Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2006
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Zur Spezifität von Einflüssen der Arbeitsgedächtniskapazität und des arithmetischen Faktenwissens auf Rechenleistungen von Viertklässlern
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2006
Ulrike Weberschock
Dietmar Grube
Arbeitsgedächtnis und grundlegendes arithmetisches Faktenwissen gelten als Determinanten des fortgeschrittenen Rechnens. Bisher ist allerdings unklar, ob verschiedene Rechenoperationen durch identische Einflussfaktoren determiniert werden. Die vorliegende Studie untersucht den Einfluss von Arbeitsgedächtnis und basalem Faktenwissen auf verschiedene Maße fortgeschrittenen Rechnens und geht Zusammenhängen zwischen den Rechenleistungen nach. Dreiundvierzig Kinder bearbeiteten gegen Ende der Grundschuljahre Aufgaben zum Abruf basalen arithmetischen Faktenwissens und zum fortgeschrittenen Rechnen (Addition und Subtraktion dreistelliger Zahlen, Multiplikation von Ziffern, Arithmetikteil eines Mathematiktests). Weiterhin wurden die Kapazität der phonologischen Schleife und der zentralen Exekutive des Arbeitsgedächtnisses erfasst. Zwischen den fortgeschrittenen Rechenleistungen zeigten sich nur mäßige Zusammenhänge. Die Stärke der Einflüsse von basalem Faktenwissen und Arbeitsgedächtnis hing von der Art der erhobenen Rechenleistung ab. Die Befunde legen nahe, verschiedene Rechenfertigkeiten getrennt zu betrachten, wenn individueller Förderbedarf ermittelt werden soll oder nach Determinanten der Rechenleistung gesucht wird.
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Über die Grundschuljahre hinweg sind enorme interindividuelle Unterschiede in der Rechen- und Mathematikleistung zu verzeichnen. Die Unterschiede spiegeln sich in den Ergebnissen von Tests wider, die den aktuellen Lernstand der Kinder erfassen. Diese Testergebnisse zeigen jedoch offenbar nicht (nur) an, in welcher Qualität die Kinder die Unterrichtsinhalte der kürzlich absolvierten Lerneinheiten erworben haben. In einem gewissen Umfang lassen sich die Leistungsunterschiede aufgrund von kognitiven Merkmalen lang- Specific Influences of Working Memory and Basic Facts on Arithmetic Achievement in Fourth-Graders Summary: Working memory capacity and retrieval of basic arithmetic facts turned out to be determinants of advanced arithmetic performance. However, are different arithmetic operations influenced by the same factors? This study examines the influences of working memory and knowledge of basic facts on different measures of advanced arithmetic achievement. Additionally, the relationships between the measures of arithmetic achievement are considered. Forty-three children performed arithmetic fact retrieval and advanced arithmetic tasks (three-digit addition and subtraction tasks, single-digit multiplication and the arithmetic part of a mathematics test) at the end of elementary school years. Additionally, phonological loop and central executive functioning were assessed. Only moderate relationships were found between the advanced arithmetic measures. Influences of basic fact knowledge and working memory depended on the type of the measure of arithmetic achievement. Consequently, arithmetic skills should be considered separately in order to detect students’ needs for advancement or in order to identify determinants of arithmetic performance. Keywords: Arithmetic achievement, working memory, basic facts, elementary school students Zusammenfassung: Arbeitsgedächtnis und grundlegendes arithmetisches Faktenwissen gelten als Determinanten des fortgeschrittenen Rechnens. Bisher ist allerdings unklar, ob verschiedene Rechenoperationen durch identische Einflussfaktoren determiniert werden. Die vorliegende Studie untersucht den Einfluss von Arbeitsgedächtnis und basalem Faktenwissen auf verschiedene Maße fortgeschrittenen Rechnens und geht Zusammenhängen zwischen den Rechenleistungen nach. Dreiundvierzig Kinder bearbeiteten gegen Ende der Grundschuljahre Aufgaben zum Abruf basalen arithmetischen Faktenwissens und zum fortgeschrittenen Rechnen (Addition und Subtraktion dreistelliger Zahlen, Multiplikation von Ziffern, Arithmetikteil eines Mathematiktests). Weiterhin wurden die Kapazität der phonologischen Schleife und der zentralen Exekutive des Arbeitsgedächtnisses erfasst. Zwischen den fortgeschrittenen Rechenleistungen zeigten sich nur mäßige Zusammenhänge. Die Stärke der Einflüsse von basalem Faktenwissen und Arbeitsgedächtnis hing von der Art der erhobenen Rechenleistung ab. Die Befunde legen nahe, verschiedene Rechenfertigkeiten getrennt zu betrachten, wenn individueller Förderbedarf ermittelt werden soll oder nach Determinanten der Rechenleistung gesucht wird. Schlüsselbegriffe: Rechnen, Arbeitsgedächtnis, basales arithmetisches Faktenwissen, Grundschüler ■ Empirische Arbeit Zur Spezifität von Einflüssen der Arbeitsgedächtniskapazität und des arithmetischen Faktenwissens auf Rechenleistungen von Viertklässlern Ulrike Weberschock, Dietmar Grube Georg-August-Universität Göttingen Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2006, 