eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 54/1

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2007
541

Das elterliche Erziehungsverhalten in der Erinnerung erwachsener Geschwister

11
2007
Katharina Kitze
Andreas Hinz
Elmar Brähler
Die vorliegende Studie widmet sich der Frage nach der Unterschiedlichkeit zwischen Geschwistern im Hinblick auf die Erinnerungen an das elterliche Erziehungsverhalten sowie dem Einfluss von Merkmalen der Geschwisterkonstellation. Die Berechnungen wurden mit den Daten von 112 Geschwisterpaaren im Alter von 18 bis 72 Jahren durchgeführt. Als Untersuchungsinstrumente wurden der Fragebogen zum erinnerten elterlichen Erziehungsverhalten (FEE) und die Sence of Coherence Scale – Leipziger Kurzskala (SOC) eingesetzt. Im Ergebnis zeigte sich, dass erwachsene Geschwister das Erziehungsverhalten ihrer gemeinsamen Eltern eher unterschiedlich erinnern. Bedeutsame Differenzen zeigen sich vor allem hinsichtlich der erinnerten Wärme der Eltern. Insbesondere in Familien mit vielen Kindern und von Geschwistern mit hohem Altersabstand wird das Elternverhalten in der Erinnerung emotional wärmer beschrieben. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Erziehungsverhalten zu den nichtgeteilten Umwelteinflüssen (nonshared environment) gezählt werden kann.
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Erziehungsverhalten Die Familie spielt im Leben eines jeden Menschen eine prägende Rolle. Insbesondere die elterlichen Erziehungspraktiken stellen einen wichtigen Sozialisationsfaktor bei der Herausbildung individueller Persönlichkeitsmerkmale und Einstellungen dar, wodurch sie das Leben eines Menschen weit über seine Kindheit und Jugend hinaus beeinflussen (Trautner, 1994). Dabei fließen sowohl das Wissen der Eltern als auch die Erfahrungen der Eltern mit ihren eigenen Erziehern ein. Die Erlebnis- und Handlungsweisen, die Elternpersonen ihrem Kind gegenüber äußern, werden in der wissenschaftlichen Forschung im erweiterten Sinne als elterliches Erziehungsverhalten bezeichnet (vgl. Schneewind & Herrmann, 1980). Im Zuge der The Perceived Parental Behavior of Siblings Summary: The study analyses the differences between siblings and the influences of their constellation (position, number of siblings, difference of age, sex) with regard to the perceived parental behavior. 112 siblings aged 18 - 72 were examined in our study with The Questionnaire of Recalled Parental Rearing Behavior QRPRB, and The Sence of Coherence Scale - Leipziger Kurzskala SOC. According to the theoretical assumptions, the results show that the children perceived the parenting behavior differently, especially the emotional warmth of the parents. In families with high numbers of children and with high differences in age the siblings reported less parental warmth. The findings are discussed on the background of the concept of nonshared environment. Keywords: Siblings, parenting behavior, emotional warmth Zusammenfassung: Die vorliegende Studie widmet sich der Frage nach der Unterschiedlichkeit zwischen Geschwistern im Hinblick auf die Erinnerungen an das elterliche Erziehungsverhalten sowie dem Einfluss von Merkmalen der Geschwisterkonstellation. Die Berechnungen wurden mit den Daten von 112 Geschwisterpaaren im Alter von 18 bis 72 Jahren durchgeführt. Als Untersuchungsinstrumente wurden der Fragebogen zum erinnerten elterlichen Erziehungsverhalten (FEE) und die Sence of Coherence Scale - Leipziger Kurzskala (SOC) eingesetzt. Im Ergebnis zeigte sich, dass erwachsene Geschwister das Erziehungsverhalten ihrer gemeinsamen Eltern eher unterschiedlich erinnern. Bedeutsame Differenzen zeigen sich vor allem hinsichtlich der erinnerten Wärme der Eltern. Insbesondere in Familien mit vielen Kindern und von Geschwistern mit hohem Altersabstand wird das Elternverhalten in der Erinnerung emotional wärmer beschrieben. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Erziehungsverhalten zu den nichtgeteilten Umwelteinflüssen (nonshared environment) gezählt werden kann. Schlüsselbegriffe: Geschwister, erinnertes elterliches Erziehungsverhalten, emotionale Wärme ■ Empirische Arbeit Das elterliche Erziehungsverhalten in der Erinnerung erwachsener Geschwister Katharina Kitze Andreas Hinz Elmar Brähler Universitätsklinikum Leipzig Universität Leipzig Universität Leipzig Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2007, 54, 59 - 70 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 60 Katharina Kitze et al. Erziehungsstilforschung wurden verschiedene Dimensionen gewonnen, um das Erziehungsverhalten zu charakterisieren. Es kristallisierten sich neben anderen Ansätzen die Faktoren „Zuwendung vs. Zurückweisung“, „Kontrolle