eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 54/1

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2007
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Die Theorie beruflicher Interessen von J. L. Holland in der Beratung: Überblick und aktuelle Entwicklungen

11
2007
René T. Proyer
Im vorliegenden Beitrag wird die Berufsinteressentheorie von Holland (1997) vor dem Hintergrund der psychologischen Beratung beschrieben. In der Theorie werden sechs berufliche Interessendimensionen (praktisch-technisch, intellektuell-forschend, künstlerisch, sozial, unternehmerisch und konventionell) unterschieden („RIASEC“-Modell). Es werden Neuentwicklungen beschrieben, die sich einerseits auf die Diagnostik beruflicher Interessen, andererseits auf Erweiterungen des Modells selbst beziehen. Neben Interessenfragebogen wird auch auf nonverbale Tests sowie Objektive Persönlichkeitstests eingegangen. Bei gängigen Interessentests, die auf diesem Modell aufbauen, wird anhand von Berufsregistern die Kongruenz der Interessenstruktur des Klienten mit einem bestimmten Beruf in einem dreistelligen Code (nach den höchsten Ausprägungen im Interessenprofil) rückgemeldet. Eine theoretische Neuentwicklung ist die Überlegung, nicht nur die Übereinstimmung mit bestimmten Berufen, sondern mit beruflichen Tätigkeiten rückzumelden. Die Vorgehensweise dabei wird beschrieben. Abschließend wird eine zusammenfassende Betrachtung von Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes der Theorie in der psychologischen Beratung gegeben.
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The Theory of Vocational Interests by J. L. Holland in Counseling Settings: Overview and New Developments Summary: The present paper describes the theory of vocational interests by J. L. Holland (1997) with respect to psychological counseling. Holland’s theory of vocational interests differentiates between six vocational interest dimensions (Realistic, Investigative, Artistic, Social, Enterprising, and Conventional; “RIASEC-model”). Recent developments with respect to the assessment of vocational interests and regarding further theoretical developments of the model are described. Additionally to interest questionnaires, nonverbal tests and objective personality tests are discussed as well. Popular interest inventories that are based on this model provide code-lists that can be used to describe the congruency of the client’s interest structure with a specific vocation in a three-letter code (according to the highest scores). A new theoretical development is to give feedback not only congruency with occupations but as well on the congruency of the interest profile with vocational activities. This approach is described in detail. Concluding, a recapitulating reflection on drawbacks and opportunities of the use of the theory in psychological counseling is given. Keywords: RIASEC-model, assessment of vocational interests, occupational codes, occupational activities codes Zusammenfassung: Im vorliegenden Beitrag wird die Berufsinteressentheorie von Holland (1997) vor dem Hintergrund der psychologischen Beratung beschrieben. In der Theorie werden sechs berufliche Interessendimensionen (praktisch-technisch, intellektuell-forschend, künstlerisch, sozial, unternehmerisch und konventionell) unterschieden („RIASEC“-Modell). Es werden Neuentwicklungen beschrieben, die sich einerseits auf die Diagnostik