53, 291 -302 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 292 Ulrike Weberschock, Dietmar Grube fristig vorhersagen, die in früheren Schuljahren (Grube & Hasselhorn, in Druck; Helmke, 1997) oder sogar im Kindergartenalter erhoben wurden (Krajewski, 2003; Krajewski & Schneider, 2006, in diesem Band; Weißhaupt, Peucker & Wirtz, 2006, in diesem Band). Als zentrale Einflussfaktoren von Rechenleistungen im Grundschulalter werden in der aktuellen Literatur neben der Ausführung regelgeleiteter Prozeduren die Qualität basalen Wissens über arithmetische Fakten sowie die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses betrachtet (Geary, 2003). Entsprechend finden sich korrelative Zusammenhänge der Leistung bei fortgeschrittenen Rechenaufgaben zu Maßen des basalen arithmetischen Faktenwissens (basic facts) sowie zu Indikatoren der Arbeitsgedächtniskapazität (z. B. Bull & Scerif, 2001; Cumming & Elkins, 1999; Geary, Brown & Samaranayake, 1991; Grube, 2006). Die Beteiligung des Arbeitsgedächtnisses ließ sich darüber hinaus durch mehrere experimentelle Untersuchungen dokumentieren (z. B. Adams & Hitch, 1998; Fürst & Hitch, 2000; Seitz & Schumann-Hengsteler, 2000) Basales arithmetisches Faktenwissen, z. B. Wissen über die Lösungen von Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 20, das im Laufe der Grundschuljahre erworben wird, ermöglicht es, einfache Aufgaben oder Teilaufgaben komplexerer Probleme durch Wissensabruf zu lösen und führt daher beim Lösen fortgeschrittener Rechenaufgaben zu einer relativen Entlastung des Arbeitsgedächtnisses (Grube, 2006; Kaye, 1986). Außerdem trägt basales arithmetisches Faktenwissen (im Folgenden auch kurz als basales Faktenwissen bezeichnet) dazu bei, dass weiterführendes mathematisches Wissen einfacher erworben und in der Wissensbasis verankert werden kann (Baroody & Ginsburg, 1986). Bei der Betrachtung des Einflusses des Arbeitsgedächtnisses auf das fortgeschrittene Rechnen wird häufig das Arbeitsgedächtnismodell nach Baddeley (1986) herangezogen, das drei Funktionskomponenten unterscheidet: die zentrale Exekutive, die als eine Art Leitzentrale die Steuerung der bewussten Informationsverarbeitung und ihre Kontrolle übernimmt, und zwei Hilfssysteme, eines für das Bereithalten sprachklanglicher Information (phonologische Schleife) und eines für das Bereithalten visueller und räumlicher Information (visuell-räumlicher Notizblock). Beim Kopfrechnen spielt das Arbeitsgedächtnis eine wichtige Rolle. Dabei übernimmt die phonologische Schleife vor allem das Behalten von Aufgabeninformationen und Zwischenergebnissen; die zentrale Exekutive ist am Wissensabruf und an der Übertragsoperation beteiligt (Fürst & Hitch, 2000; Seitz & Schumann-Hengsteler, 2000). Auch kann man davon ausgehen, dass die zentrale Exekutive die Aufspaltung der Aufgaben in Teilaufgaben und deren sukzessive Bearbeitung koordiniert und kontrolliert. Befunde von Lee und Kang (2002) weisen auf eine weitere Spezialisierung der Hilfssysteme bei der Lösung von Rechenaufgaben hin: In dieser Studie bearbeiteten Probanden Aufgaben zur Multiplikation und Subtraktion einstelliger Zahlen. Zusätzlich führten sie während des Rechnens spezielle Zweitaufgaben aus (dual-task-Paradigma). Beim Lösen von Multiplikationsaufgaben wirkte sich das simultane Artikulieren, das bekanntlich die Funktion der phonologischen Schleife beeinträchtigt (artikulatorische Unterdrückung), ungünstig aus, nicht jedoch beim Lösen von Subtraktionsaufgaben. Dagegen wirkte sich eine simultane visuelle Zweitaufgabe ungünstig auf das Lösen von Subtraktionsaufgaben aus, nicht jedoch auf das Lösen von Multiplikationsaufgaben. Nach diesen Ergebnissen wird das Multiplizieren durch die phonologische Schleife und das Subtrahieren durch den visuell-räumlichen Notizblock in besonderer Weise unterstützt. Auch Modelle zur Repräsentation und Verarbeitung von Zahlen legen nahe, dass die zur Durchführung von Rechenaufgaben notwendigen Prozesse und Repräsentationen von den zu bearbeitenden Rechenoperationen und von Spezifität von Einflüssen auf Rechenleistungen 293 Darbietungs- und Antwortbedingungen abhängig sind. Nach dem „triple-code model“ von Dehaene (1992) verfügt der Mensch über drei Modi zur Repräsentation und Verarbeitung von Zahlen oder Mengen. Zahlen bzw. Mengen können demnach im visuell-arabischen Modus repräsentiert sein (geschriebenen Zahlen entsprechend), im auditiv-verbalen Modus (Zahlwörtern entsprechend) und im analogen Größen-Modus (entsprechend einer sichtbaren Menge von Gegenständen oder der Anordnung auf einem mentalen Zahlenstrahl). Information kann von einem Modus in einen anderen übersetzt werden. Weiterhin geht Dehaene (1992) davon aus, dass jede numerische Prozedur an einen bestimmten Repräsentationsmodus gebunden ist. So sind nach Dehaene (1992) einfache Addition und Multiplikation eher an den auditiv-verbalen Modus gebunden. Andere Operationen, wie z. B. mehrstelliges Rechnen, werden dagegen eher vom visuell-arabischen Modus übernommen, während Schätzaufgaben und Größenvergleiche anhand des analogen Repräsentationsmodus bearbeitet