vs. Autonomie“ und „Strenge“ heraus (z. B. Herrmann, 1968; Lukesch, 1975; Schneewind, 1975). Ein in Schweden entwickeltes Verfahren zur retrospektiven Erfassung des perzipierten elterlichen Erziehungsverhaltens, der EM- BU-Fragebogen von Perris, Jacobsson, Lindström, von Knorring und Perris (1980) bildet diese drei Dimensionen deutlich ab. Die deutsche Version wurde in Form des Fragebogens zum erinnerten elterlichen Erziehungsverhalten (FEE) von Schumacher et al. (2000 a) vorgelegt. Es hat sich bereits in der Forschung bewährt und wurde für die nachfolgende Studie verwendet. Ein anderes Fragebogenverfahren zur Erfassung der elterlichen Ungleichbehandlung wurde in jüngster Zeit von Ferring, Boll und Filipp (2003) vorgestellt. Es bezieht sich auf das von Daniels und Plomin (1985) entwickelte „Sibling Inventory of Differential Experience“ (SIDE) und erfasst Indikatoren der elterlichen Ungleichbehandlung hinsichtlich der Dimensionen „Zuneigung“ und „Disziplinierung“. Geschwister und Erziehung Bedford (1993) hat die Geschwisterbeziehung als die in der Regel am längsten währende, unaufkündbare, annähernd egalitäre menschliche Beziehung bezeichnet. Hierbei stehen die Kinder im Normalfall vor allem unter dem Einfluss ihrer Eltern. Deren Verhalten und Einstellungen werden oft übernommen oder stellen zumindest den Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung des eigenen Verhaltens und Denkens dar. In den letzten Jahren hat die Forschung immer wieder gezeigt, dass Unterschiede zwischen Geschwistern in bedeutsamem Maße auf nichtgeteilte Umwelteinflüsse (nonshared environment) zurückzuführen sind (Rowe & Plomin, 1981; Hetherington et al., 1994, Dunn & Plomin, 1996). Das Konzept wurde von den Verhaltensgenetikern Rowe und Plomin (1981) eingeführt. Sie gingen der Frage nach, warum sich Geschwister vergleichsweise stark unterscheiden, obwohl sie durchschnittlich 50 Prozent des genetischen Materials gemeinsam haben. So berichten beispielsweise Dunn und Plomin (1996) dass sowohl geistige Fähigkeiten als auch alle Persönlichkeitseigenschaften zwischen Geschwistern eher differieren. Die Korrelationen des Intelligenzquotienten (r = .50) und der Persönlichkeit (r = .15 bis .20) zwischen den Geschwistern fielen in der Untersuchung von Dunn und Plomin (1996) sehr niedrig aus und entsprachen keinesfalls den Erwartungen (r = ca. .70). Dabei würden nicht nur verschiedenartige Erlebnisse oder differierende Persönlichkeitseigenschaften zwischen Geschwistern eine Rolle spielen, auch das Verhalten der Eltern wäre jedem Kind gegenüber unterschiedlich. Eltern sollen dazu tendieren, ihre Kinder in Abhängigkeit von beispielsweise deren Temperament, Geschlecht und Alter ungleich zu behandeln. Allerdings kann insgesamt nur ein sehr begrenzter Anteil der Unterschiede in den Persönlichkeitseigenschaften der Geschwister auf das elterliche Erziehungsverhalten zurückgeführt werden. Asendorpf und Banse (2000) sind deshalb der Auffassung, dass der nichtgenetische Einfluss der Eltern auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder zumeist stark überschätzt wird (vgl. Rowe, 1997). Allerdings weist Maccoby (2000) darauf hin, dass genetische Prädispositionen und das elterliche Erziehungsverhalten eng miteinander verwoben sind und deshalb Erziehungseinflüsse nicht vorschnell unterschätzt werden dürften. Geschwisterkonstellationen Unter dem Aspekt der Unterschiedlichkeit von Geschwistern ist in der Forschung auch dem Zusammenhang zwischen elterlichem Erziehungsverhalten und verschiedenen Geschwisterkonstellationen einige Aufmerksamkeit zuteil geworden. In erster Linie wurden in den bisher vorliegenden Studien Geschwisterposition und Geschwisteranzahl in Beziehung zu den Di- Elterliches Erziehungsverhalten bei Geschwistern 61 mensionen des elterlichen Erziehungsverhaltens gesetzt. In den Analysen zum Einfluss der Geschwisterposition auf das elterliche Erziehungsverhalten wird im Allgemeinen nur nach den Erstgeborenen und allen Nachgeborenen unterschieden. Tatsächlich scheint das erstgeborene Kind von seinen Eltern anders behandelt zu werden als die Nachfolgenden (z. B. Adler, 1976; Hermann et al., 1971; Bank & Kahn, 1994). Die Autoren schildern meist ein strenges, restriktives und emotional eher zurückhaltendes Verhalten der Eltern ihrem ersten Kind gegenüber, welches mit noch sehr engen Vorstellungen und hohen Erwartungen begründet wird. Stapf et al. (1972) beschrieben eben dieses Erziehungsverhalten besonders bei den Müttern und führten es auf die Unsicherheit und Ängstlichkeit zurück, die Frauen bezüglich ihrer neuen Mutterrolle zeigen. Mit dem zweiten und dritten Kind würden Mütter dann ihre Rolle lernen und diesen