Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Einführung in das Themenheft "Determinanten und Prädiktoren von Rechenkompetenzen bei Kindern"
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2006
Dietmar Grube
Die Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien zu Schülerkompetenzen haben die Frage aufgeworfen, welche Maßnahmen getroffen werden können, damit Schüler in Deutschland mittel- und langfristig höhere Leistungen erbringen. Schon recht zeitnah wurden erste Konsequenzen aus den Ergebnissen gezogen. So wurden wünschenswerte Kompetenzen im Lehrerberuf expliziert (Standards für die Lehrerbildung; KMK, 2004) und Standards zum schulischen Kompetenzerwerb gesetzt (Bildungsstandards; z. B. KMK, 2005). Darüber hinaus wurden generelle Empfehlungen zur Entwicklung des Bildungssystems formuliert (Arbeitsstab Forum Bildung, 2002).
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Die Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien zu Schülerkompetenzen haben die Frage aufgeworfen, welche Maßnahmen getroffen werden können, damit Schüler in Deutschland mittel- und langfristig höhere Leistungen erbringen. Schon recht zeitnah wurden erste Konsequenzen aus den Ergebnissen gezogen. So wurden wünschenswerte Kompetenzen im Lehrerberuf expliziert (Standards für die Lehrerbildung; KMK, 2004) und Standards zum schulischen Kompetenzerwerb gesetzt (Bildungsstandards; z. B. KMK, 2005). Darüber hinaus wurden generelle Empfehlungen zur Entwicklung des Bildungssystems formuliert (Arbeitsstab Forum Bildung, 2002). Es ist unerlässlich, für die globale Zielsetzung der Kompetenzsteigerung sinnvolle Teilziele zu formulieren und ihnen jeweils geeignete Maßnahmen zuzuordnen. Die Empfehlungen des Forum Bildung zum Beispiel umfassen als zwei von zwölf Prinzipien „frühe Förderung“ und „individuelle Förderung“ (wobei „Förderung“ nicht nur Maßnahmen für ‚benachteiligte‘ Kinder, sondern für Kinder aller Begabungsausprägungen meint). Wollen Pädagogen systematische Förderung im vorschulischen oder schulischen Bereich umsetzen, haben sie zu entscheiden, (a) welches Kind (b) in welcher Hinsicht (c) wie und schließlich auch (d) in welchem Alter gefördert werden soll. Solche Entscheidungen sollten jedoch nicht nur der Intuition von Praktikern folgen, sondern soweit möglich auf der Basis von Ergebnissen empirischer Forschungsarbeiten getroffen werden. Die erfolgreiche Forschung zum Schriftspracherwerb in den letzten Jahrzehnten hat dazu geführt, dass heute empirisch begründete Präventions- und Interventionsmaßnahmen empfohlen werden können (vgl. Landerl & Wimmer, 2006; Küspert, Weber, Marx & Schneider, im Druck). An diesen Fortschritten hat die „Entdeckung“ der phonologischen Verarbeitung als zentrale Determinante des Schriftspracherwerbs entscheidenden Anteil. Obwohl die Forschung zum Erwerb von Rechenkompetenzen längst nicht so weit fortgeschritten ist wie die zum Schriftspracherwerb, kann auch sie mittlerweile auf solide empirische Grundlagen verweisen. Hier steht derzeit - quasi als Vorarbeit für anschließende Präventions- und Interventionsforschung - die Exploration zentraler Determinanten im Vordergrund. Im vorliegenden Themenheft finden sich empirische Arbeiten, die sich mit aktuellen Fragen des Erwerbs von Rechenkompetenzen bei Kindern beschäftigen: Welche kognitiven Determinanten liegen dem Erwerb von Rechenkompetenzen zugrunde? Wie lassen sich interindividuelle Leistungsunterschiede bezüglich Rechnen/ Mathematik vorhersagen und erklären? Zur Erklärung von Unterschieden in Mathematikleistungen käme zunächst (vor dem Hintergrund der Zusammenhänge zwischen IQ und Mathematiktestergebnissen) die allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit in Frage. Wenn jedoch