beruflicher Interessen, andererseits auf Erweiterungen des Modells selbst beziehen. Neben Interessenfragebogen wird auch auf nonverbale Tests sowie Objektive Persönlichkeitstests eingegangen. Bei gängigen Interessentests, die auf diesem Modell aufbauen, wird anhand von Berufsregistern die Kongruenz der Interessenstruktur des Klienten mit einem bestimmten Beruf in einem dreistelligen Code (nach den höchsten Ausprägungen im Interessenprofil) rückgemeldet. Eine theoretische Neuentwicklung ist die Überlegung, nicht nur die Übereinstimmung mit bestimmten Berufen, sondern mit beruflichen Tätigkeiten rückzumelden. Die Vorgehensweise dabei wird beschrieben. Abschließend wird eine zusammenfassende Betrachtung von Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes der Theorie in der psychologischen Beratung gegeben. Schlüsselbegriffe: RIASEC-Modell, Diagnostik beruflicher Interessen, Berufsregister, Tätigkeitsregister ■ Forum Die Theorie beruflicher Interessen von J. L. Holland in der Beratung: Überblick und aktuelle Entwicklungen René T. Proyer Universität Zürich Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2007, 54, 71 - 77 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel 72 René T. Proyer Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine Vorstellung und Diskussion der Berufsinteressentheorie von J. L. Holland (1997; s. a. Rolfs, 2001) im Kontext psychologischer Beratung. Die Theorie nimmt sowohl in der Forschung als auch in der Praxis eine zentrale Stellung ein (vgl. Rayman & Atanasoff, 1999), wenn es darum geht, die Interessenstruktur eines Klienten zu beschreiben. Darüber hinaus hat sie zahlreiche kreative Neuentwicklungen im Bereich der Testkonstruktion, aber auch auf theoretischer Ebene, angeregt. Als interessante Entwicklungen der letzten Zeit sind eine Reihe von im englischsprachigen Raum gut etablierten Verfahren für den deutschen Sprachraum adaptiert sowie einige Neuentwicklungen aus dem deutschsprachigen Raum vorgestellt worden. In der Theorie Hollands werden Interessen als Ausdruck der Persönlichkeit verstanden. Interessentests, die sich auf diese Theorie beziehen, sind nach Hollands Definition Persönlichkeitstests. In der Theorie werden sechs Interessenrichtungen (und sechs berufliche Umwelten; s. z. B. Gottfredson & Richards, 1999) unterschieden, die zur Beschreibung von Berufen und beruflichen Umwelten herangezogen werden können. Dabei handelt es sich um praktisch-technische (realistic), intellektuell-forschende (investigative), künstlerisch-sprachliche (artistic), soziale (social), unternehmerische (enterprising) und konventionelle (conventional) Interessen („RIASEC-Modell“). In der Theorie werden auch strukturelle Annahmen über die Beziehung der Interessenrichtungen zueinander getroffen. Holland geht in seiner Konzeption davon aus, dass die RIASEC-Interessenrichtungen in einer hexagonalen Struktur angeordnet sind und dass aus dieser Anordnung Aussagen über die Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit der einzelnen Interessenrichtungen zueinander getroffen werden können. So sollten Interessen, die im Hexagon nebeneinander liegen (z. B. R und I, oder A und S) ähnlicher sein als solche, die an übernächster Stelle gelegen sind (z. B. R und A oder S und C), diese wiederum sollten einander ähnlicher sein als an gegenüberliegender Stelle gelegene (R und S, I und E sowie A und C). Inhaltlich bedeutet die Ähnlichkeit, dass