Söhnen und Töchtern entspannter gegenüber treten. Vor allem die strengere Erziehung dem ersten Kind gegenüber wird in diversen Studien von den Erzogenen selbst bestätigt (Hermann et al., 1971; Lüscher, 1997). Die jüngeren Kinder schildern dagegen im Vergleich zum ältesten eine eher liebevolle und akzeptierende Erziehung durch ihre Eltern (Bank & Kahn, 1994). Richter et al. (1997) fanden Zusammenhänge zwischen der Geschwisteranzahl und dem perzipierten elterlichen Erziehungsverhalten, wobei eine größere Zahl von Geschwistern mit einer geringeren emotionalen Wärme und Überprotektion der Eltern einherging. Auch Elder (1962) konnte aufzeigen, dass mit zunehmender Familiengröße bei beiden Eltern eher ein autokratischer Erziehungsstil zu finden ist, der äußere Verhaltenskontrollen und körperliche Bestrafungen beinhaltet. Kitamura et al. (1998) haben indes auch den wechselseitigen Einfluss von Geschwisterposition und Geschwisteranzahl auf das perzipierte elterliche Erziehungsverhalten untersucht. Die erwachsenen Probanden mit mehreren älteren Geschwistern erlebten weniger Fürsorge durch die Eltern, während diejenigen mit mehreren jüngeren Geschwistern, insbesondere jüngeren Brüdern, das elterliche Erziehungsverhalten als weniger überprotektiv und kontrollierend schilderten. Insgesamt waren die ermittelten Effekte allerdings nur sehr schwach ausgeprägt. Die Bedeutung des Geschlechts der Erzogenen präzisierte unter anderen Bronfenbrenner (1993) in seinen familiensoziologischen Forschungen. Demnach gibt es die Tendenz jedes Elternteils, mit dem Kind des eigenen Geschlechts etwas energischer und härter umzugehen und höhere Forderungen zu stellen, dagegen aber mit einem Kind des anderen Geschlechts nachsichtiger zu sein und ihm mehr zu erlauben. So behandelt ein Vater seinen Sohn strenger als dessen Schwester. Außerdem wurde von Bronfenbrenner (1993) ermittelt, dass besonders Väter dazu neigen, Kinder je nach Geschlecht verschieden zu behandeln. Diese durch Befragung der Eltern erhaltenen Aussagen wurden sodann in Untersuchungen bestätigt, die das von den Erzogenen perzipierte Elternverhalten erfassten. So stellten z. B. Herrmann (1968, 1971), Lukesch & Tischler (1975) und Schumacher et al. (2000 a) gleichermaßen fest, dass die Söhne ihren Vater im allgemeinen strenger, ablehnender und weniger unterstützend erlebten, als es die Töchter taten. Weniger eindeutig ist das von den Kindern erlebte Verhalten der Mutter. Zwar erinnern Töchter ihren Vater weniger streng und emotional wärmer als die Söhne. Aber die Töchter erlebten ihre Mutter nicht strenger und kühler als die Söhne. Lukesch und Tischler (1975) fanden mittels der Marburger Skalen, dass Töchter ihre Mütter unterstützender erlebten als die Söhne. Interessant ist die Betrachtung von gleichgeschlechtlichen Geschwisterreihen. Kasten (1993) untersuchte sowohl gleichals auch verschiedengeschlechtliche Geschwister und stellte Unterschiede im Erziehungsverhalten der Eltern fest. Er zeigte auf, dass Eltern mit verschiedengeschlechtlichen Geschwistern mehr Zeit verbringen, sie aber inkonsequenter als gleichgeschlechtliche behandeln. Kasten (1993) verglich außerdem männliche mit weiblichen Geschwisterpaaren und stellte fest, dass zwei 62 Katharina Kitze et al. Jungen von Vater und Mutter strenger und kontrollierender erzogen werden als zwei Mädchen. Zum Zusammenhang zwischen elterlichem Erziehungsverhalten und Altersunterschied zwischen Geschwistern liegen kaum Erkenntnisse vor. Betont wird jedoch immer wieder, dass bei einem Altersunterschied von sechs oder mehr Jahren die Kinder eigentlich keine vollen Geschwister mehr sind (Toman, 1974) und schon verschiedenen Generationen angehören (Bank & Kahn, 1994). Toman (1974) bemerkt in seiner Beschreibung der Familienkonstellation, dass geringere Altersabstände Geschwister stärker aneinander binden als große. Die sich nächsten Geschwister entwickeln somit die intensivsten Bindungen und beeinflussen sich daher am stärksten (Sorrig & Martensen-Larsen, 1991). Die vorliegende Studie widmet sich dem Aspekt der Unterschiedlichkeit von Geschwistern. An erster Stelle steht dabei die allgemeine Frage nach Übereinstimmungen zwischen Geschwistern in der Erinnerung an das elterliche Erziehungsverhalten. Laut bisheriger Forschungsergebnisse dürften die Einschätzungen der Geschwister zum elterlichen Erziehungsverhalten kaum übereinstimmen. Die Ergebnisse sollen vor dem Hintergrund des Konzeptes der nichtgeteilten Umwelteinflüsse diskutiert werden. Des Weiteren liegt der Focus auf dem Zusammenhang von Merkmalen der Geschwisterkonstellation und Geschlechterverteilung in einer Familie und dem perzipierten elterlichen Erziehungsverhalten. Dass