eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 54/1

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2007
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Akademisches Aufschiebeverhalten: Zusammenhang mit Erwartungs- und Wert-Variablen.

11
2007
Ruth Rustemeyer
Adly Rausch
Während neuere amerikanische Untersuchungen nahe legen, dass das Aufschiebeverhalten im Lern- und Leistungskontext zu bedeutsamen negativen Konsequenzen führt, gibt es bislang nur wenige deutsche Studien, die akademisches Aufschiebeverhalten (academic procrastination) untersucht haben. Aufschiebeverhalten kann entweder als konkretes, situationsspezifisches Verhalten oder als habituelle, situationsunspezifische Eigenschaft der Person konzipiert werden. Zur näheren Klärung der Bedingungsfaktoren des akademischen Aufschiebeverhaltens haben wir das Erwartungs- mal-Wert-Modell leistungsmotivierten Handelns von Eccles herangezogen, welches besagt, dass Erwartung und Wert das Leistungshandeln beeinflussen. Da akademisches Aufschiebeverhalten leistungsmotiviertes Handeln beeinflusst, sollten Erwartungsvariablen (Selbstkonzept, Zeitmanagement) und Wertvariablen (Wichtigkeit, Interesse, Prüfungsangst) einen signifikanten Zusammenhang mit dem Aufschiebeverhalten zeigen. Für das situationsspezifische Aufschiebeverhalten bestätigen hierarchische Regressionsanalysen eine hohe Vorhersagekraft der Erwartungs-und- Wert-Variablen sowie der Prüfungsangst. Das dispositionelle Aufschiebeverhalten zeigt einen Zusammenhang mit den beiden Erwartungsvariablen. Implikationen für Forschung und Praxis werden diskutiert.
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Academic Procrastination: Coherence of Expectancy-Value Variables Summary: While recent American research have suggested that procrastination in a learningand performance context leads to negative consequences, only few German studies, however, have been examining academic procrastination so far. Procrastination can either be seen as a situational behaviour or as a habitual. In order to clarify the coefficients of the academic procrastination which require each other, we have utilized Eccles’s expectancy-value model, which states that expectancy as well as value affect the act of performance. Since the academic procrastination has a great influence on actions that are performance-motivated expectancy-value (self-concept, time-management, importance, interest, testanxiety) variables ought to demonstrate the significant correlation between these actions and academic procrastination. Hierarchical regression analyses confirm a high potency of prediction of the expectancy-value variables as well as of the pressure to do well for the situational procrastination. The dispositional procrastination shows a connection with the two expectancy variables. Implications for both future research and practice are discussed. Keywords: Academic procrastination, trait, state, expectancy-value model, self-concept, test anxiety Zusammenfassung: Während neuere amerikanische Untersuchungen nahe legen, dass das Aufschiebeverhalten im Lern- und Leistungskontext zu bedeutsamen negativen Konsequenzen führt, gibt es bislang nur wenige deutsche Studien, die akademisches Aufschiebeverhalten (academic procrastination) untersucht haben. Aufschiebeverhalten kann entweder als konkretes, situationsspezifisches Verhalten oder als habituelle, situationsunspezifische Eigenschaft der Person konzipiert werden. Zur näheren Klärung der Bedingungsfaktoren des akademischen Aufschiebeverhaltens haben wir das Erwartungs-mal-Wert-Modell leistungsmotivierten Handelns von Eccles herangezogen, welches besagt, dass Erwartung und Wert das Leistungshandeln beeinflussen. Da akademisches Aufschiebeverhalten leistungsmotiviertes Handeln beeinflusst, sollten Erwartungsvariablen (Selbstkonzept, Zeitmanagement) und Wertvariablen (Wichtigkeit, Interesse, Prüfungsangst) einen signifikanten Zusammenhang mit dem Aufschiebeverhalten zeigen. Für das situationsspezifische Aufschiebeverhalten bestätigen hierarchische Regressionsanalysen eine hohe Vorhersagekraft der Erwartungs-und- Wert-Variablen sowie der Prüfungsangst. Das dispositionelle Aufschiebeverhalten zeigt einen Zusammenhang mit den beiden Erwartungsvariablen. Implikationen für Forschung und Praxis werden diskutiert. Schlüsselbegriffe: Akademisches Aufschiebeverhalten, trait, state, Erwartungs-mal-Wert-Modell, Selbstkonzept, Prüfungsangst ■ Empirische Arbeit Akademisches Aufschiebeverhalten: Zusammenhang mit Erwartungs- und Wert-Variablen Ruth Rustemeyer Adly Rausch Universität Koblenz-Landau, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg Campus Koblenz Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2007, 54, 47 - 58 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 48 Ruth Rustemeyer, Adly Rausch Das Aufschieben wichtiger Tätigkeiten ist ein bekanntes Phänomen und tritt z. B. vor Prüfungen, wichtigen Terminen oder