nebeneinanderliegende Typen konsistente, gegenüberliegende allerdings inkonsistente Interessen und Umweltanforderungen aufweisen (vgl. Bergmann & Eder, 2005; Holland, 1997). Anhand der Konsistenz eines Profils können Aussagen darüber abgeleitet werden, ob Interessendimensionen mit ähnlicher oder unähnlicher Ausrichtung gleich ausgeprägt sind. Neben dieser hexagonalen Anordnung wird in der Literatur auch ein hierarchischer Aufbau beschrieben (Gati, 1991; s. a. Tracey & Rounds, 1993). Tracey und Rounds (1995) diskutieren, ob die Festlegung, wie viele Interessendimensionen anzunehmen sind, nicht eher als Konvention verstanden werden sollte. Prediger (1982; s. a. Rounds & Tracey, 1993) schlägt eine Erweiterung des Modells durch zwei allgemeine Dimensionen „people“ vs. „things“ (interpersonelle vs. nicht-personenbezogene Tätigkeiten) sowie „data“ vs. „ideas“ (Tätigkeiten, die nicht dem direkten, persönlichen Kontakt mit anderen Menschen bedürfen vs. intrapersonelle Prozesse) vor. Weitere Modellannahmen In Hollands Theorie werden eine Reihe von Nebenannahmen getroffen. Diese beziehen sich auf Konzepte wie Kongruenz (Wie gut passt das Interessenprofil zur beruflichen Umwelt? ), Konsistenz (Sind zueinander passende Interessenrichtungen ähnlich ausgeprägt? ; s. o), Differenziertheit (Gibt es klar definierte Interessenschwerpunkte oder sind alle Interessenrichtungen ähnlich ausgeprägt? ) oder die (berufliche) Identität (Wie klar sind die Vorstellungen des Klienten über seine berufliche Zukunft? ). Da den sechs Interessenrichtungen auch sechs Umwelttypen entsprechen, kann in der Beratung über die Bestimmung so genannter Kongruenzindices (häufig eingesetzt werden der Zener-Schnuelle-Index oder der Iachan-Index; einen Überblick geben Brown & Gore, 1994) gezeigt werden, wie gut Personen- und Umwelttyp übereinstimmen. Bei Bergmann und Eder (2005; s. u.) kann dies durch Kombination Theorie beruflicher Interessen von J. L. Holland 73 eines Interessen-Struktur-Tests mit einem Umwelt-Struktur-Test standardmäßig durchgeführt werden. In der Literatur werden die Auswirkungen von kongruenter bzw. inkongruenter Berufswahl diskutiert und dabei häufig Zusammenhänge zur Arbeits- oder Lebenszufriedenheit sowie anderen Faktoren, wie Berufs- und Berufswahlzufriedenheit, Berufsbzw. Studienerfolg oder auch zum Einsatz bestimmter Lernstrategien (z. B. Rolfs & Schuler, 2002), hergestellt. Einen Überblick über Arbeiten zur Kongruenz geben Spokane, Meir und Catalano (2000; s. a. Rolfs, 2001). Im Konzept der Differenziertheit werden in Abhängigkeit davon, ob ein eher flaches (alle Interessenrichtungen sind in etwa gleich ausgeprägt) oder klar akzentuiertes (einzelne Interessenrichtungen weisen überdurchschnittliche Ausprägungen auf) Profil vorliegt, Rückschlüsse auf Beratungsbedarf abgeleitet. Auf das Profil abgestimmte Interventionen, wie etwa die Steigerung des Grades der Informiertheit über bestimmte Berufe oder berufliche Tätigkeiten, können abgeleitet werden. Mit dem Konzept der Identität soll eine Möglichkeit gegeben werden, auszudrücken, ob und inwieweit eine Person klare Vorstellungen über eigene berufliche Ziele, Interessen und Wertvorstellungen sowie Fähigkeiten hat. Das bedeutet, dass Personen mit gut ausgeprägter beruflicher Identität leichter Berufswahlentscheidungen treffen können als andere Personen. Das Konzept der Identität aus der Theorie Hollands ist bislang vergleichsweise wenig