werden. Der Einsatz unterschiedlicher Repräsentationsformen je nach Art der arithmetischen Anforderung wird auch durch bildgebende Verfahren bestätigt (z. B. Dehaene, Spelke, Pinel, Stanescu & Tsivkin, 1999). Auch Campbell (1994) geht von verschiedenen Repräsentationsformen aus. Bestimmte Repräsentationsformen sind in diesem Modell allerdings nicht fest an spezifische Aufgabenanforderungen gebunden, sondern hängen u. a. von der individuellen Lernerfahrung ab (vgl. auch Siegler & Shipley, 1995). Auf der Basis dieser theoretischen und empirischen Argumente liegt es nahe anzunehmen, dass es nicht „die“ Einflussfaktoren auf das Rechnen im Allgemeinen gibt, sondern dass spezifische Einflussfaktoren für bestimmte Rechenleistungen zu suchen sind (vgl. De- Stefano & LeFevre, 2004). Für die Diagnostik von Rechenleistungen wäre anzunehmen, dass es „die“ Rechenfähigkeit nicht gibt, sondern dass, z. B. im schulischen Kontext, verschiedene relevante Rechenfertigkeiten erfasst werden sollten. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll geprüft werden, ob und inwieweit verschiedene Leistungsmaße zum Rechnen von Grundschülern die gleichen zugrunde liegenden Kompetenzen einschätzen oder aber unterschiedlich determiniert sind. Dabei soll insbesondere der Frage der Spezifität von Einflüssen der Arbeitsgedächtniskapazität und des basalen Faktenwissens auf das Rechnen nachgegangen werden. Für Viertklässler zu Anfang des Schuljahres wurden vier Leistungsmaße zum fortgeschrittenen Rechnen erhoben: ein Arithmetikmaß, das sich aus mehreren Aufgaben zusammensetzt, und drei Maße, die auf die Lösung spezifischer Aufgabengruppen aufbauen, Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 1000 und Multiplikation (kleines Einmaleins). Gemeinsamkeiten der vier Maße (allesamt paper-and-pencil-Verfahren) sollten sich in positiven Interkorrelationen ausdrücken. Um spezifischen Einflüssen von Arbeitsgedächtnis und basalem Faktenwissen auf die vier Rechenanforderungen nachzugehen, wurden diese darüber hinaus mit Kapazitätsmaßen zur phonologischen Schleife und zur zentralen Exekutive im Arbeitsgedächtnis sowie mit einem Indikator des basalen Faktenwissens zu Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 20 in Beziehung gesetzt. Die Spezifität von Einflüssen auf das Rechnen könnte weitreichende Konsequenzen implizieren: Falls verschiedene Rechenleistungen unterschiedliche kognitive Strukturen und Prozesse anfordern, so bringt dies wertvolle Hinweise auf Lernvoraussetzungen für den erfolgreichen Erwerb bestimmter fortgeschrittener Rechenprozeduren mit sich, auf die sich (ggf. präventive) Fördermaßnahmen beziehen können. Es wäre über eine mehrdimensionale Erfassung und Bewertung von Rechenleistungen nachzudenken. Weiterhin müssten Studien zu den Hintergründen schwacher Rechenleistungen deutlich spezifischer angelegt werden (vgl. Mazzocco & Myers, 2003). 294 Ulrike Weberschock, Dietmar Grube Methode Probanden Die Daten der vorliegenden Studie wurden bei 43 Schülern (20 Jungen und 23 Mädchen) der Grundschule eines Dorfes in der unmittelbaren Umgebung von Göttingen erhoben. Weder Merkmale des Dorfes noch Merkmale der Schule erheben Zweifel an der Repräsentativität der untersuchten Stichprobe. Zum Ende des dritten Schuljahres (Alter der Kinder: M = 9; 5 Jahre, SD = 0; 6 Jahre) erfolgte die Erfassung der Kapazitätsmaße, zu Beginn des vierten Schuljahres die Erhebung der Maße zum Rechnen. Basales Faktenwissen Die Kinder bearbeiteten vier verschiedene Blöcke mit einfachen Rechenaufgaben (Additions- und Subtraktionsaufgaben im Zahlenraum bis 20, jeweils mit und ohne Zehnerübergang). Darin waren keine „ties“ (Aufgaben mit zwei gleichen Summanden) und keine Aufgaben mit den Summanden „1“ und „0“ enthalten. Für jeden der Blöcke lag die Bearbeitungszeit bei zwei Minuten, innerhalb derer möglichst viele von je 70 Aufgaben schriftlich zu lösen waren. Die Anzahl richtig gelöster Aufgaben wurde zunächst für jeden Aufgabenblock getrennt ermittelt und dann zu einem Gesamtmaß zusammengefasst (Mittel der z-transformierten Rohwerte). Dieses Maß der Aktivierungsleichtigkeit basalen arithmetischen Wissens wird im Folgenden kurz als Basisrechnen bezeichnet. Weiterhin wurde für die vier Blöcke der Anteil korrekter Lösungen an den bearbeiteten Aufgaben bestimmt und über die Blöcke hinweg gemittelt. Fortgeschrittene Rechenleistungen Analog zu den einfachen Rechenaufgaben bearbeiteten die Kinder drei verschiedene Blöcke mit fortgeschrittenen Rechenaufgaben (dreistellige Additions- und Subtraktionsaufgaben in vertikaler Ausrichtung sowie Multiplikation von zwei Ziffern). Hierbei standen den Kindern jeweils vier Minuten für 72 Multiplikationsaufgaben bzw. 30 schriftliche Additions- und 30 schriftliche Subtraktionsaufgaben zur Verfügung. Es wurde wieder die Anzahl und der Anteil korrekt gelöster Aufgaben bestimmt. Obwohl diese beiden Leistungsindikatoren nicht unabhängig voneinander sind, sollen sie getrennt dokumentiert werden, weil der Anteil korrekter Lösungen in deutlicherem Ausmaß als die Anzahl korrekter Lösungen das Vorkommen von Rechenfehlern