusammenhänge traten bei Multitasking und Handlungswechsel auf. 130 Manfred Hofer, Christina Saß Die Korrelationen zwischen Wertorientierungen und der investierten Zeit für schulische Arbeit sowie den Schulnoten waren signifikant. Je wohlbefindensorientierter ein Kind beschrieben wurde, desto mehr Zeit wurde für Freizeitaktivitäten und desto weniger für die schulischen Angelegenheiten berichtet (r = .42, p < .05). Die Korrelation zwischen Leistungsorientierung und Lernzeit ist tendenziell signifikant (r = -.39, p < .10). Für als leistungsorientiert eingestufte Kinder wurden im Schnitt auch bessere Noten berichtet als für Kinder, die als wenig leistungsorientiert eingeschätzt wurden (r = -.40, p < .05). Angesichts von Befunden, in denen sowohl die Zeit, die Schüler für Hausaufgaben aufwenden, als auch deren Determinanten abhängen von Geschlecht und Schulform (Spiel, Wagner & Fellner, 2002; Wagner & Spiel, 2002), wurde geprüft, ob sich unsere Variablen darin unterscheiden. Zwischen den Schulformen ergaben sich keine signifikanten Unterschiede. Eltern von Jungen berichteten über signifikant mehr Handlungskonflikte als Eltern von Mädchen (r = -.41, p < .05). Von Jungen wurde auch über eine tendenziell schlechtere Stimmung bei den Hausaufgaben berichtet (r = .37; p < .10). Alles in allem lassen sich die Kognitionen der Eltern und die Beziehungen zwischen ihnen, insbesondere was die Lernregulation betrifft, anhand der Konstrukte der Theorie motivationaler Handlungskonflikte interpretieren. Ergebnisse zur Frage nach den kulturellen Einflüssen Einige Eltern nahmen in der Gesellschaft einen niedrigen Stellenwert von Leistung wahr, der die Wertschätzung schulischen Lernens mindert. „Die Gesellschaft, sag ich jetzt mal, … Ich find teilweise alles etwas sehr leger geworden, würd’ ich sagen. Das wird alles so auf die leichte Schulter genommen.“ Einige Eltern diagnostizierten eine Betonung von augenblicklichem Wohlbefinden, was auf Kosten von Leistung geht, auf deren Erfolg man länger hinarbeiten muss. „Und ehm, dass es aber insgesamt eine sehr sehr schlechte Lernkultur in unserer Gesellschaft gibt, wo es praktisch nicht um Nachhaltigkeit oder so etwas geht.“ Ein Elternteil beschreibt die Schule seines Kindes als Ausnahme. „Diese Schule hat eine sehr positive Einstellung zum Lernen. Das hat uns damals auch sehr gut gefallen. Und auch die Schüler so, die sehen das nicht als negativ, das Lernen prinzipiell.“ Freunde können einen positiven Einfluss auf die Wertorientierungen und das Lernverhalten haben, wenn sie leistungsorientiert sind, aber die meisten Eltern erwähnten eher den Fall, dass die „Null-Bock-Haltung“ und Wohlbefindensorientierung der Freundesclique die Kinder mitzieht, auch wenn diese von sich aus vielleicht lernen wollten. „Der Freundeskreis. Das heißt also, die disqualifizieren jemanden, der schleimt und der lernt. Das ist für die dann gleich, obwohl das gar nicht stimmt. Und auf der andern Seite sind dann die die Coolen, die möglichst ohne Hausaufgaben in die Schule kommen.“ Medien: Nach Ansicht vieler Eltern führt das vielfältige Angebot zur Ablenkung der Kinder. „Erst mal das Fernsehen. Dass da nachmittags so viel für jugendliche Zielgruppen läuft. … Der Computer ist auch ’ne Ablenkung.“ Über die Medien werde auch ein oberflächliches Verarbeiten von Informationen gefördert. „Und dann denk ich, dass auch die … die Art des Angebotes, dass wenig große Einheiten angeboten werden und ganz viel Kleinklein. Also lange Artikel in Zeitungen werden immer, die werden immer kürzer und wenn man dann ins Internet geht, dann sind sie noch kürzer. … Ich denk, das beeinflusst das Lernen sehr stark, dass man also diese enorme Breite und nirgends in die Tiefe geht.