untersucht, wobei Studien berichtet werden, in denen das Konzept mit allgemeinem psychologischem Wohlbefinden in Zusammenhang gebracht wird (vgl. Holland, Johnston & Asama, 1993). Erfassung beruflicher Interessen auf Basis der Berufsinteressentheorie Hollands Im deutschen Sprachraum stehen mit dem Allgemeinen-Interessen-Struktur-Test/ Umwelt- Struktur-Test-Revision (AIST-R/ UST-R; Bergmann & Eder, 2005), Explorix (Jörin, Stoll, Bergmann & Eder, 2003; s. a. Jörin, 2001) sowie dem Foto-Interessen-Test (F-I-T 2006; Stoll, Jungo & Toggweiler, 2006; s. a. Toggweiler, Jungo & Stoll, 2004) drei Verfahren zur Verfügung, die sich auf die Theorie Hollands beziehen. Ein Verfahren zur Erfassung von Freizeit-Interessen nach der Holland-Systematik hat Stangl (1991) vorgelegt. Eine vertiefende Darstellung deutschsprachiger Instrumente, die sich auf Hollands Theorie beziehen, gibt Joerin Fux (2006). Der 2005 in neuer Auflage erschienene Allgemeine-Interessen-Struktur-Test mit Umwelt-Struktur-Test stellt das Standardverfahren zur Erfassung beruflicher Interessen gestützt auf Hollands Theorie dar. Hier müssen 60 Fragen (je zehn pro Interessenrichtung) fünffach abgestuft (von „Das interessiert mich sehr; das tue ich sehr gerne“ bis „Das interessiert mich gar nicht; das tue ich nicht gerne“) bearbeitet werden. Im Umwelt-Struktur-Test (s. Ausführungen zur Kongruenz) werden dieselben Fragen nochmals gestellt. Diese sind allerdings durch die Testperson dahingehend zu beantworten, ob die angesprochene Tätigkeit in einem/ r vorher festzulegenden Beruf bzw. Ausbildung wichtig ist (von „sehr wichtig [darauf kann man sich sehr gut vorbereiten]“ bis „nicht wichtig [darauf kann man sich nur schlecht vorbereiten]“). Gewiss sind Explorix‚ als deutschsprachige Adaption und Weiterentwicklung der Self-directed Search von Holland (1994), sowie Explojob (Jörin & Stoll, 2006), als deutschsprachige Adaption und Weiterentwicklung des Position Classification Inventories (Gottfredson & Holland, 1991), hervorzuheben. Explorix nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als hier die komplette Testadministration samt Auswertung und Interpretation durch den Klienten selbst vorgenommen werden kann. Da die selbstständige Interpretation unter Umständen noch Fragen offen lässt, wird im dazugehörigen Handbuch darauf hingewiesen, dass Klienten bei weiterführenden Fragen entsprechende Beratungseinrichtungen aufsuchen sollen. Neuentwicklungen auf Ebene der psychologischen Diagnostik beziehen sich auf die Entwicklung alternativer Methoden zur Erfassung 74 René T. Proyer beruflicher Interessen. Der bereits erwähnte Foto-Interessen-Test (F-I-T Serie 2006; Stoll, Jungo & Toggweiler, 2006) ist ein nonverbaler Interessentest, bei dem es Aufgabe der Testperson ist, 131 Fotos, die Personen bei der Ausübung beruflicher Tätigkeiten zeigen, nach den Kategorien +/ 0/ - (Tätigkeiten, die einen ansprechen/ Tätigkeiten, die einen weder speziell interessieren noch abstoßen/ Tätigkeiten, die einen eher abstoßen) zu ordnen. Die Auswertung kann im Sinne der Hollandschen Theorie, aber auch nach den Berufsinteressenfeldern von Egloff (2005) erfolgen. Eine übersichtliche Darstellung findet sich bei Toggweiler, Jungo und Stoll (2004). Weiter hat Proyer (2006 a) einen nonverbalen Interessentest vorgestellt, der computerisiert administriert werden kann. Im Gegensatz zum F-I-T wird hier nicht mit Fotos realer Personen