repräsentiert. Zusätzlich wurde ein zusammengesetztes Maß der Arithmetikleistung anhand einer Vorform des curricular validen „Deutschen Mathematiktests für dritte Klassen“ (DEMAT 3 +; Roick et al., 2004) erhoben. Es wurden vier Aufgabentypen unter Zeitbegrenzung durchgeführt: (a) Bei den Zahlenstrahlaufgaben (3 Aufgaben, 2.5 Minuten) waren auf einem vorgegebenen Zahlenstrahl zwei Positionen mit dreistelligen Zahlen markiert. Für eine dritte Position sollten die Kinder die entsprechende dreistellige Zahl eintragen. (b) Additions- und (c) Subtraktionsaufgaben im Zahlenbereich bis 1000 (je 4 Aufgaben, je 2.5 Minuten) wurden als unvollständig gelöste Aufgaben in vertikaler Anordnung vorgegeben. Jeweils drei fehlende von insgesamt neun Ziffern mussten von den Kindern eingetragen werden. (d) Für Gleichungs- und Ungleichungsaufgaben (4 Aufgaben, 4 Minuten) wurden schließlich zwei Terme vorgegeben, in denen einbis dreistellige Zahlen durch Kombinationen aus Multiplikation und entweder Addition oder Subtraktion verbunden waren. Jeweils in eine markierte Fläche zwischen beiden Termen war ein Gleichheits-, Größer-als- oder Kleiner-als-Zeichen einzusetzen, so dass die Gleichung eine wahre Aussage ergab. Die Arithmetikleistung wurde aus der Summe aller richtig gelöster Aufgaben bestimmt (maximal 15 Punkte). Erfassung der Arbeitsgedächtniskapazität Zur Erfassung der Leistungsfähigkeit der phonologischen Schleife und der zentralen Exekutive wurden die Gedächtnisspannen vorwärts und rückwärts, getrennt für Wörter und Zahlen erfasst. Die Kinder sprachen die über Computerlautsprecher im Sekundentakt dargebotenen Items sofort nach ihrer Darbietung in der gleichen Reihenfolge (Leistungsfähigkeit der phonologischen Schleife) bzw. in der umgekehrten Reihenfolge (Leistungsfähigkeit der zentralen Exekutive) nach. Es wurde mit einer Serienlänge von zwei Items begonnen. Bei richtiger Reproduktion von zwei Serien gleicher Länge erhöhte sich die Serienlänge um ein Item. Pro Serienlänge standen vier Itemserien zur Verfügung. Die Erhebung wurde abgebrochen, sobald drei Itemserien einer Länge nicht richtig reproduziert wurden. Es wurde ebenfalls abgebrochen, wenn ein Proband die ersten beiden Serien einer Länge nicht korrekt wiedergeben konnte. In diesem Fall musste der Block der vorherigen Serienlänge (nachträglich) vollständig bearbeitet werden (vier Itemserien dieser Serienlänge). Die maximale Serienlänge betrug acht Items. Der Gedächtnisspannenwert ergab sich aus der Länge (Anzahl der Items) der längsten korrekt wiedergegebenen Reihe. Für jede weitere korrekt wiedergegebene Reihe dieser Länge erhöhte sich der Wert um 0.25 Punkte. Für den Gesamtwert der „Gedächtnisspanne vorwärts“ (GS vorwärts) und für den Gesamtwert der „Gedächtnisspanne rückwärts“ (GS rückwärts) wurde die jeweilige Wort- und Ziffernspanne gemittelt. Spezifität von Einflüssen auf Rechenleistungen 295 Erfassung der Konzentrationsleistung Da bei einigen Aufgaben zur Einschätzung der Rechenleistung möglichst viele Aufgaben in einer bestimmten Zeit zu bearbeiten waren (Tempoanforderung über mehrere Minuten), wurden mit der Durchführung des Tests d2 (Brickenkamp, 1994) Vorkehrungen getroffen, um den Einfluss einschätzen und ggf. berücksichtigen zu können, den allgemeine, nicht rechenbezogene kognitive Determinanten oder Einstellungen bei der Bearbeitung einfacher Aufgaben mit Zeitbegrenzung auf verschiedene Rechenleistungen haben. Der Test d2 verlangt eine auf externe visuelle Reize bezogene Konzentrationsleistung. Diese wird über das Arbeitstempo bzw. über die Quantität des in einer bestimmten Zeiteinheit bearbeiteten Materials bestimmt. Ergebnisse Mittlere Anzahl und mittlerer Anteil korrekter Lösungen zu den verschiedenen Rechenleistungen geht aus Tabelle 1 hervor. Anzahl und Anteil korrekter Lösungen korrelieren bezüglich dreistelliger Addition zu r(41) = .36 (p < .01), dreistelliger Subtraktion zu r(41) = .80 (p < .001) und Multiplikation zu r(41) = .47 (p < .01) miteinander. Zusammenhänge zwischen fortgeschrittenen Rechenleistungen Wenn verschiedene Rechenleistungen auf die gleichen kognitiven Kompetenzen zurückgehen, so sollten die vier erhobenen Maße fortgeschrittenen Rechnens in beträchtlichem Ausmaß miteinander korrelieren. Die einzelnen Korrelationskoeffizienten sind in Tabelle 2 aufgeführt. Dreistellige Addition, dreistellige Subtraktion und Multiplikation weisen untereinander paarweise signifikante Beziehungen auf (gemeinsame Varianz jeweils 17 bis 25 % zur Anzahl korrekt). Die Anzahl bearbeiteter Anzahl richtig gelöster Anteil richtig gelöster Aufgaben Aufgaben Aufgaben (%) Basisrechnen 140.6 (38.6) 137.3 (36.9) 97.8 (4.7) Multiplikation 41.4 (16.7) 40.5 (17.0) 96.9 (6.5) Dreistellige Addition 19.7 (5.7) 18.6 (5.8) 93.8 (8.5) Dreistellige Subtraktion 16.1 (7.0) 10.7 (7.8) 68.4 (35.9) Arithmetik DEMAT 3 + 15 8.8 (3.0) 58.8 (19.8) Tabelle 1: Mittelwerte (in Klammern Standardabweichungen) der bearbeiteten und der korrekt gelösten Aufgaben sowie Anteil korrekt gelöster an den bearbeiteten Aufgaben zum fortgeschrittenen Rechnen (1) (2) (3) (4) Test d2 (1) Dreistellige Addition Anzahl korrekt .50*** .41** .03 .05 Anteil korrekt .33* .18 .07 -.11 (2) Dreistellige Subtraktion Anzahl korrekt .43** .44* -.03 Anteil korrekt .54*** .48** -.07 (3) Multiplikation Anzahl korrekt .22 .09 Anteil korrekt .32* -.09 (4) Arithmetik DEMAT 3 + .15 Tabelle 2: Produkt-Moment-Korrelationen zwischen den Maßen fortgeschrittenen Rechnens (jeweils für Anzahl bzw. Anteil korrekt gelöster Aufgaben) Anmerkungen: * p < .05, ** p < .01, *** p < .001 bei einseitigem Test. Test d2: Gesamtscore. 