wichtigen Entscheidungen auf. Obwohl festgelegte Termine im Alltag wie auch im Studium oder Beruf einzuhalten sind, führt gerade diese Situation bei vielen Personen dazu, dass sie Aufschiebeverhalten zeigen und sich damit selbst Schaden zufügen. Aufschiebeverhalten (auch procrastination) wird vor allem in Lern- und Leistungskontexten oft in die Nähe von fehlendem Ehrgeiz, Anstrengungsvermeidung oder Faulheit gerückt, d. h. es wird der Person ein motivationales Defizit zugeschrieben (Ferrari, Johnson & McCown, 1995). Trotz einer Vielzahl von Publikationen zu dieser Thematik im englischsprachigen Raum, die aber vor allem zur Kategorie der Ratgeber und Selbsthilfebücher gehören, gibt es erst seit kurzem eine systematische Forschung zu den Ursachen, zur Ausprägung und zu den Folgen des Aufschiebeverhaltens sowie zu verschiedenen Interventionsverfahren. Vor allem die beiden Bände von Ferrari, Johnson und McCown (1995) und Schouwenburg, Lay, Pychyl und Ferrari (2004) geben einen differenzierten Überblick über den aktuellen Stand der Diskussion. Viele empirische Arbeiten sind fast ausschließlich im akademischen Kontext durchgeführt worden (Schouwenburg et al., 2004) und werden als academic procrastination bezeichnet. Nach Solomon und Rothblum (1984, p. 503) kann academic procrastination definiert werden als „the act of needlessly delaying tasks to the point of experiencing subjective discomfort.“ Durch die Bezeichnung „nutzloses“ Aufschiebeverhalten wird angedeutet, dass nicht alle verzögerten oder späten Aufgabenbearbeitungen zwangsläufig als Aufschiebeverhalten bezeichnet werden müssen. Ob immer ein unangenehmes Gefühl bzw. ein subjektives Missbehagen (subjective discomfort) mit Aufschiebeverhalten einhergeht, wird von Schouwenburg (1995, p. 72) in Zweifel gezogen. Generell werden zwei Formen des Aufschiebeverhaltens unterschieden, zum einen das Aufschiebeverhalten als trait im Sinne eines relativ stabilen, überdauernden Persönlichkeitsmerkmals und das Aufschiebeverhalten als state, das sich in einer bestimmten Situation bzw. bei bestimmten Aufgaben als aufgabenspezifisches Vermeidungsverhalten zeigt (Schouwenburg, 2004, p. 4). Das habituelle oder chronische Aufschiebeverhalten wird von Ferrari et al. (1995, p. 47ff.) unter Rückgriff auf die gebräuchlichen Messinstrumente in Form von Selbstberichts-Skalen in die beiden Bereiche akademisches und alltägliches Aufschiebeverhalten unterteilt. Die Autoren verweisen darauf, dass Messinstrumente zum akademischen Aufschiebeverhalten, die vor allem an studentischen und für studentische Stichproben entwickelt und eingesetzt wurden, irrelevant bzw. ungeeignet sind für die Erforschung alltäglichen Aufschiebeverhaltens (Ferrari et al., 1995, p. 56). Zur Erfassung akademischen Aufschiebeverhaltens sind vor allem drei Skalen gebräuchlich: die Procrastination Assessment Scale-Students (PASS) von Solomon und Rothblum (1984), das Aitken Procrastination Inventory (API) von Aitken (1982) und die Procrastination Scale von Tuckman (1991). Der überwiegende Teil der Forschung richtet sich auf Aufschiebeverhalten als Persönlichkeitsmerkmal (trait), also die Tendenz der Person, in typischer Art und Weise auf unterschiedliche Situationen zu reagieren. Im Focus der Forschung stehen die negativen Konsequenzen und deren Bewältigung mit Hilfe verschiedener Interventionsverfahren, mit denen versucht wird, Defizite im Zeit- und Aufgabenmanagement der Person so zu modifizieren, dass das Aufschiebeverhalten in einem sozial akzeptablen Rahmen bleibt (Tuckman & Schouwenburg, 2004). Das situationsspezifische akademische Aufschiebeverhalten (state) kann sich in sehr unterschiedlicher Weise zeigen. Schouwenburg (1995, p. 82) nennt vier Komponenten, die eine Rolle spielen können: (a) das Herauszögern der Entscheidung des Studienbeginns, (b) das Aufschieben des tatsächlichen Studienbeginns, (c) eine Intentions-Verhaltensdiskrepanz oder (d) das Erledigen anderer Dinge als das Studieren. Je nach Fokussierung dieser verschiedenen Akademisches Aufschiebeverhalten 49 Komponenten entwickelten Schouwenburg und Mitarbeiter verschiedene Instrumente (vgl. Schouwenburg, 1995). Mit der Procrastination Checklist Study Tasks (PCS) soll die Intentions-Verhaltensdiskrepanz erfasst werden, das Academic Procrastination State Inventory (APSI) konzentriert sich auf das Erledigen anderer Dinge und der Study Problems Questionaire (SPQ) erfasst motivationsrelevante Studienprobleme, wobei jedoch das APSI und der SPQ in den Faktorenanalysen ähnliche Faktoren aufweisen. Beide Varianten des Aufschiebeverhaltens (trait und state) stehen in engem Zusammenhang mit motivationsrelevanten Variablen und wirken sich in Lern- und Leistungssituationen auf das Verhalten aus. In der Studie von Helmke und Schrader (2000) korrelieren beide Varianten des Aufschiebeverhaltens u. a. negativ mit Studieninteresse (trait r = -.42 und state r = -.45) und dem Selbstkonzept der Studierfähigkeit (trait