gearbeitet, sondern mit handgezeichneten Figuren, die ebenfalls Personen bei der Ausübung beruflicher Tätigkeiten darstellen. Darüber hinaus zeigen die Figuren keine Mimik und sind gleich gestaltet, sodass alle Figuren als gleichermaßen attraktiv, sympathisch, glücklich usw. wahrgenommen werden können. Die nonverbale Interessenmessung scheint vor allem bei der Arbeit mit Migranten sowie Personen mit geringer sprachlicher Kompetenz Vorteile aufzuweisen. Darüber hinaus wurden kürzlich von Proyer (2006 ab) Objektive Persönlichkeitstests zur Erfassung beruflicher Interessen vorgestellt. Bei Objektiven Persönlichkeitstests handelt es sich um Verfahren, die es ermöglichen sollen, durch die Beobachtung des Verhaltens der Testperson bei der Bearbeitung von Leistungstests oder leistungstestähnlichen Aufgaben Rückschlüsse auf Persönlichkeitseigenschaften (hier: berufliche Interessen) zu ziehen, ohne dass sich die Person selbst beschreiben muss (vgl. Ortner, Proyer & Kubinger, 2006; Schmidt, 1975). Ein besonderer Vorteil dieser Verfahren ist, dass sie nicht, oder jedenfalls in einem wesentlich geringeren Ausmaß als herkömmliche Fragebogen, verfälschbar sind. Dies wird entweder durch eine besondere Wahl der Aufgabenstellungen oder durch bestimmte Verrechnungsmethoden erreicht. Einflüsse, die bei der Bearbeitung von Fragebogen im Sinne sozial erwünschten Antwortverhaltens entstehen (z. B. weil man die Erwartungen von Eltern oder wichtigen Peers erfüllen möchte), Angaben aufgrund falscher Informationen oder Vorstellungen über Berufe sowie bestimmte Berufsfelder, können hier ausgeschlossen werden. In der Kombination verschiedener diagnostischer Strategien (der Kombination von Fragebogen, nonverbalen Tests und Objektiven Persönlichkeitstests) kann eine Chance für die Berufsberatung gesehen werden, da jede der Methoden die Möglichkeit bietet, Informationen zu sammeln, die auf andere Weise nicht verfügbar wären. Weitere Entwicklungen Nicht nur auf Ebene der Entwicklung neuer Verfahren zur Erfassung beruflicher Interessen, sondern auch auf praktischer Ebene werden bei der Arbeit mit Hollands Theorie Weiterentwicklungen vorgenommen. Die Interessenstruktur eines Klienten wird im Allgemeinen in einem dreistelligen Code, entsprechend der drei höchsten Ausprägungen (in absteigender Reihenfolge; also z. B. RSE oder ECI) beschrieben. Es stehen Berufsregister zur Verfügung, wo die Berufe entweder alphabetisch oder nach den Kodierungen geordnet aufgelistet sind; der Kombination RSE entsprechen u. a. die Berufe Landwirt/ in, Tierpfleger/ in oder Umweltberater/ in oder der Kodierung ECI entsprechen u. a. die Berufe Anlageberater/ in, Exportleiter/ in oder Wirtschaftsjurist/ in (Kodierungen aus dem Explorix-Berufsregister). Als besonderer Vorteil wird dabei gesehen, dass die Interessenstruktur des Klienten in Berufsregistern mit der Struktur, die sich typischerweise bei bestimmten Berufen findet (durch Experten kodiert), verglichen werden kann. Auf diese Weise kann dem Klienten eine Rückmeldung über Kongruenz bzw. Inkongruenz seiner Interessenstruktur mit der eines bestimmten Berufs gegeben werden. Verglichen mit der Anzahl an Kodierungen aus dem Dic- Theorie beruflicher Interessen von J. L. Holland 75 tionary of Holland Occupational Codes (Gottfredson & Holland, 1996) sowie den zusätzlichen Informationen aus dem Educational Opportunities Finder (Rosen, Holmberg & Holland, 1994), die im