296 Ulrike Weberschock, Dietmar Grube Arithmetikleistung im DEMAT 3 + korreliert signifikant mit der Leistung bei dreistelliger Subtraktion (19 % gemeinsame Varianz, Anzahl korrekt) und Multiplikation (10 % gemeinsame Varianz, nur Anteil korrekt), jedoch nicht mit der dreistelligen Additionsleistung. Die niedrigen bzw. nicht signifikanten Korrelationskoeffizienten sind ein erster Hinweis auf Unterschiede in den Charakteristiken der ausgewählten Maße des schriftlichen Rechnens. Um den Einfluss nicht rechenbezogener Bearbeitungsfaktoren (z. B. Arbeitstempo) auf verschiedene Rechenleistungen einschätzen zu können, wurde der Zusammenhang des d2-Gesamtscores mit den erhobenen Maßen ermittelt. Der d2-Gesamtscore korrelierte weder mit den Maßen des fortgeschrittenen Rechnens noch mit den Arbeitsgedächtnisindikatoren signifikant. Es findet sich lediglich eine signifikante Korrelation zum Basisrechnen (vgl. Tabellen 2 und 3). Demnach können die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Maßen fortgeschrittenen Rechnens nicht auf die Wirkung eines individuell variierenden Arbeitstempos zurückgeführt werden. Zusammenhänge zwischen Maßen des fortgeschrittenen Rechnens und Arbeitsgedächtniskapazität bzw. Basisrechnen Um den Einflüssen der Arbeitsgedächtniskapazität und des basalen Faktenwissens auf die vier erhobenen Leistungen des fortgeschrittenen Rechnens nachzugehen, wurden Produkt-Moment-Korrelationen zwischen den fortgeschrittenen Rechenleistungen einerseits und der Leistung im Basisrechnen sowie den Gedächtnisspannen vorwärts und rückwärts andererseits bestimmt (vgl. Tabelle 3). Es zeigten sich signifikant positive Zusammenhänge zwischen dem Basisrechnen und allen vier Maßen des fortgeschrittenen Rechnens. Das basale Faktenwissen scheint demnach Einfluss auf alle vier Arten von Rechenleistungen zu nehmen. Bezüglich der Arbeitsgedächtnismaße fanden sich signifikant positive Zusammenhänge der Gedächtnisspanne vorwärts zur Arithmetikleistung im DEMAT 3 + sowie der Gedächtnisspanne rückwärts zur Leistung bei fortgeschrittenen Subtraktionsaufgaben und zur Arithmetikleistung im DEMAT 3 +. Dagegen GS vorwärts GS rückwärts Basisrechnen Dreistellige Addition Anzahl korrekt -.08 .19 .68*** Anteil korrekt -.03 .00 .21 Dreistellige Subtraktion Anzahl korrekt .14 .42** .42** Anteil korrekt .09 .34* .08 Multiplikation Anzahl korrekt .15 .18 .54*** Anteil korrekt .18 .22 .04 Arithmetik DEMAT 3 + .30* .56*** .26* Test d2 Gesamtscore -.04 .12 .35* Anmerkungen: * p < .05, ** p < .01, *** p < .001 bei einseitigem Test. Basisrechnen korreliert mit der GS vorwärts zu r = -.07 (Anzahl korrekt) und r = -.33* (Anteil korrekt) und mit der GS rückwärts zu r = .19 (Anzahl korrekt) und r = -.22 (Anteil korrekt). Tabelle 3: Produkt-Moment-Korrelationen der fortgeschrittenen Rechenleistungen (jeweils für Anzahl bzw. Anteil korrekt gelöster Aufgaben) zur Gedächtnisspanne (GS) vorwärts und rückwärts sowie zum Basisrechnen Spezifität von Einflüssen auf Rechenleistungen 297 ließen sich keine signifikanten Zusammenhänge der Arbeitsgedächtnismaße mit der Leistung beim dreistelligen Addieren und beim Multiplizieren finden. Die Arbeitsgedächtniskapazität scheint daher vor allem die Leistung bei dreistelligen Subtraktionsaufgaben und die Arithmetikleistung im DEMAT 3 + zu beeinflussen. Zum Vergleich der Wirkungen einzelner Einflussfaktoren auf die vier Rechenleistungen wurden die vier entsprechenden Korrelationen (einer Spalte in Tabelle 3) auf Unterschiedlichkeit geprüft (vgl. Olkin, 1967; Olkin & Siotani, 1964; zit. nach Bortz, 1999). Es zeigte sich, dass der Zusammenhang der Variable Basisrechnen zur dreistelligen Addition signifikant größer ist als zur dreistelligen Subtraktion (z = 2.17; p < .05, zweiseitiger Test) und zur Arithmetikleistung im DEMAT 3 + (z = 2.41; p < .05, zweiseitig). Dies deutet darauf hin, dass die Leistung bei der Bearbeitung dreistelliger Additionsaufgaben deutlich stärker von der Qualität basalen Faktenwissens geprägt ist als die Leistung bei der Bearbeitung dreistelliger Subtraktionsaufgaben oder die Arithmetikleistung im DEMAT 3 +. Weiterhin fällt die Korrelation der Gedächtnisspanne rückwärts zur Arithmetikleistung im DEMAT 3 + signifikant höher aus als zur Multiplikation (z = 2.19; p < .05, zweiseitig), was differenzielle Einflüsse der zentralen Exekutive auf unterschiedliche Maße des Rechnens nahe legt. Erklärung interindividueller Unterschiede in den Rechenleistungen durch Arbeitsgedächtnismaße und basales Faktenwissen Um der Frage nachzugehen, inwiefern Arbeitsgedächtniskapazität und basales Faktenwissen geeignete Prädiktoren für die