“ Insgesamt nahmen die Eltern eher negative Einflüsse von außen wahr, positive Einflüsse wurden vor allem der Familie zugeschrieben. Offenbar sehen sich Eltern nicht als Vermittler gesellschaftlicher Werthaltungen. Insgesamt sahen die Eltern einen Einfluss gesellschaftlicher Faktoren sowohl auf die Werte von Kindern (Betonung von Wohlbefindenswerten, Abwertung von Leistungswerten) als Motivationale Handlungskonflikte von Jugendlichen 131 auch auf Aspekte der Lernregulation als Folge der Konkurrenz von Freizeit- und Leistungswerten (Ablenkungen und Verführungen sowie oberflächliche Verarbeitung von Informationen). Gleichzeitig waren sie zuversichtlich, ihren Kindern ein gesundes Maß an Leistungsorientierung vermitteln zu können. Diskussion Ziel der Arbeit war es, die Elternsicht über motivationale Handlungskonflikte bei Schülern, ihre Bedingungen und Folgen zu ermitteln. Für eine Studie mit heuristischem Charakter erscheint die gewählte Methode des leitfadengestützten Interviews mit qualitativer und quantitativer Auswertung geeignet. Eltern verbalisieren Kognitionen über die in der Theorie motivationaler Handlungskonflikte enthaltenen Konstrukte (Hofer et al., 2004; Fries et al., 2005; Schmid et al., 2005) und verbinden sie mit individueller Anschauung. Sie beobachten motivationale Handlungskonflikte insbesondere über Entscheidungsschwierigkeiten zwischen schulischen und Freizeitaktivitäten. Ähnlich wie Jugendliche im Interview und in Befragungen sehen sie ihre Kinder als hoch wohlbefindens- und leistungsorientiert an, wobei die Wohlbefindenswerte dominieren. Beeinträchtigungen der Lernregulation wie Handlungswechsel, Multitasking, Aufschieben und Stimmung werden eher selten beobachtet. Darüber hinaus wird gewandelten kulturellen Werten ein ablenkender, leistungsmindernder und zu oberflächlicher Verarbeitung führender Einfluss zugeschrieben. Man könnte einwenden, dass Fragen nach bestimmten Konstrukten entsprechende Antworten bewirken. Doch wurden die ursprünglichen Kategorien den Kognitionen der Eltern kontinuierlich angepasst. Einzelne Befunde zeigen auch erwartungswidrige Ergebnisse. Eltern verstanden Werte als Einstellungen, die sich in Abhängigkeit von der Lebensphase ändern. Auch schreiben Eltern Erscheinungen des Handlungswechsels teilweise eine lernförderliche Wirkung zu. Was die Zusammenhänge zwischen den Konstrukten aus Elternsicht betrifft, so ergeben sich keine Signifikanzen bei den Bedingungen von Handlungskonflikten, wohl aber bei den Folgen. Möglicherweise lässt die kleine Stichprobe die Korrelationen zwischen Leistungs-/ Wohlbefindensorientierung und Handlungskonflikten nicht die Signifikanzgrenze erreichen. Immerhin hängen Werte signifikant mit der Verteilung von Lern- und Freizeit sowie mit den Schulnoten zusammen. Und die Befunde zu den Folgen von Handlungskonflikten sind deutlich theoriekonform. Kinder mit vielen Handlungskonflikten scheinen sich schlechter konzentrieren zu können, die Hausaufgaben häufiger aufzuschieben und dabei schlechtere Stimmung zu haben. Dies trifft nicht zu für Unterbrechungen, Abbruch der Hausaufgaben und Multitasking. Multitasking scheint nach Meinung von Eltern Handlungskonflikten eher entgegenzuwirken, vielleicht weil es eine Verknüpfung von Freizeitinteressen und Lernen ermöglicht. Interessant sind die Elternangaben zur Bedeutung gesellschaftlicher Faktoren, denn zum Einfluss von Wertewandel auf die Lernmotivation sind wissenschaftliche Befunde und Angaben von Jugendlichen selbst nicht zu erhalten. Eltern stellen im gesellschaftlichen Umfeld ein gestiegenes Streben nach Wohlbefinden und ein demgegenüber geringeres Leistungsethos