r = -.44 und state r = -.36). Eine positive Korrelation tritt u. a. zur Hilflosigkeit auf (trait r = .47 und state r = .55), wobei alle Korrelationen auf dem .01-Niveau signifikant von Null verschieden sind. Für die vorliegende Untersuchung wurden zwei häufig verwendete Instrumente ausgewählt: Zur Erfassung des Aufschiebeverhaltens als Trait das Aitken Procrastination Inventory (API) von Aitken, 1982 (vgl. Ferrari, Johnson & McCown, 1995, p. 53) und zur Messung des Aufschiebeverhaltens als State das Academic Procrastination State Inventory (APSI) von Schouwenburg (1995), beide Instrumente liegen in deutscher Übersetzung vor (vgl. Helmke & Schrader, 2000). Der Fragebogen von Aitken (1982) misst Aufschiebeverhalten als habituelles Personenmerkmal und thematisiert allgemeine Verhaltensgewohnheiten in unterschiedlichen Situationen, während das situationsspezifische Aufschiebeverhalten (Schouwenburg, 1995) erfasst, wie häufig konkrete Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühle als Folge von Defiziten in der Handlungsplanung und -steuerung innerhalb eines kurzen Zeitraums von etwa einer Woche auftreten. Aufschiebeverhalten und motivational relevante Variablen Obwohl vermutet wird, dass das Aufschiebeverhalten in Lern- und Leistungssituationen im Zusammenhang steht mit dem Selbstkonzept (Helmke & Schrader, 2000; Lay, 2004, p. 46; Milgram, Marshevsky & Sadeh, 1995) und dem Interesse der Person (Helmke & Schrader, 2000), liegen dazu kaum empirische Daten vor. So vermuten Helmke und Schrader (2000), dass ein Aufschiebeverhalten im Studium bei denjenigen Studierenden auftritt, deren ungünstiges Selbstkonzept eigener Fähigkeit dazu führt, dass Handlungen erst unter Druck erfolgen, weil an den nötigen eigenen Fähigkeiten gezweifelt wird und die Person unsicher ist. Weiter nehmen die Autoren an, dass Prüfungsangst die aktuelle Auseinandersetzung mit Leistungsaufgaben hinauszögert oder sogar verhindert. Dass Persönlichkeitsmerkmale wie Angst, Depression, Pessimismus in engem Zusammenhang mit habituellem Aufschiebeverhalten stehen, wird in der Metaanalyse von van Eerde (2003) berichtet (vgl. zur Trait Anxiety auch Fritzsche, Young, Hickson, 2003). Weiter zeigt akademisches Aufschiebeverhalten einen korrelativen Zusammenhang zu Leistungen in bestimmten Fächern (Englisch r = -.62 und Mathematik r = -.61) (vgl. Schouwenburg, 2004, Tab. 2.2), zu speziellen Kursen (Schreibbzw. Online-Kurse) (Elvers, Polzella & Graetz, 2003; Fritzsche, Young, Hickson, 2003) oder zu schulischen und akademischen Prüfungsleistungen (Wesley, 1994). Bei Aufgaben, die als langweilig oder uninteressant eingeschätzt werden, tritt Aufschiebeverhalten eher auf, als bei interessanten, angenehmen Aufgaben (Pychyl, Lee, Thibodeau & Blunt, 2000). Deshalb bietet sich das Erwartungs-mal- Wert-Modell von Eccles (1983), vgl. auch Eccles und Wigfield (2002), das selbst wiederum in zentralen Annahmen auf das Modell von Atkinson (1957) zurückgeht, zur Vorhersage von Leistungshandeln als Erklärung für akademi- 50 Ruth Rustemeyer, Adly Rausch sches Aufschiebeverhalten an. In dem Modell werden kognitive sowie motivationale und emotionale Variablen berücksichtigt. Die Grundannahme besagt, dass sowohl die Erwartung als auch der subjektive Wert das Leistungshandeln beeinflussen. Je höher die Erwartung, einen Erfolg zu erzielen, und je höher der Wert für das angestrebte Ziel, desto wahrscheinlicher wird das Individuum eine entsprechende leistungsrelevante Aktivität zeigen. Eccles et al. (2002) nehmen an, dass Wahl und Ausdauer als leistungsrelevante Aktivitäten direkt vorhergesagt werden können. Da akademisches Aufschiebeverhalten leistungsmotiviertes Handeln behindert bzw. vereitelt, sollten Erwartungsals auch Wertvariablen einen signifikanten Zusammenhang mit dem Aufschiebeverhalten zeigen. Je niedriger die Erwartungs- und Wertvariablen ausgeprägt sind, desto eher sollte Aufschiebeverhalten auftreten. Nach Eccles et al. (2002) ist das Fähigkeitsselbstkonzept eine zentrale Erwartungsdeterminante. Insbesondere wenn das Fähigkeitskonzept domänspezifisch erfasst wird, zeigt es einen deutlichen Zusammenhang mit leistungsrelevantem Verhalten (wie z. B. die Kurswahl im Fach Mathematik; vgl. Köller, Daniels, Schnabel & Baumert, 2000). Als alternative Variable könnte auch Selbstwirksamkeit (self-efficacy) erfasst werden, die nach Helmke und Schrader (2000) signifikant negativ mit Aufschiebeverhalten korreliert. Bei Anwendung des Erwartungs-mal-Wert-Modells auf akademisches Aufschiebeverhalten wird Zeitmanagement als weitere Erwartungsvariable betrachtet, da die Fähigkeit, Prüfungsaufgaben nach einem strukturierten Zeitplan vorbereiten zu können, die Erfolgserwartung deutlich beeinflussen dürfte. Die Wertvariable ist nach dem Modell (vgl. Eccles & Wigfield, 2002) als subjektiver Aufgabenwert definiert, der anhand der drei Komponenten Anreiz, Wichtigkeit und Kosten operationalisiert wird. Die Anreizkomponente wird