auch Persönlichkeitseigenschaften zwischen Geschwistern eher differieren als übereinstimmen, wurde bereits von Dunn und Plomin (1996) berichtet. In unserer Studie soll dies an der generellen Persönlichkeitseigenschaft des „Sense of coherence“ überprüft werden. Der Sense of coherence gilt nach der Theorie der Salutogenese (Antonovsky, 1997) als generelle Ressource bei der Bewältigung alltäglicher Anforderungen, welcher sich im Laufe der Kindheit und Jugend entwickelt und stark von der Umgebung und somit auch dem Erziehungsverhalten der Eltern abhängig ist. Durch das Erfassen des Sense of coherence nach Antonovsky (SOC) kann die Herausbildung einer für die Gesundheit so wichtigen Persönlichkeitseigenschaft einerseits auf Unterschiede zwischen Geschwistern untersucht werden. Andererseits sollen Zusammenhänge zu den Dimensionen des elterlichen Erziehungsverhalten aufgezeigt werden, die in der bisherigen Literatur unklar geblieben sind. Methodik Die Datenerhebung fand in der Zeit von Oktober 2000 bis April 2001 statt. Durch einen Aufruf in der Universität Leipzig und die Weitergabe der Fragebögen an Kollegen und Bekannte wurde die Stichprobe rekrutiert. Es wurden insgesamt 374 Fragebogen an 187 Geschwisterpaare ausgegeben, die in Deutschland (auch ehemalig deutsche Gebiete vor 1945) aufwuchsen und heute in der Bundesrepublik Deutschland leben. Die Geschwister einer Familie, bei denen die Daten erhoben wurden, sind nach dem Zufallsprinzip bestimmt worden. Bei einigen Probanden konnten jedoch aus Zeitgründen oft nur die „erreichbaren“ Geschwister ausgewählt werden. Die befragten Geschwisterpaare wurden jeweils von den gleichen Eltern bzw. Stiefeltern erzogen. Von den 374 ausgegebenen Fragebogen kamen 228 zurück, die von 112 Geschwisterpaaren und vier einzelnen Personen ausgefüllt wurden. Das entspricht einem Rücklauf von 61 %. Für die nicht rückläufigen Fragenbögen sind in der durchgeführten Erhebung vor allem systematische Ausfälle (Proband verreist oder nicht erreichbar, keine Zeit verfügbar, Proband verweigert Auskunft, Proband krank) verantwortlich zu machen. Die Daten der 112 vollständigen Geschwisterpaare (N = 224) wurden in die Untersuchung aufgenommen. Die soziodemografischen Merkmale der Stichprobe sind in Tabelle 1 zusammengestellt. Die Probanden waren zwischen 18 und 72 Jahre alt. Der Altersmittelwert lag bei 33.0 Jahren. Im Vergleich zur Normierungsstichprobe des FEE (Altersmittelwert = 47.3 Jahre; Standardabweichung = 17.2; Erläuterungen zum Instrument siehe unten) haben in der vorliegenden Untersuchung mehr junge Personen teilgenommen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass gerade bei der älteren Generation oft die Geschwister schon verstorben, nicht mehr zu Befragungen fähig oder „aus den Augen verloren“ sind. Der Elterliches Erziehungsverhalten bei Geschwistern 63 mittlere Altersabstand zwischen den Geschwistern betrug 4.6 Jahre bei einem Minimum von 1 Jahr und einem Maximum von 20 Jahren. 57 der einbezogenen Geschwisterpaare waren gleichgeschlechtlich (16 Brüderpaare und 41 Schwesternpaare). Die Verteilungen der Geschwisterpositionen der Probanden in der Untersuchungsstichprobe erstreckt sich vom Erstgeborenen (41.7 %) über den Zweitgeborenen (40.4 %) bis zur siebenten Geburtsposition (N = 1). Die Anzahl der Geschwister in den Familien verteilt sich von zwei Geschwistern in über der Hälfte der Fälle bis hin zu sieben Geschwistern (in einer Familie). In der vorliegenden Studie sind die Töchter mit 61.8 % überrepräsentiert. Auch ist der Prozentsatz ostdeutscher Teilnehmer mit 81.2 % deutlich höher als der Prozentsatz der westdeutschen Teilnehmer. Die Untersuchungsstichprobe ist daher nicht als repräsentativ anzusehen. Es können aus unserer Untersuchung aber dennoch wichtige Erkenntnisse erwartet werden, da bisher kaum Studien vorliegen, in denen es gelungen ist, eine ähnlich große Zahl von erwachsenen Geschwisterpaaren retrospektiv zum Erziehungsverhalten ihrer gemeinsamen Eltern zu befragen. Für diese Studie wurde ein entsprechend entwickelter soziodemografischer Fragenbogen eingesetzt. Die retrospektive Erhebung des perzipierten elterlichen Erziehungsverhaltens erfolgte mittels des Fragebogens zum erinnerten elterlichen Erziehungsverhalten FEE (Schumacher et al., 2000 a). Der FEE umfasst 24 Items, die jeweils getrennt für den Vater und die Mutter beantwortet werden sollen. Es gibt drei faktoranalytisch ermittelte Dimensionen, die jeweils acht Items enthalten. Die Skala „Ablehnung und Strafe“ erfasst erziehungsrelevante elterliche Verhaltensmerkmale, die durch (übermäßige) Strenge, Tadel und Kritik gekennzeichnet sind und vom Erzogenen als partiell unangemessen sowie als Zurück- Gesamt