Rechenleistungen bei einzelnen Aufgabenarten darstellen, wurden jeweils schrittweise Regressionsanalysen mit der fortgeschrittenen Rechenleistung als abhängiger Variable und den Gedächtnisspannen vorwärts und rückwärts sowie dem Basisrechnen als unabhängige Variablen gerechnet. Die statistischen Analysen ergaben, dass zur Erklärung der Leistungsvarianz beim dreistelligen Addieren (Anzahl korrekt gelöster Aufgaben) nur das Basisrechnen ( β = .68; t(41) = 5.9) als Prädiktor in die Regressionsgleichung aufgenommen wurde. Gleiches gilt für die Erklärung der Varianz der Multiplikationsleistung ( β = .54; t(41) = 4.1). In die errechnete Regressionsgleichung für dreistellige Subtraktionsaufgaben wurden die Gedächtnisspanne rückwärts ( β = .35; t(40) = 2.6) und das Basisrechnen ( β = .35; t(40) = 2.6) aufgenommen (R 2 = .29). Zur Erklärung der Varianz der Arithmetikleistung im DEMAT 3+ wurde nur die Gedächtnisspanne rückwärts als Prädiktor in die Regressionsgleichung aufgenommen ( β = .56; t(41) = 4.3). Die Gedächtnisspanne vorwärts hatte bei keiner der Aufgabenarten einen originären statistisch signifikanten prädiktiven Wert. Die Rechenleistung bei Additions- und Multiplikationsaufgaben lässt sich also gut anhand des Basisrechnens vorhersagen, die Leistung bei Subtraktionsaufgaben anhand einer Kombination von Basisrechnen und Gedächtnisspanne rückwärts und die Arithmetikleistung des DEMAT 3 + lässt sich vor allem anhand der Gedächtnisspanne rückwärts vorhersagen. Die dreistellige Subtraktion liefert insofern ein interessantes Befundmuster, als hier sowohl Arbeitsgedächtnis als auch basales Faktenwissen die Leistung determinieren. Außerdem scheint sich die Leistungsfähigkeit der zentralen Exekutive auf die Fehlerhäufigkeit auszuwirken (vgl. Tabelle 3), die bei dieser Aufgabe relativ hoch ausfällt (vgl. Tabelle 1). Eine nähere Betrachtung der Ergebnisse zu dieser Aufgabe zeigte, dass für neun der 43 Probanden die Lösungsrate unter 20 % lag, während sie für die restlichen 34 Probanden über 50 % lag (9 Probanden lösten 100 % der Aufgaben korrekt). Die neun Schüler mit der niedrigen Lösungsrate machten regelmäßig Fehler beim Übertrag. Diese Gruppe zeigte eine signifikant geringere Gedächtnisspanne rückwärts als die restlichen Schüler (t(41) = 2.4). In der Gruppe der Schüler mit einer Lö- 298 Ulrike Weberschock, Dietmar Grube sungsrate über 50 % korreliert die Gedächtnisspanne rückwärts weder mit der Anzahl (r(32) = .25) noch mit dem Anteil korrekt gelöster Subtraktionsaufgaben (r(32) = -.11) in signifikanter Weise. Diese Ergebnisse legen nahe, dass sich eine geringe Leistungsfähigkeit der zentralen Exekutive ungünstig auf Durchführung und/ oder Verständnis der Übertragsoperation bei der fortgeschrittenen Subtraktion auswirken kann. In der Substichprobe mit einer Lösungsrate über 50 % korreliert das Basisrechnen sowohl mit der Anzahl (r(32) = .74) als auch mit dem Anteil korrekt gelöster Subtraktionsaufgaben (r(32) = .38) signifikant und tendenziell sogar höher als in der Gesamtstichprobe (vgl. Tabelle 3). Dies legt die Vermutung nahe, dass die dreistellige Subtraktion bei gegebenem Verständnis der Aufgabe ähnlich stark durch das basale Faktenwissen beeinflusst wird wie die dreistellige Addition. Diskussion Im Rahmen der vorliegenden Arbeit sollte geprüft werden, ob und inwieweit verschiedene Leistungsmaße zum Rechnen von Grundschülern die gleichen zugrunde liegenden Kompetenzen einschätzen oder aber unterschiedlich determiniert sind. Dazu wurde ein aus verschiedenen Aufgabengruppen zusammengesetztes, am Curriculum orientiertes Arithmetikmaß erhoben (Vorform des Subtests Arithmetik im DEMAT 3 +; Roick et al., 2004) sowie einzelne Maße zum Addieren und Subtrahieren dreistelliger Zahlen und zur Multiplikation, die ebenfalls nach dem dritten Schuljahr beherrscht werden sollten. Signifikante Zusammenhänge zeigten sich durchgängig zwischen den drei letztgenannten Rechenleistungen. Die Arithmetikleistung im DEMAT 3 + korrelierte lediglich mit zwei von drei weiteren Maßen, der zur dreistelligen Subtraktion und zur Multiplikation, bedeutsam. Die Zusammenhänge zwischen den Rechenleistungen waren nicht auf allgemeine (d. h. rechenunspezifische) Bearbeitungsmerkmale zurückzuführen (Konzentration/ Arbeitstempo). Die vier Maße wiesen paarweise gemeinsame Varianz von Null bis 25 Prozent auf. Diese mäßigen Zusammenhänge deuten vor dem Hintergrund ausreichender Reliabilität aller vier Maße (Barth, 2002; Roick et al., 2004) darauf hin, dass die ausgewählten Maße unterschiedliche Facetten des Rechnens abbilden. Dieser Eindruck spiegelt sich auch in weiteren Ergebnissen wider, die aufzeigen, dass die Höhe des Zusammenhangs zwischen Arbeitsgedächtniskapazität bzw. basalem Faktenwissen einerseits und den fortgeschrittenen Rechenleistungen andererseits von der jeweiligen Rechenanforderung abhängt. Ein solides und schnell abrufbares Wissen über basale arithmetische Fakten ist zwar für alle erhobenen Maße fortgeschrittenen Rechnens relevant. Allerdings ist dieser Einfluss jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt. Der Einfluss des basalen