in der vorliegenden Studie erfasst über das studienbezogene Interesse, während die Komponente Wichtigkeit erfragt wird. Auch hier zeigt die Studie von Köller et al. (2000) einen Zusammenhang der Wertkomponente mit leistungsrelevantem Kurswahlverhalten. Das Merkmal Prüfungsangst könnte als Kostenfaktor definiert werden (vgl. Eccles & Wigfield, 2002; Wigfield & Eccles, 2000), soll jedoch in der vorliegenden Untersuchung neben den Wert- und Erwartungsvariablen als zusätzliche Variable betrachtet werden, da uns die empirische Basis für eine Zuordnung zur Wertkomponente recht viel versprechend, aber bislang noch empirisch unzureichend belegt erscheint. Hypothesen Wir konzentrieren uns in der vorliegenden Studie auf eine wichtige Prüfungssituation (Psychologieprüfung als Teilprüfung im Ersten Staatsexamen oder im Studiengang Diplompädagogik), die besonders geeignet ist, aktuelles Aufschiebeverhalten in der Vorbereitungsphase hervorzurufen. Aufgrund der dargestellten Forschungsergebnisse lassen sich folgende Untersuchungshypothesen formulieren: (1) Akademisches Aufschiebeverhalten (state und trait) zeigt einen korrelativen Zusammenhang zu motivationalen Variablen (Interesse, Wichtigkeit, Zeitmanagement, Selbstkonzept) und Persönlichkeitsvariablen (Prüfungsangst) sowie zur erwarteten und tatsächlichen Leistung (antizipierte und tatsächliche Note in Psychologie). Aufgrund der salienten Kontextinformationen (aktuelle Prüfungsvorbereitung) sollte der Zusammenhang für das situationsspezifische Aufschiebeverhalten (state) deutlicher ausfallen als für das dispositionelle Aufschiebeverhalten (trait). (2) Erwartungs- und Wertvariablen sollten in der Lage sein, situationales akademisches Aufschiebeverhalten vorherzusagen. Es wird angenommen, dass eine geringe Ausprägung der Erwartungsvariablen (Selbstkonzept eigener Studierfähigkeit, Zeitmanagement) wie auch der Wertvariablen (Interesse und Wichtigkeit) und eine hohe Prüfungsangst hohes situationales Aufschiebeverhalten vorhersagen. Akademisches Aufschiebeverhalten 51 Methode Stichprobe An der Untersuchung nahmen 147 Studierende des Lehramts und des Diplomstudienganges Pädagogik aus zwei Bundesländern (Rheinland-Pfalz und Baden- Württemberg) teil. Der Fragebogen wurde vor der mündlichen Psychologieprüfung an insgesamt 226 Prüfungskandidaten, z. B. in Informationsveranstaltungen zur Prüfungsvorbereitung verteilt. Die Rückgabe des Fragebogens erfolgte anonym, in der Regel innerhalb einer Woche nach Beendigung der Prüfung. Die Rücklaufquote betrug ca. 65 %; insgesamt lagen verwertbare Fragebögen von 121 Frauen und 26 Männern im Alter von durchschnittlich 24,5 Jahren (Standardabweichung: 0.30) vor. Die ungleiche Verteilung der Geschlechter entspricht ungefähr der realen Geschlechterverteilung bei den Studierenden, da im Lehramtsstudiengang für Grund- und Hauptschule über 80 % Frauen eingeschrieben sind. Die Beteiligung erfolgte auf freiwilliger Basis und ohne Bezahlung. Messinstrumente Zeitmanagement ist eine Subskala von LIST (Lernstrategien im Studium) von Wild und Schiefele (1994) und basiert auf dem MLSQ (Motivated Strategies for Learning Questionaire) von Pintrich, Smith, Garcia und McKeachie (1993). Die Items beziehen sich ausschließlich auf die Planung und Kontrolle der Arbeitszeit. Das Selbstkonzept der Studierfähigkeit wurde mit 9 Items einer Skala von Bargel, Multrus und Ramm (1996) erhoben. Das Studieninteresse (FSI) wurde mit einem Fragebogen von Schiefele, Krapp, Wild und Winteler Variable Instrument Beispielitems Interne Konsistenz Zeitmanagement 4 Items Beim Lernen halte ich mich an einen α = .78 bestimmten Zeitplan Antwortkategorie: nie (1) - immer (5) Selbstkonzept der 9 Items von Bargel et al. In welchem Maße schreiben Sie sich α = .61 Studierfähigkeit (1996); vgl. Helmke (1995), die folgenden Eigenschaften und Fragebogen zum Hoch- Fähigkeiten selbst zu? … schulprojekt QUALM „Fähigkeit, über längere Zeit intensiv und konzentriert zu arbeiten“ gar nicht (1) - voll und ganz (5) Studieninteresse 18 Items aus Schiefele, Nach einem langen Wochenende oder α = .93 Krapp, Wild & Winteler Urlaub freue ich mich wieder auf die (1993) Psychologie stimmt gar nicht (1) - stimmt genau (5) Prüfungsangst 30 Items aus Hodapp Teilskalen: a) Aufgeregtheit, b) Mangel α = .94 (1991), Test Anxiety an Zuversicht, c) Besorgnis, d) Inferenz Inventory mit 4 Teilskalen stimmt gar nicht (1) - stimmt genau (5) (a - d) Academic 23 Items aus Schouwen- Wie oft sind in der letzten Woche α = .84 Procrastination burg (1995), dt. Überfolgende Verhaltensweisen und State Inventory setzung vgl. Helmke & Gedanken bei Ihnen aufgetreten? (APSI) Schrader (2000) Sie sind/ haben … „sich von der Arbeit ablenken lassen“ niemals (1) - immer (5) Aitken 19 Items aus Aitken (1982), Ich zögere den Beginn von Aufgaben α = .88 Procrastination dt. Übersetzung vgl. bis zur letzten Minute hinaus Inventory (API) Helmke & Schrader (2000) trifft gar nicht zu(1) - trifft