der Einfluss der allgemeinen Intelligenz mit dem des Vorwissens in Be- Einführung in das Themenheft „Determinanten und Prädiktoren von Rechenkompetenzen bei Kindern“ Introduction: Determinants and Predictors of Arithmetic Competencies in Children Dietmar Grube Georg-August-Universität Göttingen Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2006, 53, 233 - 235 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 234 Dietmar Grube ziehung gesetzt wird, so zeigt sich, dass das Ausmaß und die Qualität relevanten Vorwissens die wichtigere, prozessnähere Determinante darstellt, deren Einfluss sich durch allgemeine Intelligenz kaum kompensieren lässt (vgl. Grube & Hasselhorn, im Druck; Stern, 2003; Krajewski, 2003; Weinert, Helmke & Schneider, 1990). Ein Anliegen aktueller Forschung liegt darin, die entscheidenden Vorwissensaspekte zu identifizieren, die Rechenkompetenzen begründen bzw. ihrem Erwerb zugute kommen. Hierzu liefern im vorliegenden Themenheft die Beiträge von Krajewski und Schneider (2006) sowie von Weißhaupt, Peucker und Wirtz (2006) neue Erkenntnisse. Die längsschnittlich angelegten Untersuchungen zeigen auf, wie mathematische Kompetenzen im Vorschulalter Rechenbzw. Mathematikleistungen im Grundschulalter vorhersagen können. Die gleichen Arbeiten sowie die Arbeit von Ricken und Fritz (2006) untersuchen, jeweils mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, inwieweit bereits im Vorschulalter verfügbare numerische Kompetenzen mit allgemeinen kognitiven Ressourcen (Intelligenz, Arbeitsgedächtnis) in Zusammenhang stehen bzw. von diesen beeinflusst werden. Ein weiteres aktuell verfolgtes Forschungsanliegen betrifft die Fragestellung, in welcher Form das Arbeitsgedächtnis (die Gesamtmenge aller Funktionen zur temporären Speicherung und zur Verarbeitung von Informationen) Aufgaben beim Rechnen übernimmt (vgl. DeStefano & LeFevre, 2004; Grube, 2005). Da das Arbeitsgedächtnis an jeder bewussten Informationsverarbeitung beteiligt ist, übernimmt es per definitionem auch die Planung, Regulierung und Kontrolle von Rechenoperationen. Im Rahmen von Modellen, die das Arbeitsgedächtnis in Subkomponenten unterteilen (z. B. Baddeley, 1999), lassen sich Fragen nach der Beteiligung einzelner Subkomponenten stellen. Die Arbeit von Thomas, Zoelch, Seitz-Stein und Schumann- Hengsteler (2006) im vorliegenden Band greift dieses Thema im Rahmen von zwei Experimenten mit Grundschülern der dritten und vierten Klasse auf. Dabei geht es um die Frage von Auswirkungen der Automatisierung von Rechenoperationen auf die Beteiligung des Arbeitsgedächtnisses. Eine Untersuchung zum Einfluss des Arbeitsgedächtnisses und des Vorwissens auf verschiedene Maße fortgeschrittenen Rechnens bei älteren Grundschülern (Weberschock & Grube, 2006, in diesem Band) liefert schließlich Befunde zur Frage, inwieweit in verschiedenen Rechenleistungen eine allgemeine Rechenfähigkeit oder aber jeweils spezifische Kombinationen verschiedener relevanter Kompetenzen zum Ausdruck kommen. Es ist zu erwarten, dass auf der Basis der Fortschritte bei der Identifikation von Determinanten und Prädiktoren rechenbezogener Kompetenzen umfassende, empirisch fundierte Konzeptionen zur Förderung von Rechenkompetenzen erarbeitet werden können, im Rahmen derer (nach detaillierter Diagnostik) spezifische Fördermaßnahmen vorgeschlagen werden können. Die in diesem Themenheft vorgelegten Arbeiten können daher als Beiträge zur Umsetzung der Empfehlungen des Forum Bildung (2002) bezüglich ‚früher‘ sowie ‚individueller Förderung‘ betrachtet werden. Literatur Arbeitsstab Forum Bildung (2002). Empfehlungen und Einzelergebnisse des Forum Bildung. Bonn: Bund- Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Baddeley, A. D. (1999). Essentials of human memory. Hove, UK: Psychology Press. DeStefano, D. & LeFevre, J.