englischsprachigen Raum zur Verfügung stehen, scheint die Anzahl kodierter Berufe in deutschsprachigen Berufslisten allerdings eher gering. Bei Proyer (2006 a) wird der Versuch beschrieben, nicht nur Berufe, sondern berufliche Tätigkeiten zu kodieren. Dadurch soll es möglich sein, in der Berufsberatung flexibler auf spezielle berufliche Vorstellungen des Klienten einzugehen bzw. Berufe besser auszudifferenzieren. Das heißt, zusätzlich zur Rückmeldung von mit der Interessenstruktur kongruenten Berufen soll dadurch die Möglichkeit gegeben werden, auch kongruente berufliche Tätigkeiten rückmelden zu können. Die Tätigkeiten wurden von drei unabhängig arbeitenden Experten, die mit Hollands Modell in Theorie und Praxis gut vertraut waren, kodiert. Insgesamt wurden aus verschiedensten Quellen wie Berufslexika, Arbeitsplatzbeschreibungen sowie dem Duden berufsbezogene Tätigkeiten zusammengestellt. Insgesamt wurden auf diese Weise 888 berufliche Tätigkeiten in einer Liste zusammengefasst. Wie sich zeigte, wurde bei lediglich 14 von 888 Fällen (rd. 1.6 %) eine Übereinstimmung zwischen allen drei Experten erzielt. Auffällig ist jedoch, dass sich häufig zumindest ähnliche Kodierungen fanden. Zur Bestimmung der Kongruenz zwischen Person und Umwelt stehen verschiedene Indices zur Verfügung. In Analogie zu dieser Vorgehensweise kann hier die Kongruenz zwischen den Codes, die die einzelnen Experten vergeben haben, anhand des Zener-Schnuelle-Index (ZS) bestimmt werden. Dieser kann Werte zwischen 0 (keine Übereinstimmung) und 6 (absolute Übereinstimmung) annehmen; im Allgemeinen spricht man ab einem Wert von 3 von einer guten Übereinstimmung von Person und Umwelt. In Tabelle 1 werden die Kongruenzwerte zwischen je zwei Experten zusammengestellt (die Beschreibung der Kongruenzwerte in der Anmerkung wird von jener bei Bergmann & Eder [2005] übernommen). Z-S E1 - E2 % E2 - E3 % E1 - E3 % p 6 110 12.4 92 10.4 44 5.0 .8 5 260 29.3 277 31.2 316 35.6 2.5 4 86 9.7 100 11.3 59 6.6 4.2 3 248 27.9 213 24.0 264 29.7 12.5 2 79 8.9 82 9.2 104 11.7 17.5 1 56 6.3 56 6.3 41 4.6 32.5 0 49 5.5 68 7.7 60 6.8 30.0 Tabelle 1: Zener-Schnuelle-Index zur Einschätzung von drei Experten zu 888 beruflichen Tätigkeiten nach der Holland-Systematik Anmerkung: Z-S = Zener-Schnuelle; 6 = vollständige Übereinstimmung in den Kodierungen der Experten; 5 = die Experten stimmen in den ersten beiden Buchstaben ihrer Kodierungen überein; 4 = die ersten drei Buchstaben in den Kodierungen entsprechen einander, die Reihenfolge stimmt jedoch nicht überein; 3 = die Experten stimmen im ersten Buchstaben in ihren Kodierungen überein; 2 = die ersten beiden Buchstaben eines Codes stimmen mit zwei Buchstaben des anderen Codes überein; 1 = der erste Buchstabe eines Codes entspricht einem Buchstaben im anderen Code; 0 = der erste Buchstabe jedes Codes ist nicht im anderen Code enthalten; E1 = Experte 1; E2 = Experte 2; E3 = Experte 3; p = Zufallswahrscheinlichkeit (Diese Spalte ist wie folgt zu lesen: Die Wahrscheinlichkeit, per Zufall eine völlige Übereinstimmung in der Kodierung eines dreistelligen Codes zu erzielen beträgt .8 %; die Wahrscheinlichkeit, per Zufall eine Übereinstimmung in den ersten beiden Buchstaben zu erzielen, beträgt 2.5 % usw. Weiter beträgt die Wahrscheinlichkeit, per Zufall in den ersten beiden oder allen drei Kodierungen übereinzustimmen, 3.3 %) 76 René T. Proyer In Tabelle 1 ist ersichtlich, dass die Experten