genau zu(5) Tabelle 1: Überblick über die Messinstrumente und interne Konsistenzen 52 Ruth Rustemeyer, Adly Rausch (1993) erfasst. Bei einigen Items erfolgte eine Anpassung an das Fach Psychologie. Prüfungsangst (TAI-G) wurde mit dem Prüfungsängstlichkeitsinventar von Hodapp (1991) ermittelt; dabei handelt es sich um eine leicht modifizierte Version von Spielbergs Test Anxiety Inventory. Der Fragebogen enthält vier Teilskalen: (a) Aufgeregtheit, (b) Mangel an Zuversicht, (c) Besorgnis und (d) Inferenz. Zur Erfassung der Wichtigkeit der angestrebten Prüfung in Psychologie wurde ein Item konstruiert: („Wie wichtig ist Ihnen die Prüfung im Fach Psychologie“, Skalierung: völlig unwichtig (1) bis sehr wichtig (5)). Bei den beiden Skalen zum Aufschiebeverhalten (state und trait) handelt es sich um die deutsche Übersetzung (vgl. Helmke & Schrader, 2000) des Academic Procrastination State Inventory (APSI) von Schouwenburg (1995) und des Aitken Procrasctination Inventory (API) von Aitken (1982). Für alle erhobenen Variablen erfolgte die Beantwortung jeweils auf fünffach abgestuften Likertskalen. Tabelle 1 zeigt alle eingesetzten Instrumente mit Angabe der Itemanzahl, Beispielitems und den internen Konsistenzen. Die Reliabilität der beiden verwendeten Skalen kann als gut bezeichnet werden; sie beträgt für die State-Skala Cronbachs Alpha = .84 und die Trait-Skala Cronbachs Alpha = .88 (vgl. Tab. 1). Eine Faktorenanalyse des APSI-State-Fragebogens mit Varimax-Rotation bei vorgegebener dreifaktorieller Lösung ergab eine Varianzaufklärung von insgesamt 45,76 % und konnte fast vollständig die drei Faktoren von Schouwenburg (1995, S. 88) replizieren. Die drei Faktoren klären jeweils 23,91 %, 13,06 % und 8,79 % der Varianz der rotierten Matrix auf. Der erste Faktor kann beschrieben werden als Procrastination im engeren Sinne (Verzögern, Aufschieben, Konzentrationsstörungen, Energiemangel). Der zweite Faktor wird als Misserfolgsangst und der dritte Faktor wird von Schouwenburg (1995) als Motivationsdefizit bezeichnet. Die Faktorenanalyse des API-Fragebogens (Aitken, 1982; vgl. Helmke & Schrader, 2000, S. 215) mit Varimax-Rotation bei vorgegebener dreifaktorieller Lösung ergab eine Varianzaufklärung von insgesamt 55,41 %. Der erste Faktor mit einer erklärten Varianz von 37,9 % enthält typische Merkmale des Aufschiebeverhaltens (das Hinauszögern von Tätigkeiten, sich leicht ablenken lassen, Schwierigkeiten, den Lernprozess überhaupt zu beginnen). Der zweite Faktor mit 10,51 % erklärter Varianz beinhaltet Items, die als mangelnde Vorausplanung charakterisiert werden können (Zeitreserve einplanen, Sachen bereitlegen, Bücher rechtzeitig zur Bibliothek zurückbringen und pünktlich zur Lehrveranstaltung kommen). Der dritte Faktor mit einer erklärten Varianz von 6, 99 % enthält Items, die Unpünktlichkeit als Ergebnis des Aufschiebens thematisieren. Auswertung Zur Überprüfung des Zusammenhangs zwischen dem Aufschiebeverhalten (trait und state) und den motivationalen Variablen sowie den Persönlichkeitsvariablen und den Noten wurden zunächst bivariate Korrelationen gerechnet (vgl. Tab. 2). Die Vorhersagekraft der Erwartungs- und Wertvariablen sowie der Leistungsangst (als Persönlichkeitsvariable) auf das situationsspezifische akademische Aufschiebeverhalten wurde mittels hierarchischer Regressionsanalysen überprüft. Als Prädiktor des Aufschiebeverhaltens wurden im ersten Schritt die beiden Erwartungsvariablen (Selbstkonzept und Zeitmanagement) gewählt. Die beiden Kriteriumsvariablen waren das akademische situationsspezifische und dispositionelle Aufschiebeverhalten. Im zweiten Schritt wurden die beiden Wertvariablen (Wichtigkeit und Interesse) als weitere Prädiktoren einbezogen und im dritten Schritt zusätzlich die Prüfungsangst. Anhand der Änderungen bezüglich der aufgeklärten Varianz (R 2 ) zeigt sich, ob die Erwartungs- und Wertvariablen und die Prüfungsangst in der Lage sind, situationsspezifisches und dispositionelles Aufschiebeverhalten vorherzusagen. Ergebnisse Hypothese 1: Die beiden Fragebögen zum Aufschiebeverhalten zeigen deutliche korrelative Zusammenhänge mit den Variablen Zeitmanagement, Selbstkonzept der Studierfähigkeit, Leistungsangst sowie Studieninteresse und Wichtigkeit der Prüfung. Es zeigen sich allerdings auch deutliche Unterschiede zwischen dem Aufschiebeverhalten als Persönlichkeitsmerkmal und als aktueller Zustand. Akademisches Aufschiebeverhalten 53 Das situationsspezifische akademische Aufschiebeverhalten korreliert signifikant mit allen Variablen mit Ausnahme der tatsächlichen Note. Hier ist nur eine Tendenz erkennbar, was vermutlich damit zusammenhängt, dass die Examensnoten nur wenig variieren. Das dispositionelle Aufschiebeverhalten dagegen korreliert hoch signifikant nur mit dem Selbstkonzept eigener Studierfähigkeit und dem Zeitmanagement. Außerdem zeigt sich ein Zusammenhang mit der tatsächlichen Leistung, nicht jedoch mit der Prüfungsangst. Für