-A. (2004). The role of working memory in mental arithmetic. European Journal of Cognitive Psychology, 16, 353 - 386. Grube, D. (2005). Entwicklung des Rechnens im Grundschulalter. In M. Hasselhorn, H. Marx & W. Schneider (Hrsg.), Diagnostik von Mathematikleistungen (Tests und Trends - Jahrbuch der pädagogisch-psychologischen Diagnostik, N. F., Bd. 4, S. 105 - 124). Göttingen: Hogrefe. Grube, D. & Hasselhorn, M. (im Druck). Längsschnittliche Analysen zur Entwicklung des Lesens, Rechtschreibens und Rechnens im Grundschulalter: Zur Rolle von Vorwissen, Intelligenz, phonologischem Arbeitsgedächtnis und phonologischer Bewusstheit. In I. Hosenfeld & F.-W. Schrader (Hrsg.), Schulische Leistung: Grundlagen, Bedingungen, Perspektiven. Münster: Waxmann. „Determinanten und Prädiktoren von Rechenkompetenzen bei Kindern“ 235 Krajewski, K. & Schneider, W. (2006). Mathematische Vorläuferfertigkeiten im Vorschulalter und ihre Vorhersagekraft für die Mathematikleistungen bis zum Ende der Grundschulzeit. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 53, 246 - 262. Kultusministerkonferenz (2004). Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Verfügbar unter: http: / / www.kmk.org/ doc/ beschl/ standards_lehrerbil dung.pdf [10.07.2006]. Kultusministerkonferenz (2005). Bildungsstandards im Fach Mathematik für den Primarbereich. München: Luchterhand. Küspert, P., Weber, J., Marx, P. & Schneider, W. (im Druck). Prävention von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. In W. v. Suchodoletz (Hrsg.), Prävention von Entwicklungsstörungen. Göttingen: Hogrefe. Landerl, K. & Wimmer, H. (2006). Lese-Rechtschreib- Schwächen. In D. H. Rost (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (3., überarb. u. erw. Aufl., S. 441 - 450). Weinheim: Beltz/ PVU. Ricken, G. & Fritz, A. (2006). Arbeitsgedächtnisleistungen bei unterschiedlich guten Rechnern im Kindergartenalter. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 53, 263 - 274. Stern, E. (2003). Früh übt sich - Neuere Ergebnisse aus der LOGIK-Studie zum Lösen mathematischer Textaufgaben. In A. Fritz, G. Ricken & S. Schmidt (Hrsg.), Rechenschwäche: Lernwege, Schwierigkeiten und Hilfen bei Dyskalkulie (S. 116 - 130). Weinheim: Beltz. Thomas, J., Zoelch, C., Seitz-Stein, K. & Schumann- Hengsteler, R. (2006). Phonologische und zentralexekutive Arbeitsgedächtnisprozesse bei der mentalen Addition und Multiplikation von Grundschulkindern. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 53, 275 - 290. Weberschock, U. & Grube, D. (2006). Zur Spezifität von Einflüssen der Arbeitsgedächtniskapazität und des arithmetischen Faktenwissens auf Rechenleistungen von Viertklässlern. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 53, 291 - 302. Weinert, F. E., Helmke, A. & Schneider, W. (1990). Individual differences in learning performance and in school achievement: Plausible paralleles and unexplained discrepancies. In H. Mandl, E. d. Corte, N. Bennett & H. F. Friedrich (Eds.), Learning and instruction (Vol. 2.1: Social and cognitive aspects of learning and instruction) (pp. 461 - 479). Oxford: Pergamon Press. Weißhaupt, S., Peucker, S. & Wirtz, M. (2006). Diagnose mathematischer Konzepte im Vorschulalter und Vorhersage von Rechenleistungen und Rechenschwierigkeiten in der Grundschule. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 53, 236 - 245. PD Dr. Dietmar Grube Georg-August-Universität Göttingen Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie Abteilung 4: Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie Waldweg 26 D-37073 Göttingen Tel.: +49-5 51-39 92 86 Fax: +49-5 51-39 93 22 E-Mail: dgrube@uni-goettingen.de