in 76.9 % bis 79.3 % der Fälle Kongruenzwerte ZS > 3 erreichen. Per Zufall kommen Werte > 3 in 20 % der Fälle vor, sodass die Übereinstimmung der Experten also nicht durch den Zufall erklärt werden kann. Auffällig ist weiter, dass sich für den Kongruenzwert ZS = 6 Unterschiede zwischen den Beurteilerpaaren finden. Während Experte 1 und 2 bzw. 2 und 3 in jeweils über 10 % der Fälle einen solchen Wert erreichen, sind es bei Experte 1 und 3 nur 5 %. Ingesamt kann festgehalten werden, dass die Experten in etwa der Hälfte aller Fälle zumindest ähnliche Kodierungen vorgenommen haben. Hier zeigt sich, dass die Liste beruflicher Tätigkeiten im augenblicklichen Entwicklungsstand als Ausgangpunkt für weitere Forschungsprojekte gesehen werden kann und derzeit eher als zusätzliche Orientierung für Berufsberater verstanden werden kann. Zu diskutieren ist jedenfalls die Frage, ob eine dreistellige Kodierung für alle Tätigkeiten erforderlich ist. Eine berufliche Tätigkeit kann unter Umständen bereits durch eine zweistellige Kodierung vollständig definiert sein. Der Leisure Activities Finder (Holmberg, Rosen & Holland, 1991) beispielsweise weist nur zweistellige Kodierungen für Freizeitaktivitäten auf. Somit ergibt sich daraus ein Anknüpfungspunkt für zukünftige Forschungsbemühungen. Festzuhalten ist weiter, dass die Kodierungen von drei Experten zu wenig sind, um endgültige Aussagen treffen zu können. Aufbauend auf den bisherigen Ergebnissen müssen dazu weitere Experteneinschätzungen eingeholt werden. Zukünftige Forschungsbemühungen werden zeigen, ob die Liste beruflicher Tätigkeiten praxisrelevant ist bzw. welche der beschriebenen Tätigkeiten für Ratsuchende hilfreiche Stützen sein können und welche überarbeitet oder gestrichen werden müssen. Letztlich ist wohl auch der Anspruch, eine dreistellige Kodierung für jede der beruflichen Tätigkeiten zu bestimmen, zu hinterfragen. In Folgeuntersuchungen sollte daher geprüft werden, ob man bei einzelnen Tätigkeiten nicht auch mit einer zweistelligen bzw. vielleicht sogar mit einer einstelligen Kodierung das Auslangen findet. Abschluss Wie gezeigt wurde, gibt es eine Reihe interessanter Neuentwicklungen, die in Zusammenhang mit der Berufsinteressentheorie von Holland stehen. Alle können einen Beitrag leisten, den Beratungsprozess anzureichern und besser auf die Bedürfnisse der Klienten anzupassen. Hollands Theorie bietet dafür eine geeignete Grundlage, die auch in Zukunft Forschung auf theoretischer wie auch auf praktischer Ebene anregen wird. Danksagung Die Arbeit an diesem Manuskript wurde durch die Bildungsberatung der Arbeiterkammer Wien unterstützt. Herrn lic. phil. Stephan Toggweiler danke ich für die Durchsicht einer früheren Fassung des Manuskripts. Literatur Bergmann, C. & Eder, F. (2005). Allgemeiner Interessen- Struktur-Test/ Umwelt-Struktur-Test-Revision (AIST- R/ UST-R) (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Brown, S. D. & Gore, P. A. (1994). An evaluation of interest congruency indices - Distribution characteristics and measurement properties. Journal of Vocational Behavior, 45, 310 - 327. Egloff, E. (2005). Berufswahltagebuch. Buchs, CH: Lehrmittelverlag des Kantons Aargau. Gati, I. (1991). The structure of vocational interests. Psychological Bulletin, 109, 209 - 324. Gottfredson, G. D. & Holland, J. L. (1991). Position Classification Inventory. 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