Geschwister ältere jüngere (N = 224) (N = 112) (N = 112) Alter M 33.02 35.29 30.72 SD 10.27 10.42 9.63 Spanne 18 - 72 19 - 72 18 - 66 Geschlecht Söhne 84 (38.2 %) 46 (42.2 %) 38 (34.2 %) Töchter 136 (61.8 %) 63 (57.8 %) 73 (65.8 %) ohne Angaben 4 3 1 Wohnsitz in neuen Bundesländern 184 (81.2 %) 90 (80.4 %) 92 (82.1 %) in alten Bundesländern 42 (18.8 %) 22 (19.6 %) 20 (17.9 %) Familienstand ledig, ohne Partner 59 (26.6 %) 22 (19.8 %) 37 (33.3 %) in fester Partnerschaft 65 (29.3 %) 27 (24.3 %) 38 (34.2 %) verheiratet 81 (36.5 %) 50 (45.0 %) 31 (27.9 %) geschieden, ohne Partner 16 (7.2 %) 11 (9.9 %) 5 (4.5 %) verwitwet, ohne Partner 1 (0.4 %) 1 (0.9 %) - ohne Angaben 2 1 1 Ausbildung ohne Abschluss 1 (0.4 %) - 1 (0.9 %) Hauptschule/ 8. Klasse 7 (3.1 %) 3 (2.7 %) 4 (3.6 %) Realschule/ 10. Klasse 67 (30.0 %) 27 (24.3 %) 40 (35.7 %) Abitur/ 12. Klasse 48 (21.6 %) 18 (16.2 %) 30 (26.8 %) Fach-/ Hochschule 100 (44.9 %) 63 (56.8 %) 37 (33.0 %) ohne Angaben 1 1 Tabelle 1: Soziodemografische Merkmale der Stichprobe 64 Katharina Kitze et al. weisung und Ablehnung erlebt wurden (Item 18: „Kam es vor, dass Sie ohne Grund Schläge bekamen? “). Die „Emotionale Wärme“ beschreibt elterliche Verhaltensweisen, die vom Erzogenen als liebevoll, unterstützend, lobend sowie tröstend wahrgenommen wurden, ohne zu starke Einmischung zu implizieren (Item 15: „Wurden Sie von ihren Eltern getröstet, wenn Sie traurig waren? “). Die Skala „Kontrolle und Überbehütung“ beschreibt elterliche Verhaltensmerkmale, die vom Erzogenen als stark kontrollierend sowie als übertrieben fürsorglich, einmischend und einengend erlebt wurden (Item 23: „Finden Sie, dass Ihre Eltern übertrieben ängstlich darüber waren, dass Ihnen etwas zustoßen könnte? “). Die Items dieser Skala spiegeln darüber hinaus eine ausgeprägte Leistungsorientierung und hohe Erwartungen der Eltern gegenüber ihrem Kind wider. Die interne Konsistenz der Skalen liegt zwischen α = .72 und α = .89 und die Testhalbierungs-Reliabilität (Spearman-Brown) zwischen r = .70 und r = .88. Die „Leipziger Kurzskala“ (SOC-L9) von Schumacher, Wilz, Gunzelmann und Brähler (2000 b) ist als eine eindimensionale Skala konzipiert worden, die eine ökonomische Erfassung des Sense of coherence erlaubt. Grundlage stellte die „Sense of Coherence Scale“ dar, die Antonovsky (1983) zur empirischen Überprüfung seiner Theorie der Salutogenese entwickelte. Es konnte von Schumacher et al. (2000 b) aufgezeigt werden, dass die neue Kurzskala und die Originalskala von Antonovsky hoch positiv miteinander korrelieren (r = .94). Die Leipziger Kurzskala gilt als reliables Messinstrument (interne Konsistenz α = .87). Ergebnisse Im Mittelpunkt unserer Untersuchung steht die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den retrospektiven Beurteilungen des Erziehungsverhaltens der gemeinsamen Eltern durch die beiden Geschwister. Bivariate Korrelationen zwischen den FEE-Skalen der älteren Geschwister (Geschwister A) und denen der jüngeren Geschwister (Geschwister B) zeigen durchgängig signifikant positive Korrelationen (Tab. 2). Am stärksten ist der Zusammenhang mit r = .64 bei der erlebten Ablehnung und Strafe durch den Vater ausgeprägt. Die befragten Geschwister stimmen hier in ihrer retrospektiven Einschätzung eher überein. Bei allen anderen FEE-Skalen sind die korrelativen Zusammenhänge zwischen den Geschwistern zwar ebenfalls signifikant, fallen aber insgesamt deutlich niedriger aus (.24 ≤ r ≤ .39). Um zu prüfen, ob außerdem Unterschiede in den FEE-Skalen zwischen den Geschwistern festzustellen sind, wurden univariate Varianzanalysen durchgeführt (Abb. 1). Der Vergleich zwischen den FEE-Skalen macht deutlich, dass in der Einschätzung der mütterlichen Wärme die Beurteilungen der Geschwister signifikant auseinandergehen (F (1,220) = 5.188, p = 0.0024; η 2 = 0.023). Die jüngeren Geschwister haben die Mutter emotional wärmer in Erinnerung als die älteren. Um der Frage nach dem Zusammenhang der Erinnerungen an das elterliche Erziehungsverhalten mit dem Geschlecht der Erzogenen nachzugehen, wurden die Geschwisterpaare danach unterteilt, ob sie gleichen oder unterschiedlichen Geschlechts sind. Es ergeben sich etwa gleich starke Gruppen (N = 57 für gleiches Geschlecht und N = 51 für verschiedenes Geschlecht). Zum Vergleich wurden jeweils die durch Vater durch Mutter Ablehnung/ Emotionale Kontrolle/ Ablehnung/ Emotionale Kontrolle/ Strafe Wärme Überbehütung Strafe Wärme Überbehütung Gesamt .64*** .39*** .28** .33*** .24** .30** Geschlecht gleich .62** .35** .47** .37** .30** .52** Geschlecht ungleich .65** .42** .02 .29* .17 -.06 Tabelle 2: Korrelationen der Skalen des Fragebogens zum erinnerten elterlichen Erziehungsverhalten