Faktenwissens kam beim dreistelligen Addieren bedeutsam stärker zum Tragen als beim dreistelligen Subtrahieren oder bei der DEMAT 3 + Arithmetikleistung. Die Leistungsfähigkeit der zentralen Exekutive scheint dagegen nur für die Lösung von komplexen Subtraktionsaufgaben und für die Arithmetikleistung im DEMAT 3 + von Belang zu sein. Ein Einfluss der Kapazität der phonologischen Schleife zeigt sich lediglich für die Arithmetikleistung im DEMAT 3 + (zum Arbeitsgedächtniseinfluss auf Rechenleistungen vgl. auch Ricken & Fritz, 2006; Thomas, Zoelch, Seitz-Stein & Schumann- Hengsteler, 2006; beide in diesem Band). Wodurch mögen Einflüsse des Arbeitsgedächtnisses auf die Rechenleistung moderiert werden? Ein möglicher Moderator könnte in der Geübtheit der verschiedenen Aufgabenarten liegen. Je geübter eine bestimmte Rechenoperation ist, desto automatischer kann sie ablaufen und desto weniger kognitive Kontrolle ist für ihre Ausführung nötig. Nach Baddeley (1996) übernimmt die zentrale Exekutive die Steuerung und Kontrolle aller aktuell ablaufenden Gedächtnisaktivitäten. Dass die Leistungsfähigkeit der zentralen Exekutive mit der Rechenleistung bei dreistelligen Spezifität von Einflüssen auf Rechenleistungen 299 Subtraktionsaufgaben und bei zusammengesetzten Arithmetikaufgaben kovariiert, könnte daran liegen, dass diese beiden Aufgabenarten (noch) nicht durch einfache Routinen lösbar sind. Die Angaben zu den Lösungsraten bezüglich der verschiedenen Aufgabengruppen (Tabelle 1) sind mit dieser Interpretation vereinbar. Dreistellige Additionsaufgaben werden zu 93.8 % korrekt gelöst, Multiplikationsaufgaben zu 96.9 %. Von den dreistelligen Subtraktionsaufgaben dagegen wurden nur 68.4 %, von den Aufgaben zur zusammengesetzten Arithmetik nur 58.8 % korrekt gelöst. Die niedrigen Lösungsraten können als Hinweis darauf gelten, dass die Aufgaben bisher wenig routiniert durchgeführt werden und dass deshalb die Ressourcen der zentralen Exekutive zur Steuerung und Kontrolle der notwendigen Arbeitsgedächtnisaktivitäten bei diesen Aufgaben an ihre Grenzen stoßen. Zusätzliche Analysen legen nahe, dass sich eine geringere Leistungsfähigkeit der zentralen Exekutive negativ auf die Durchführung der Übertragsoperation beim Erlernen des schriftlichen Subtrahierens auswirken kann. Nach Siegler und Shrager (1984) lässt sich die Repräsentation von arithmetischem Faktenwissen im Gedächtnis anhand eines Netzwerkes beschreiben. Jede Aufgabe weist Assoziationen unterschiedlicher Stärke zu verschiedenen möglichen Antworten auf. Besteht von einer Aufgabe hauptsächlich zu einer Antwort eine starke Assoziation, bezeichnen Siegler und Shrager dies als „spitze“ Assoziationsverteilung, was i. d. R. bei einfachen Aufgaben der Fall ist (z. B. 5 + 3). Bei schwierigeren Aufgaben bestehen jedoch häufig mehrere Assoziationen, sowohl zu richtigen als auch zu falschen Antworten, was Siegler und Shrager als „flache“ Assoziationsverteilung bezeichnen. Bei flachen Assoziationsverteilungen ist im Vergleich zu spitzen Verteilungen der Abruf der richtigen Antwort erschwert. Beim Lösen von schriftlichen, dreistelligen Subtraktionsaufgaben, wie z. B. „271 - 184“ wird die Aufgabe in Teilaufgaben gespalten und es werden zunächst die Einer subtrahiert. Bei den Ziffern 1 und 4 besteht sicherlich eine Assoziation zu den Ziffern 5 und 3, die Assoziation zur in diesem Falle richtigen 7 dürfte jedoch relativ gering sein. Um also zur richtigen Lösung zu gelangen, ist für Subtraktionsaufgaben relativ viel kognitive Kontrolle durch zentral-exekutive Funktionen nötig, möglicherweise in Form der Hemmung des Abrufs aufgebauter Assoziationen (vgl. z. B. Passolunghi & Siegel, 2001). Tatsächlich fällt das Maß der zentralen Exekutive für die Kinder der untersuchten Stichprobe, die nur weniger als 20 % der bearbeiteten Subtraktionsaufgaben korrekt lösten, signifikant geringer aus als für die restlichen Kinder. Demgegenüber fand sich kein Hinweis auf einen Einfluss der Leistungsfähigkeit der zentralen Exekutive auf die Subtraktionsleistung bei Kindern, die mehr als 50 % der Subtraktionsaufgaben korrekt lösten. Dies unterstützt die Annahme, dass mit zunehmender Lösungsrate im Zuge von Übung der Einfluss der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit zurückgeht (vgl. Ackerman, 2000). Zieht man nur die Daten der Kinder mit über 50-prozentiger Lösungsrate in Betracht, so lässt sich die Anzahl korrekt gelöster Subtraktionsaufgaben ähnlich gut durch das basale arithmetische Faktenwissen (Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 20) erklären wie die Anzahl gelöster dreistelliger Additionsaufgaben. Die zu einem großen Anteil korrekt gelösten fortgeschrittenen Additions- und Multiplikationsaufgaben erfordern offenbar vergleichsweise wenig kognitive Kontrolle. Bei der Bearbeitung wird vor allem auf das basale arithmetische Faktenwissen zurückgegriffen. Die Ergebnisse ähneln insofern Annahmen von Dehaene (1992), nach denen die Lösungen von Additions- und Multiplikationsaufgaben vor allem als Assoziationsverknüpfungen gelernt werden, während komplexere Rechenaufgaben anhand eines