die untersuchte Stichprobe war das Aufschiebeverhalten als aktueller Zustand besonders salient, da der Fragebogen ausschließlich auf die konkrete Prüfungsvorbereitung für das Fach Psychologie im Rahmen der Ersten Staatsprüfung bzw. der mündlichen Diplomprüfung bezogen war. Sehr ausgeprägt ist der Zusammenhang zwischen der Angst vor der konkreten Prüfung und dem situationsspezifischen Aufschiebeverhalten. Dies wird sowohl von Schouwenburg (1995) als auch von Helmke und Schrader (2002) berichtet. Weiter zeigt sich, dass signifikante Zusammenhänge bestehen zwischen Aufschiebeverhalten und einem geringen Selbstkonzept der Studierfähigkeit und einem fehlenden Zeitmanagement. Aktuelles Aufschiebeverhalten ist weiter korreliert mit einem geringen Studieninteresse und einer gering eingeschätzten Wichtigkeit der Psychologieprüfung sowie einer erwarteten schlechteren Note. Hypothese 2: Der Einfluss von Erwartungs- und Wertvariablen sowie der Prüfungsangst auf das Aufschiebeverhalten wurde mittels hierarchischer Regressionsanalysen berechnet. Tabelle 3 zeigt die Ergebnisse. Für die Vorhersage des situativen Aufschiebeverhaltens erweisen sich die beiden Prädiktoren der Erwartungskomponente, das Selbstkonzept und Zeitmanagement, als bedeutsam, sie klären 18 % der Varianz auf. Durch die Hinzunahme der beiden Wertprädiktoren Wichtigkeit und Studieninteresse wird eine weitere Steigerung der aufgeklärten Varianz erreicht, wobei die Einflussgewichte der beiden Erwartungsvariablen weiter signifikant bleiben. Durch die Variable Prüfungsangst erhöht sich die Varianzaufklärung noch einmal erheblich um 26 %. Das Gesamtmodell klärt somit 48 % der Varianz des situationsspezifischen Aufschiebeverhaltens auf. Neben der Erwartungsvariablen Selbstkonzept hat vor allem die Prüfungsangst ein hohes Einflussgewicht. Damit wird deutlich, dass insbesondere ein gering ausgeprägtes Selbstkonzept eigener Studierfähigkeit und eine hohe Leistungsangst zusammen mit hohem situationalen Aufschiebeverhalten auftreten. Für das dispositionelle Aufschiebeverhalten ergeben sich ebenfalls signifikante Einflüsse der Variablen Selbstkonzept und Zeitmanagement. Der Anteil an erklärter Varianz beträgt 14 %. Dieser Anteil erhöht sich jedoch nicht mehr durch die Hinzunahme der Wertvariablen und der Prüfungsangst. Situationsspezifisch Persönlichkeitsmerkmal (state) (trait) Selbstkonzept der Studierfähigkeit -.37** -.27** Zeitmanagement -.24** -.31** Wichtigkeit der Prüfung -.24** -.15 Studieninteresse -.22** -.08 Prüfungsangst .59** .14 Erwartete Note .22** .16 Tatsächliche Note .15 .19* Tabelle 2: Korrelationen zwischen Aufschiebeverhalten (trait und state) und ausgewählten Skalen und Items Anmerkungen: * p < .05; ** p < .01 54 Ruth Rustemeyer, Adly Rausch Um auszuschließen, dass bestimmte Erwartungs- und Wertvariablen (insbesondere Zeitmanagement und Prüfungsangst) nur deshalb einen bedeutsamen Einfluss zeigen, weil die beiden Messinstrumente zum Aufschiebeverhalten (state und trait) Items enthalten, die bereits mit den Fragebögen Zeitmanagement und Prüfungsangst erfasst werden und somit partiell ein tautologischer Zusammenhang hergestellt wird 1 , wurden weitere Regressionsanalysen mit dem jeweiligen „reinen Procrastinationsfaktor“ (s. o. die Ergebnisse der Faktorenanalysen) gerechnet. Es zeigte sich jedoch, dass beim Aufschiebeverhalten (state) im 1. Schritt der hierarchischen Regressionsanalyse beide Erwartungsvariablen (Zeitmanagement und Selbstkonzept) hochsignifikant waren (Anteil der erklärten Varianz; R 2 = .167, p < .01), im 2. Schritt die Variablen Wichtigkeit und Interesse nicht signifikant waren (Veränderung im Anteil der erklärten Varianz, ∆ R 2 = .666, p = ns) und im 3. Schritt die Prüfungsangst wiederum hochsignifikant war ( ∆ R 2 = .096, p < .01). Folglich verliert die Variable Wichtigkeit ihren Einfluss, nicht jedoch, wie vermutet, die Variablen Zeitmanagement und Prüfungsangst. Auch für das Aufschiebeverhalten (trait) erbrachte die neue Verrechnung mit dem reinen Procrastinationsfaktor im 1. Schritt der hierarchischen Regressionsanalyse für beide Erwartungsvariablen hochsignifikante Ergebnisse (Anteil der erklärten Varianz; R 2 = .184, p < .01), im 2. und 3. Schritt traten, analog zu den Befunden in Tab. 3, keine signifikanten Veränderungen im Anteil der erklärten Varianz auf. Aufschiebe- Aufschiebeverhalten (state) verhalten (trait) Variable B SE B ββ B SE B ββ 1. Schritt Selbstkonzept -.394 .084 -.358** -.417 .129 -.251** Zeitmanagement -.110 .038 -.217** -.205 .059 -.269** R 2 = .179** R 2 = .139** 2. Schritt Selbstkonzept -.365 .087 -.331** -.449 .136 -.271** Zeitmanagement -.105 .038 -.207** -.197 .059 -.259** Wichtigkeit -.118 .052 -.194** -.142 .081 -.155 Interesse -.007 .054 -.011 -.106 .085 .115 ∆ R 2 = .039* ∆ R 2 = .020 3. Schritt Selbstkonzept -.174 .075 -.158** -.416 .144 -.251** Zeitmanagement -.113 .031 -.224** -.199 .059 -.261** Wichtigkeit -.115 .043 -.190** -.136 .082 -.148 Interesse .020 .071 .033 .182 .136 .198 Prüfungsangst .347 .042 .538** .063 .080 .065 ∆ R 2 = .264** ∆ R 2 = .007 Tabelle 3: Hierarchische Regressionsanalysen zur Vorhersage des Aufschiebeverhaltens (state) und (trait) bei Prüflingen Anmerkungen: B = Regressionskoeffizient; SE B = Standardfehler; β = standardisierter Regressionskoeffizient; R 2 = Anteil erklärter Varianz; ∆ R 2 = Veränderung im Anteil erklärter Varianz gegenüber dem vorherigen Schritt; * p < .05; ** p < .01. Akademisches Aufschiebeverhalten 55 Die Hypothesen haben sich somit weitgehend bestätigt. Es ergeben sich hinsichtlich des Aufschiebeverhaltens als aktueller Zustand wie erwartet zu allen Erwartungs- und Wertvariablen signifikante korrelative Zusammenhänge, während hinsichtlich des dispositionellen Aufschiebeverhaltens signifikante Zusammenhänge nur zu den beiden Erwartungsvariablen bestehen. Die beiden Erwartungsvariablen Selbstkonzept und Zeitmanagement sowie die Wertvariable Wichtigkeit haben eine hohe Erklärungskraft für das aktuelle Aufschiebeverhalten. Zusätzlich klärt die Prüfungsangst, die als Wertvariable aufgefasst werden kann, einen substanziellen Anteil an Varianz auf. Diskussion Aufschiebeverhalten in Leistungssituationen, das auch als eine spezielle Form von self-handicapping Verhalten (Wolters, 2004) interpretiert werden kann, ist bei Studierenden ein wohl bekanntes Phänomen, welches häufig damit gerechtfertigt wird, dass man vor allem unter (Zeit-)druck besonders schnell und effektiv arbeiten könne. Anders als in den USA ist Procrastination bei uns bislang kaum in den Fokus der wissenschaftlichen Forschung gelangt. Vor allem fehlt die theoretische Einbettung des Konstruktes academic procrastination in eine umfassende Theorie, in der die vielfältigen, zum Teil nur angenommenen, zum Teil empirisch bestätigten Zusammenhänge mit zentralen motivationsrelevanten Variablen wie Selbstkonzept, Zeitmanagement, Interesse und Leistungsangst schlüssig erklärt werden können (Helmke & Schrader, 2000). Die Befunde der vorliegenden Arbeit machen deutlich, dass akademisches Aufschiebeverhalten recht gut im Rahmen des Erwartungsmal-Wert-Modells von Eccles und Wigfield (2002) modelliert werden kann. Wenn zentrale Erwartungsvariablen wie das Selbstkonzept eigener Studierfähigkeit gering ausgeprägt sind und das Zeitmanagement ineffizient ist, wird die Beschäftigung mit Leistungsaufgaben hinausgezögert. Als besonders einflussreich stellt sich die Prüfungsangst dar, die nach Eccles und Wigfield (2002, p. 120) als Kostenfaktor im Erwartungs-mal-Wertmodell definiert werden kann. Kosten bezeichnen negative Aspekte, die bei der Aufgabenbeschäftigung auftreten können, wie der zu leistende Anstrengungsaufwand, oder hier in Form einer negativen Emotion, die überwunden werden muss, damit Leistungshandeln einsetzen und langfristig aufrechterhalten werden kann. Das Erwartungs-mal-Wert-Modell eignet sich auch deshalb besonders gut als Rahmenmodell, weil prognosekräftige Variablen anderer empirischer Studien wie Selbstwirksamkeit (self-efficacy) und Vermeidungsorientierung (work-avoidance orientation; vgl. Wolters, 2003) recht gut in das Modell integriert werden können. Es ist jedoch notwendig, dispositionelles und aktuelles Aufschiebeverhalten zu differenzieren, auch wenn beide Variablen korrelieren (r = .42, p < .01), s. auch Helmke und Schrader (2000). Die Korrelation verweist darauf, dass Personen, die habituell in unterschiedlichen Leistungssituationen dazu neigen, Dinge auf die „lange Bank zu schieben“, dies auch in einer aktuellen Prüfungssituation tun, allerdings unterscheiden sich die Bedingungen für die beiden Formen des Aufschiebeverhaltens. Im Kontext einer wichtigen Prüfung erweist sich insbesondere das situationsspezifische Aufschiebeverhalten als handlungsrelevant. Vor allem Prüflinge mit einem geringen Selbstkonzept eigener Studierfähigkeit und einer hohen Prüfungsangst neigen dazu, Tätigkeiten, die im Kontext einer anstehenden Prüfung notwendigerweise erfüllt werden müssen, aufzuschieben. Dispositionelles Aufschiebeverhalten steht dagegen nur mit Erwartungsvariablen wie Zeitmanagement und Selbstkonzept, jedoch nicht mit Wertvariablen und Prüfungsangst im Zusammenhang. In der Studie von Helmke und Schrader (2000) traten auch signifikante Korrelationen zwischen dem Persönlichkeitsmerkmal und den entsprechenden motivationalen Variablen und der Prüfungsangst auf. Jedoch fand anders als in der vorliegenden Stu- 56 Ruth Rustemeyer, Adly Rausch die die Befragung bei Helmke und Schrader nicht im Kontext einer aktuellen Prüfungsvorbereitung statt, sondern studienbegleitend. Das ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass der Befragungskontext sich auf die Kognitionen und Emotionen der Probanden auswirkt. Eine aktuelle Prüfungssituation regt offensichtlich andere selbstrelevante Selbstkognitionen an, als wenn Studierende ihr Lernverhalten ganz allgemein einschätzen. Die