zwischen den Geschwistern Erläuterung: *** p < .001; ** p < .01; * p < .05 Elterliches Erziehungsverhalten bei Geschwistern 65 FEE-Variablen zwischen den beiden Geschwistern korreliert. Tabelle 2 zeigt, dass die gleichgeschlechtlichen Geschwister in den Skalen mehr signifikante Korrelationen aufweisen und somit im Mittel die elterliche Erziehung ähnlicher beurteilten als die gemischten Geschwisterpaare. Es lag die Vermutung nahe, dass das Geschlecht einen hohen Einfluss auf das perzipierte Erziehungsverhalten der Eltern haben könnte. Zur Überprüfung dieser Annahme wurden Mittelwertsunterschiede in den FEE-Skalen zwischen Söhnen und Töchtern berechnet (Abb. 2). Wider Erwarten zeigten sich in den Einschätzungen des Erziehungsverhaltens keine Geschlechtsunterschiede. Um zu prüfen, ob sich das erinnerte elterliche Erziehungsverhalten in Abhängigkeit von Merkmalen der Geschwisterkonstellation unterscheidet, wurden dreifaktorielle Varianzanalysen berechnet. Dazu wurden die Variablen dichotomisiert: Geschwisterposition (Erstgeborene vs. Nachgeborene), Gesamtanzahl von Geschwistern in der Familie (zwei vs. mehr als zwei Geschwister), Altersdifferenz zwischen den beiden befragten Geschwistern (bis 4 Jahre vs. mehr als 4 Jahre Differenz). Die Faktoren der Geschwisterkonstellation gingen als unabhängige und die FEE-Skalen als abhängige Variablen in die Rechnung ein (Tab. 3). Unseren Ergebnissen zufolge hat die Geschwisterposition keinen Einfluss auf das erinnerte elterliche Erziehungsverhalten. Entgegen den bisherigen Forschungsergebnissen ergeben sich in unserer Untersuchung keine signifikanten Effekte. Dagegen hatte die Gesamtzahl der Geschwister in der Familie einen hochsignifi- Abbildung 1: Mittelwertvergleich der Skalen des Fragebogens zum erinnerten elterlichen Erziehungsverhalten zwischen den Geschwistern Erläuterung: * p < .05 66 Katharina Kitze et al. kanten Einfluss auf die erlebte „Emotionale Wärme“ beider Elternteile. Je mehr Geschwister die von uns befragten Personen hatten, desto emotional kälter erinnerten sie sich an Mutter (p < .01) und Vater (p < .001). Es wurde unsererseits vermutet, dass es sich um einen Sozialschicht-Effekt handeln könnte. So wurden für die jeweils Älteren der Geschwisterpaare Korrelationen zwischen dem Bildungsgrad und der Geschwisteranzahl berechnet. Diese fiel mit r = .04 sehr gering aus, sodass der Ansatz verworfen wurde. Die Altersdifferenz zwischen den Geschwistern hatte schließlich auch einen nennenswerten Einfluss auf das erinnerte elterliche Erziehungsverhalten. Geschwisterpaare, deren Altersabstand weniger als fünf Jahre betrug, erlebten sowohl Vater als auch Mutter als emotional zugeneigter und wärmer in ihrem Verhalten als diejenigen Geschwisterpaare, die altersmäßig weiter auseinander lagen (p < .05). Zudem beurteilten Geschwister mit geringerem Altersabstand ihre Mutter auch als kontrollierender und übermäßig beschützender als Geschwister mit größerem Altersabstand (p < .05). Um festzustellen, wie ähnlich der Sense of coherence nach Antonovsky bei den Geschwistern ist, wurden bivariate Korrelationen berechnet. Der Korrelationskoeffizient des SOC-Gesamtwertes betrug r = .15. Dieser Wert ist nicht signifikant und niedriger als alle sechs Korrelationen zwischen den FEE-Skalen der Geschwister. Schließlich wurden über alle 224 Personen, ungeachtet der Geschwisterkonstellationen, Korrelationen zwischen FEE und SOC berechnet (Tab. 4). Personen mit hohem Sense of coherence berichteten mehr emotionale Wärme durch den Vater, weniger Kontrolle durch die Mutter sowie weniger Ablehnung und Strafe durch beide Eltern. Die Korrelationen fallen jedoch sehr gering aus und steigen nicht über r = .15. Abbildung 2: Mittelwertvergleich der Skalen des Fragebogens zum erinnerten elterlichen Erziehungsverhalten zwischen den Geschlechtern Elterliches Erziehungsverhalten bei Geschwistern 67 Tabelle 3: Das erinnerte elterliche Erziehungsverhalten in Abhängigkeit von der Geschwisterposition, der Gesamtzahl von Geschwistern in der Familie und der Altersdifferenz zwischen den Geschwistern Erläuterungen: *** p(F) < .001; ** p(F) < .01; * p(F) < .05; Signifikante Zweifach- und Dreifach-Wechselwirkungen wurden nicht gefunden. 