anderen Modus gelöst werden. Die von Dehaene (1992) angenom- 300 Ulrike Weberschock, Dietmar Grube mene verbale Natur der Additions- und Subtraktionsaufgaben wird allerdings durch die aktuellen Daten nicht bestätigt, da sich kein Zusammenhang zum Kapazitätsmaß für die phonologische Schleife zeigt. Sie wird allerdings durch diesen Befund auch nicht widerlegt, denn es wäre möglich, dass die Assoziation zwar verbal repräsentiert ist, jedoch ihr Abruf die Kapazität der phonologischen Schleife nicht ausfüllt. In diesem Fall würde die Kapazität der phonologischen Schleife (obwohl sie beteiligt ist) die Leistung nicht begrenzen, und es wäre keine signifikante Korrelation zu erwarten. Bei der DEMAT 3 + Arithmetikleistung scheint - wie auch für die dreistellige Subtraktion - eine höhere Leistungsfähigkeit der zentralen Exekutive von Nutzen zu sein. Bei der Bearbeitung dieses Tests haben sich die Kinder bei jedem der vier Aufgabentypen auf neue Lösungsalgorithmen einzustellen. Auch innerhalb eines Aufgabenblockes variiert der zu verwendende Lösungsalgorithmus (vgl. Roick et al., 2004). Da der Wechsel zwischen verschiedenen Strategien nach Baddeley (1996) ebenfalls zentral-exekutive Kontrolle erfordert, lässt sich somit der vergleichsweise hohe Zusammenhang zwischen dem zentral-exekutiven Leistungsmaß und der Arithmetikleistung im DEMAT 3 + erklären. In zukünftigen Forschungsarbeiten wäre zu prüfen, ob die hier beschriebenen Zusammenhangsmuster spezifisch für die untersuchte Altersgruppe bzw. den Lernstand sind oder ob sich die Zusammenhänge im Laufe der Schullaufbahn ändern. So könnte möglicherweise nach ausreichender Erfahrung mit Subtraktionsaufgaben der Einfluss der Leistungsfähigkeit der zentralen Exekutive - entsprechend der dreistelligen Addition zu Anfang des vierten Schuljahres - verschwinden (vgl. Ackerman, 2000). Die dargestellten Befunde beruhen auf den Daten einer Stichprobe von 43 Kindern und lassen von daher zusätzliche empirische Evidenz wünschenswert erscheinen. Dennoch schlagen wir bereits auf der Basis der vorliegenden Analysen folgende Schlussfolgerungen und Implikationen vor: Basales Faktenwissen übt Einfluss auf fortgeschrittene Rechenleistungen aus. Arbeitsgedächtniseinflüsse ließen sich für bestimmte Maße des Rechnens aufzeigen. Die Stärke der Einflüsse variiert in Abhängigkeit von der Art der erhobenen Rechenleistung. Bei stärker geübten und automatisierten Aufgabenarten wie Additions- und Multiplikationsaufgaben profitieren Schüler stärker vom Abruf arithmetischer Fakten aus der Wissensbasis, während bei eher unbekannten bzw. weniger geübten Aufgaben die Leistungsfähigkeit der zentralen Exekutive von besonderer Bedeutung zu sein scheint. Damit können Konzeptionen einer allgemeinen „Rechenfähigkeit“ mit eindeutig identifizierbaren Determinanten in Frage gestellt werden. Die aktuellen Ergebnisse sprechen vielmehr für die Existenz verschiedener Facetten von Rechenkompetenzen. Nimmt man die Annahme der Existenz verschiedener Rechenfertigkeiten ernst, so kann man in Erwägung ziehen, bei weiteren Ausdifferenzierungen, Ausgestaltungen und Operationalisierungen von Bildungsstandards für das Fach Mathematik je nach Anforderungen an die Absolventen bestimmter Schultypen eine Gewichtung der unterscheidbaren arithmetischen Kompetenzen einzuführen. Außerdem kann die Unterscheidung von Rechenfertigkeiten der Formulierung individueller Lernziele dienen, die an die aktuellen Lernvoraussetzungen eines Schülers angepasst sind (Weinert, 1977). Es könnte zum Beispiel die Frage gestellt werden, ob ein Schüler derzeit seine häuslichen Übungen auf ein routiniertes Bearbeiten von Rechenoperationen oder aber schon auf das Entdecken und Anwenden weniger routinierter Lösungsalgorithmen legen sollte. In jedem Fall erscheint die Anwendung von breiter angelegten ökonomischen diagnostischen Inventaren sinnvoll, um den aktuellen Lernstand oder Förderbedarf einzelner Schüler zu erfassen (vgl. Grube, Weberschock & Hasselhorn, in Vorb.). Längsschnittstudien Spezifität von Einflüssen auf Rechenleistungen 301 zum Erwerb arithmetischer Kompetenzen, die verschiedene Facetten des Rechnens umfassen, könnten Hinweise darauf liefern, welche individuellen Lernvoraussetzungen wann gute Voraussetzungen für den Erwerb arithmetischer Kompetenzen darstellen. Literatur Ackerman, P. L. (2000). A reappraisal of the ability determinants of individual differences in skilled performance. Psychologische Beiträge, 42, 147 - 160. Adams, J. W. & Hitch, G. J. (1998). Children’s mental arithmetic and working memory. In C. Donlan (Ed.), The development of mathematical skills (pp. 153 - 173). Hove: Psychology Press. Baddeley, A. D. (1986). Working memory. Oxford: Oxford University Press. Baddeley, A. D. (1996). 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Ulrike Weberschock PD Dr. Dietmar Grube Georg-August-Universität Göttingen Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie Abteilung 4: Pädagogische Psychologie und Entwicklungspsychologie Waldweg 26 D-37073 Göttingen Tel.: +49-5 51-39 92 86 Fax: +49-5 51-39 93 22 E-Mail: dgrube@uni-goettingen.de