Kontextabhängigkeit selbstbezogenen Wissens ist aus der Selbstkonzeptforschung empirisch gut bestätigt (z. B. Hannover, 1997) und muss bei der Erfassung der beiden unterschiedlichen Konstrukte des akademischen Aufschiebeverhaltens und ihrer Interpretation berücksichtigt werden, um nicht zu voreiligen und damit fehlerhaften Schlussfolgerungen zu kommen. Die Ergebnisse der Regressionsanalysen belegen klar, dass in aktuellen leistungsrelevanten Situationen sowohl kognitive Einschätzungen als auch die emotionale Befindlichkeit das Aufschiebeverhalten begünstigen. Dies führt bei den Betroffenen zum Unterlassen einer langfristig angelegten Prüfungsstrategie und zeigt zugleich die möglichen Ansatzpunkte für fremd- oder eigengestützte Interventionen auf. Grundsätzlich gilt es, die Annäherungstendenz zu stärken und das Vermeidungsverhalten zu schwächen, um dadurch einen „Handlungsoptimismus“ (Asendorpf, 1999, S. 205) aufzubauen. Es wäre zu erwarten gewesen, dass sich das Aufschiebeverhalten auf die Prüfungsergebnisse auswirkt. Die Korrelationen (vgl. Tab. 2) zeigen jedoch nur einen geringen bzw. gar keinen Zusammenhang mit den Noten. Der vermutliche Grund für diesen unerwarteten Befund ist in der geringen Varianz der Examensnoten, die im Einser- und Zweierbereich liegen, zu sehen. Die Notenskala wird nur im Einser- und Zweierbereich ausgeschöpft (M = 1.97; SD = 0.60). Dass die Studierenden auch entsprechend gute Noten erwarten, belegt der Mittelwert für die erwartete Note (M = 2.28; SD = 0.39). Es wäre somit voreilig und auch inkonsistent zu anderen empirischen Befunden (z. B. Tice & Baumeister, 1997), aus dem fehlenden Zusammenhang zur Note den Schluss zu ziehen, dass das Aufschiebeverhalten keine Bedeutung für die Prüfungsleistung hat. Interventionsmöglichkeiten bieten sich hier vor allem in Richtung auf eine Änderung inadäquater Überzeugungen der Person an, da insbesondere für Leistungen im schulischen Bereich wiederholt gezeigt werden konnte, dass sich die Erwartungsvariable und hier vor allem ein geringes Begabungsselbstkonzept negativ auf Leistungsverhalten auswirkt (z. B. Rustemeyer & Fischer, 2005; Wigfield, 1994). Weiter konnte Wolters (2004) zeigen, dass in einem Unterrichtsklima, das als mastery-orientierter Unterricht bezeichnet werden kann, d. h. in dem die Aufgabenorientierung im Vordergrund steht und die Lernenden vor allem um die Sache bemüht sind, weniger leistungshinderndes Aufschiebeverhalten auftritt als in einem wettbewerbsorientierten Unterrichtsklima, in dem es vor allem darum geht, anderen zu demonstrieren, dass man besser ist als sie. Ebenso scheint die Anwendung bestimmter Schlüsselfähigkeiten selbst regulierten Lernens wie z. B. der Gebrauch metakognitiver Strategien nach Wolters (2003) vor Aufschiebeverhalten zu schützen. Andere Ansätze zielen sehr pragmatisch eher auf gezielte Anreize zur Änderung leistungshemmenden Verhaltens. Dabei steht die stärkere Strukturierung der Lernsituation im Vordergrund, die etwa durch den Einsatz häufigerer Tests (Tuckman, 1998), das Setzen von Teilzielen oder gegenseitige Vereinbarungen erzielt werden soll (Elvers, Polzella & Graetz, 2003). Neue Möglichkeiten ergeben sich inzwischen durch e-Learning-Verfahren, bei dem Studierende mit geringem Aufwand an bevorstehende Prüfungstermine erinnert werden können. Anmerkung 1 Diese weitere Überprüfung geht auf den Hinweis eines Gutachters zurück, für den wir uns bedanken. Die Vermutung, dass mit den beiden Messinstrumenten (Procrastination state und trait) und den gemessenen Variablen wie z. B. Prüfungsangst oder Zeitmanagement in der hierarchischen Regressionsanalyse partiell tautologische Befunde erzeugt werden, bestätigte sich jedoch nicht. Akademisches Aufschiebeverhalten 57 Literatur Aitken, M. (1982). A personality profile of the college student procrastination. Unpublished doctoral dissertation. University of Pittsburgh. Asendorpf, J. (1999). Psychologie der Persönlichkeit (2. Aufl.). Berlin: Springer. Atkinson, J. W. (1957). Motivational determinants of risktaking behaviour. Psychological Review, 64, 359 - 372. Bargel, T., Multrus, F. & Ramm, M. (1996). Studium und Studierende in den 90er Jahren. Entwicklung an Universitäten und Fachhochschulen in den alten und neuen Bundesländern. Duisburg: WAZ Druck. Eccles, J. S. (1983). Expectancies, values, and academic choice: Origins and changes. In J. Spence (Ed.), Achievement and achievement motivation (pp. 87 - 104). San Francisco: Freeman. Eccles, J. S. & Wigfield, A. (2002). Motivational beliefs, values and goals. 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Prof. Dr. Ruth Rustemeyer Institut für Psychologie Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz Universitätsstr. 1 D-56070 Koblenz Tel.: (02 61) 2 87-19 20 Fax: (02 61) 2 87-19 21 E-Mail: ruste@uni-koblenz.de Prof. Dr. Dr. Adly Rausch PH-Ludwigsburg Reuteallee 46 D-71634 Ludwigsburg Tel.: (0 71 41) 1 40-2 80 E-Mail: Adly.Rausch@ph-ludwigsburg.de