1 „zwei“ bedeutet hier, dass nur die beiden befragten Geschwister existieren. FEE-Skalen Geschwisterposition Geschwisteranzahl Altersdifferenz Dreifaktorielle Varianzanalyse (POS) (ANZ) (DIF) Erstgeb. Nachgeb. zwei 1 > zwei 1 - 4 Jahre > 4 Jahre POS ANZ DIF (N = 89) (N = 124) (N = 113) (N = 100) (N = 148) (N = 65) df = 1; 200 df = 1; 200 df = 1; 200 Ablehnung und Strafe Vater M 10.62 10.76 10.39 11.05 10.69 10.72 F 0.02 1.90 0.34 SD 3.05 3.25 2.80 3.52 3.07 3.46 η 2 0.000 0.009 0.000 Mutter M 10.72 10.48 10.44 10.73 10.69 10.32 F 0.65 0.16 0.69 SD 2.68 2.54 2.49 2.71 2.71 2.31 η 2 0.003 0.001 0.003 Emotionale Wärme Vater M 18.38 18.54 21.31 18.49 20.36 19.14 F 0.08 21.44*** 5.00* SD 4.32 4.94 4.52 4.43 4.62 4.75 η 2 0.000 0.095 0.024 Mutter M 22.47 23.17 23.65 22.01 23.18 22.18 F 2.75 10.60** 4.68* SD 4.32 4.38 4.32 4.25 4.37 4.22 η 2 0.013 0.049 0.022 Kontrolle und Überbehütung Vater M 13.64 12.96 13.24 13.25 13.28 13.15 F 1.53 0.00 0.50 SD 3.21 3.16 2.82 3.58 3.40 2.68 η 2 0.007 0.000 0.002 Mutter M 14.79 14.23 14.64 14.26 14.74 13.82 F 0.52 0.51 4.79* SD 3.54 3.72 3.27 4.05 3.89 2.96 η 2 0.003 0.002 0.023 68 Katharina Kitze et al. Diskussion Ziel der vorliegenden Studie war es, Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen Geschwistern in der Erinnerung an das elterliche Erziehungsverhalten zu untersuchen. Wie schon eingangs diskutiert, gibt es zahlreiche Belege für die Unterschiedlichkeit von Geschwistern (z. B. Dunn & Plomin 1996, Hetherington et al. 1994). Aufgrund dessen war für unsere Untersuchung zu erwarten, dass sich die Geschwister wenig übereinstimmend an das Erziehungsverhalten ihrer gemeinsamen Eltern erinnern. In unserer Studie ergaben sich für die Mehrheit der FEE-Skalen entsprechend nur geringe korrelative Zusammenhänge (Korrelationen um r = .30) zwischen den retrospektiven Einschätzungen der Geschwister. Ein zusätzlicher Mittelwertvergleich zeigte auf, dass sich die Einschätzungen der mütterlichen Wärme zwischen den Geschwistern signifikant unterschieden. Für die eher unterschiedliche Beurteilung der Geschwister des Erziehungsverhaltens ihrer Eltern können zwei Gründe dargelegt werden. Entweder haben die Eltern ihre Kinder tatsächlich unterschiedlich erzogen. In diesem Sinne würden unsere Ergebnisse darauf hinweisen, dass das elterliche Erziehungsverhalten zu den nichtgeteilten Umwelteinflüssen gehört. Die oft beschriebenen Differenzen in der Persönlichkeit und im Verhalten zwischen Geschwistern (Rowe & Plomin, 1981; Hetherington et al., 1994, Dunn & Plomin, 1996) könnten auf nichtgenetische Einflüsse zurückgeführt werden, die sich durch ein Aufwachsen in unterschiedlichen Umwelten (nonshared environment) mit einem unterschiedlichen Erziehungsverhalten der Eltern ergeben. Andererseits können die Differenzen in der Beurteilung durch die Geschwister auch dadurch zustande gekommen sein, dass Kinder die Erziehung unterschiedlich erlebt haben oder diese rückwirkend unterschiedlich beurteilen. In der Literatur wurde die Problematik retrospektiver Befragungen schon eingehend diskutiert. So stellt sich bei retrospektiven Erhebungen die Frage nach der Veridikalität („Verlässlichkeit“) der Aussagen. Es ist bekannt, dass autobiografische Erinnerungen fehleranfällig sein können und systematischen Gedächtnistäuschungen wie dem Rückschaufehler unterliegen können („hindsight bias“, vgl. Hell et al., 1993). Als wichtige Einflussfaktoren auf autobiografische Erinnerungen werden heute in der Literatur Persönlichkeitsmerkmale, Selbstkonzeptmerkmale und situative Merkmale wie Stimmungslage (vgl. Schumacher et al., 2000 a) genannt. Doch der Einfluss aktueller Stimmungen auf den Inhalt autobiografischer Erinnerungen ist nicht eindeutig und konsistent nachzuweisen (z. B. McFarland & Buehler, 1998). Durch die Erfassung des Sense of Coherence konnten wir aufzeigen, dass sich diese Persönlichkeitseigenschaft zwischen den Geschwistern nicht gleicht. Nach Antonovsky (1997) bildet sich der SOC, ähnlich wie andere Persönlichkeitseigenschaften, während der Phase der Kindheit unter dem Erziehungsverhalten der Eltern heraus und ist mit dem jungen Erwachsenenalter gefestigt. Unsere Befunde taugen aufgrund der geringen Korrelationen jedoch nicht dazu, diese Behauptung von Antonovsky zu bestätigen. Unseren Ergebnissen zufolge hat das Erziehungsverhalten der Eltern keinen dominierenden Einfluss auf die Bildung des Sense of coherence. durch Vater durch Mutter Ablehnung/ Emotionale Kontrolle/ Ablehnung/ Emotionale Kontrolle/ Strafe Wärme Überbehütung Strafe Wärme Überbehütung SOC-L9 -.15* .15* -.11 -.14* .03 -.15* Tabelle 4: Korrelationen zwischen den Skalen des Fragebogens zum erinnerten elterlichen Erziehungsverhalten und der Sense-of-coherence-Skala (Gesamtstichprobe) Erläuterung: * p < .05 Elterliches Erziehungsverhalten bei Geschwistern 69 Die in bisherigen Studien aufgezeigten Geschlechtsunterschiede zum erinnerten elterlichen Erziehungsverhalten (Bronfenbrenner, 1993; Hermann, 1968, 1971; Lukesch & Tischler, 1975; Schumacher et al., 2000 a) konnten mit unseren Daten nicht bestätigt werden. Es wurde jedoch festgestellt, dass gleichgeschlechtliche Geschwisterpaare ihre