fest. Weiter wird konstatiert, dass die Kontexte Medien und Freunde eine große Zahl von Ablenkungen bereitstellen, die eine anhaltende Konzentration auf die gestellten Aufgaben erschweren. Und drittens erfolge die Informationsverarbeitung zunehmend in eher oberflächlicher und abgekürzter Weise. Aussagen dieser Art tauchen in den Interviews auffällig oft auf. Interessanterweise stellen unsere Eltern offenbar ähnliche Überlegungen an wie Lehrer, Eltern und Schulaufsichtsbeamte (Kohler, 2005). Dies weist auf eine geteilte Wahrnehmung von Erziehungspersonen in dieser Hinsicht hin. Insgesamt kann die Erfassung der Elternperspektive zu motivationalen Handlungskon- 132 Manfred Hofer, Christina Saß flikten, deren Bedingungen und (möglichen) Folgen als Beitrag zur Hausaufgabenforschung angesehen werden, deren Theorieabstinenz von Trautwein und Köller (2003 a) kritisiert wurde. Theorie und Ergebnisse der vorliegenden Studie steuern Erkenntnisse zur Selbstregulation des Handelns bei, indem sie zeigen, dass motivationale Handlungskonflikte - hier aus Elternsicht - mit Defiziten in der Lernsteuerung einhergehen, und dass Lernzeit und Leistung der Schüler mit ihren Werthaltungen zusammenhängen. Die Befunde dienen der Perspektivenerweiterung auf ein pädagogisch-psychologisch bedeutsames Phänomen. Elterliche Beobachtungen sind zwar begrenzt durch die eingeschränkte „Sichtbarkeit“ der zu erfassenden Konstrukte. Auch ist die Außensicht nicht unverzerrt. Außerdem sind sie von ihren eigenen Wünschen und Kriterien geleitet, und Eltern beeinflussen als Sozialisationsagenten mit ihren Handlungen das Verhalten ihrer Kinder. Doch erfasst jede Methode nur einen Teilbereich des „wahren“ Phänomens (siehe Clausen, 2002; Kruglanski, 1989). Unter Beachtung des langen Zeitraums elterlicher Beobachtung erscheint es legitim, zusätzlich zu Angaben der Schüler selbst und zu Ergebnissen aus Experimenten Auskünfte von Eltern als Datenquelle für Aussagen zur Lernmotivation anzusehen. Um die Ermittlung von Elternkognitionen nicht zu stark festzulegen, haben wir die Interviewmethode gewählt und wegen der damit verbundenen Stichprobengröße eine geringe Teststärke in Kauf genommen. Umso aussagekräftiger sind jedoch die signifikanten Korrelationen. Interessant dürfte sein, anhand dieser Ergebnisse in einer quantitativen Studie die Elternsicht mit der Kindersicht auch dyadisch zu vergleichen. Da nur solche Eltern angesprochen wurden, die an Elternabenden anwesend waren, und da von diesen nur jene teilnahmen, die aus Interesse den damit verbundenen Aufwand in Kauf nahmen, sind offensichtlich engagierte Eltern in der Stichprobe überrepräsentiert. Dies schränkt die Aussagekraft der Ergebnisse zwar ein, doch verleiht die Nähe dieser Eltern zu den Lernvorgängen der Kinder ihren Beobachtungen und Schlussfolgerungen eine höhere Glaubwürdigkeit. Literatur Alsaker, F. D. & Flammer, A. (Eds.) (1999). The adolescent experience. European and American adolescents in the 1990s. Hillsdale, NJ: Erlbaum. Baumeister, R. F. & Vohs, K. D. (Hrsg.) (2004). Handbook of self-regulation. Research, theory, and applications. New York: Guilford. Boekaerts, M. (2003). Adolescence in Dutch Culture: A self-regulation perspective. In F. Pajares & T. Urdan (Eds.), Adolescence and Education, Volume III: International Perspectives on Adolescence and Education (pp. 101 - 124). Greenwich, C.T.: Information Age Publishing. Boekaerts, M., Pintrich, P. R. & Zeidner M. (Eds.) (2000). Handbook of self-regulation. San Diego: Academic Press. Clausen, M. (2002). Unterrichtsqualität: Eine Frage der Perspektive. Münster: Waxmann. Cooper, H., Lindsay, J. 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