Eltern ähnlicher beurteilten als gegengeschlechtliche. Bank & Kahn (1994) und Lüscher (1997) berichten übereinstimmend, dass bei gleichgeschlechtlichen Geschwistern der Zugang zu gemeinsamen Lebensereignissen gefördert würde und sich stärkere Kameradschaft, Intimität und Zuneigung zwischen den Geschwistern ausbilden würde. Dies könnte erklären, dass weniger das Geschlecht der Kinder von Bedeutung für das Erziehungsverhalten der Eltern ist als die Stärke der Beziehung zwischen den Geschwistern und die Ähnlichkeit der Geschwister in ihrem Verhalten. Dazu finden sich bei Boll et al. (2003) Befunde, dass die Beziehungsqualität der Geschwister kurvilinear mit dem retrospektiv wahrgenommenen elterlichen Erziehungsverhalten zusammenhängt. Im Zusammenhang des Erziehungsverhaltens mit den Merkmalen der Geschwisterkonstellationen - Geschwisterposition, Geschwisteranzahl, Altersdifferenz - zeigen sich wenige, aber deutliche Unterschiede. Der emotionalen Wärme der Eltern kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Unser Ergebnis, dass die emotionale Wärme und Zuneigung der Eltern mit zunehmender Zahl von Geschwistern in der Familie abnimmt, korrespondiert mit dem Befund von Richter et al. (1997). Elder beschreibt schon 1962, dass mit zunehmender Familiengröße bei beiden Eltern eher ein autokratischer Erziehungsstil zu finden ist. Es ist anzunehmen, dass mit steigender Kinderzahl sowohl die Mutter als auch der Vater belasteter sind und mehr unter Stress leiden. So können sie sich weniger intensiv und einfühlend um die einzelnen Kinder kümmern. Die Vermutung lag nahe, dass es sich hierbei um einen Sozialschicht-Effekt handelt. Die geringen, nicht signifikanten Korrelationen zwischen Bildung und Geschwisteranzahl bestätigten jedoch diese Annahme nicht. Die Ergebnisse legen dessen ungeachtet die Forderung nahe, vor allem kinderreiche Familien in einer warmen und somit protektiven Erziehung zu unterstützen. Die Altersdifferenz zwischen den von uns befragten Geschwistern hatte ebenfalls einen nennenswerten Einfluss auf das erinnerte elterliche Erziehungsverhalten. Dass Geschwisterpaare mit einem geringen Altersabstand ihre Eltern als emotional wärmer erlebten, könnte darauf zurückgeführt werden, dass diese Geschwister untereinander eine intensivere Bindung aufwiesen (Bank & Kahn, 1994; Lüscher, 1997; Toman, 1974; Sorrig & Martensen-Larsen, 1991) und das Klima innerhalb der Familie deshalb entspannter und einfühlsamer war. Allerdings berichteten Geschwister mit geringerem Altersabstand auch über eine größere Kontrolle und Überbehütung durch die Mutter als weiter auseinanderliegende Geschwister. Insbesondere die nachgewiesenen Unterschiede an wahrgenommener emotionaler Wärme und Zuneigung der Eltern sollten in Klinik und Forschung Beachtung finden. Denn in der klinisch-psychiatrischen Forschung wird ein erlebter Mangel an emotionaler Wärme der Eltern als ein bedeutsamer Risikofaktor für die Entstehung psychischer Störungen und Verhaltensauffälligkeiten im Erwachsenenalter betrachtet (z. B. Dick et al., 2005; Parker, 1984; Perris et al., 1986; Perris et al., 1994). Erwartungskonträr stellte sich der Befund dar, dass die Geschwisterposition keinen nennenswerten Einfluss auf das erinnerte elterliche Erziehungsverhalten hatte. Entgegen den bisherigen Forschungsergebnissen, dass Erstgeborene strenger und ängstlicher von ihren Eltern - insbesondere der Mutter - erzogen werden (Bank & Kahn, 1994; Hermann et al., 1971; Lüscher, 1997; Stapf et al., 1972), ergeben sich in unserer Untersuchung keine signifikanten Effekte. Insgesamt kann festgestellt werden, dass sich erwachsene Geschwister wenig übereinstimmend an das Erziehungsverhalten ihrer Eltern erinnern. Unseres Erachtens zählt das Erziehungsverhalten somit zu den nichtgeteilten Umwelteinflüssen im Sinne des Konzeptes „nonshared environment“ (Rowe & Plomin, 1981). 70 Katharina Kitze et al. Literatur Adler, A. (1976). Kindererziehung. Deutsche Erstausgabe. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Antonovsky A. (1983). The Sense of Coherence: Development of a research instrument. In: Schwartz WS: Research Center for Behavioral Medicine. Tel Aviv University: Newsletter and Research Reports, 1983; 1: 1 - 11. Antonovsky, A. (1997). Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: Dgvt Verlag. Bank, S. P. & Kahn, M. D. (1994). Geschwister-Bindung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Bedford, V. H. (1993). Geschwisterbeziehungen im Erwachsenenalter. In A. E. Auhagen & M. v. Salisch, Zwischenmenschliche Beziehungen (S.119 - 141). Göttingen: Hogrefe. Boll, T., Ferring, D., Filipp & S. H. (2003). 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