eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 55/1

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2008
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Studentische Schülerberatung - Evaluation einer Praxisforschung

11
2008
Klaus Helmken
Dieser Artikel erörtert anhand einer Evaluationsstudie die Möglichkeiten eines alternativen Beratungskonzeptes, in dem Studenten Schüler beraten. Die Beratungen werden vormittags innerhalb des Schulgebäudes angeboten und von Psychologiestudenten im höheren Semester durchgeführt. Sonst gibt es hinsichtlich der Beratungen keine formalen oder inhaltlichen Vorgaben, sodass die Hemmschwelle für die Schüler niedrig gehalten wird. Die Studie kommt zu einem positiven Ergebnis: Das Beratungskonzept wird von vielen Schülern für nützlich gehalten, wobei die Häufigkeit der Nutzung nicht von Geschlecht, Schulform oder Nationalität abhängt. Defizite bisheriger Schulberatungsangebote, wie lange Wartezeiten, unfreiwillige Beratungen oder eine nur geringe Akzeptanz der Beratenden durch die Schüler, können durch das Konzept der studentischen Schülerberatung vermieden werden.
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Studentische Schülerberatung - Evaluation einer Praxisforschung 1 Klaus Helmken Universität Bremen Students Counsel Pupils - An Evaluation of a Research in Practice Summary: On the basis of an evaluation study, this paper reports on an alternative counselling concept offered to pupils by students. Counselling sessions were offered on the school premises in the morning hours, and students were enrolled in the advanced courses of the psychology diploma programme. There were no formal preconditions for the framing or the contents of the counselling in order to minimize any possible reservations or inhibitions on the part of the pupils. The study yields a positive result, and the concept is described as useful by many of the users. The frequency with which pupils made use of the counselling proved to be independent from gender, type of school and nationality. This model of counselling offered by students proved to overcome the deficiencies of other kind of counselling offered to pupils, as there are long waiting hours, involuntary counselling or lack of acceptance of those offering the counselling. Keywords: School counselling, counselling concept, pupils, students, evaluation Zusammenfassung: Dieser Artikel erörtert anhand einer Evaluationsstudie die Möglichkeiten eines alternativen Beratungskonzeptes, in dem Studenten Schüler beraten. Die Beratungen werden vormittags innerhalb des Schulgebäudes angeboten und von Psychologiestudenten im höheren Semester durchgeführt. Sonst gibt es hinsichtlich der Beratungen keine formalen oder inhaltlichen Vorgaben, sodass die Hemmschwelle für die Schüler niedrig gehalten wird. Die Studie kommt zu einem positiven Ergebnis: Das Beratungskonzept wird von vielen Schülern für nützlich gehalten, wobei die Häufigkeit der Nutzung nicht von Geschlecht, Schulform oder Nationalität abhängt. Defizite bisheriger Schulberatungsangebote, wie lange Wartezeiten, unfreiwillige Beratungen oder eine nur geringe Akzeptanz der Beratenden durch die Schüler, können durch das Konzept der studentischen Schülerberatung vermieden werden. Schlüsselbegriffe: Schulberatung, Beratungskonzept, Schüler, Studenten, Evaluation n Forum 1 Ich danke Herrn Prof. Dr. Malte Mienert, Universität Bremen, für die hilfreiche Unterstützung beim Verfassen dieses Artikels. 2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit des Textes wurde nur die männliche grammatische Form gewählt, wenn beide Geschlechter gemeint sind. Beratung für Jugendliche hat alle Belange und Probleme der psychosozialen Entwicklung in der Zeit der Adoleszenz zum Gegenstand. Im Kern steht das Hauptthema des Jugendalters: die Identitätsentwicklung (Erikson, 1968) in den sozialen Bereichen der Familie, des Freundeskreises und der Schule (Fend, 2003). Eine geeignete Beratung für Adoleszente stellt in vielen Fällen eine sinnvolle Hilfe bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter dar. Defizite bisheriger Schulberatung Zu den wichtigsten Beratern 2 in der Schule gehören Schulpsychologen, Beratungslehrer, Lehrer (Aurin, Stark & Stobberg, 1977) und im Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2008, 55, 61 - 67 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Rahmen der Peermediation auch Schüler (z. B. Hauk 2000; Simsa, 2001). Bisher sind die Arbeiten von Schulberatern kaum wissenschaftlich evaluiert worden; die Tätigkeit der Beratungslehrer hat mit Einschränkungen positive Effekte auf die Schüler (Barres, Basler & Diener, 1990; Sassenscheidt, 1993). Es wurde jedoch eine Reihe von Defiziten bisheriger Schulberatungsansätze beschrieben: 1. Oft kommt es zu monatelangen Wartezeiten für die Ratsuchenden. Das kann bedeuten, dass nicht flexibel auf bestimmte Problemsituationen reagiert werden kann und eine sinnvolle Beratung nicht möglich ist (Friedel, 1993; Presting, Sielert & Westphal, 1987). 2. Ratsuchende Schüler können durch Mitschüler stigmatisiert und pathologisiert werden, was in vielen Fällen bedeutet, dass die Schüler sich nicht auf die Beratung, sondern auf Stigmamanagement konzentrieren (Barres et al., 1990; Vetter, 1991). 3. Schüler kommen überwiegend nicht freiwillig zu Beratungen, sondern werden von der Schule oder den Eltern angemeldet oder überwiesen (Gasteiner-Klicpera & Klicpera, 2000; Harris, 1987; Vetter, 1985). Dies ist der Beratungssituation abträglich (Dietrich, 1983). 4. Es liegen Hinweise vor, dass bestehende schulpsychologische Beratungsangebote - einschließlich der Peermediation durch Mitschüler - nur in geringem Ausmaß von Schülern begrüßt werden (Helmken, 2006; Selvini-Palazzoli et al., 1978). Schüler halten Schulpsychologen, (Beratungs-)Lehrer und Mitschüler aus unterschiedlichen Gründen für wenig geeignet, eine Beratung durchzuführen (Helmken, 2006). Gäbe es einen Beratungslehrer, der selbst nicht unterrichtet, wäre die Akzeptanz durch die Schüler bedeutend höher (Gasteiger-Klicpera & Klicpera, 2000). 5. Im Falle von (Beratungs-)Lehrern als beratende Personen kann es zu Problemen kommen, die aus der doppelten Rolle als Lehrer und Berater resultieren (Heller & Vieweg, 1983). Studentische Beratung von Schülern Um den aufgezeigten Defiziten bestehender schulpsychologischer Beratungsangebote entgegenzuwirken, wurde im Rahmen der Praxisforschung im pädagogischen Feld vom IPS/ AAP, Universität Bremen, unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Leithäuser und Dr. Renate Haack- Wegner, gemeinsam mit dem SZ Bremen Walle und dem Schulpsychologischen Dienst West ein Beratungskonzept entwickelt, bei dem die Beratungen durch Studierende der Psychologie (im höheren Semester) durchgeführt werden. Jeweils zwei Studierende stehen als Ansprechpartner vormittags in einem eigens für Beratungen eingerichteten Raum innerhalb des Schulgebäudes den Schülern zur Verfügung. Dauer und Frequenz der Beratungen, die Anzahl der Schüler, die gemeinsam die Beratungsstelle aufsuchen, sowie die inhaltlichen Themen eines Beratungsgesprächs werden nicht vorgegeben, sondern orientieren sich gänzlich an den individuellen Bedürfnissen der Schüler. Jede neue Schulklasse soll einmal in den Raum der Beratungsstelle geführt werden, wobei die Studierenden den Schülern erklären, dass sie jederzeit und mit jedem Thema die Einrichtung aufsuchen können. Eine einfache Unterhaltung ist ebenso möglich wie ein vertrauliches Beratungsgespräch in einer Lebenskrise. Ziel ist es, den Schülern den Zugang zur Beratungseinrichtung möglichst leicht zu machen, d. h. ein niederschwelliges Konzept anzubieten (vgl. auch Belardi, Akgün, Gregor, Neef, Pütz & Sonnen, 2001). Ein solcher Beratungsansatz weist einige Beschränkungen im Vergleich zur Beratung durch einen Schulpsychologen auf: Er versteht sich als Angebot an Schüler der Sekundarstufe II, denn die Beratungen richten sich ausschließlich an die Schüler selbst, nicht an Lehrer oder Eltern. Außerdem werden keine psychometrischen Verfahren zur Diagnostik eingesetzt. Thematisch liegen die Grenzen dort, wo die Problemsituation von den studentischen Beratern noch handhabbar ist. Um die Studenten bei ihrer Tätigkeit zu unterstützen, sind regelmäßige Supervisionen durch einen Schulpsy- 62 Klaus Helmken chologen und regelmäßige Teamtreffen aller beteiligten Gruppen (Lehrervertreter, Studierende, Schulpsychologen und wissenschaftliche Begleitung) Teil des Beratungskonzeptes. Wie effektiv ist dieser Beratungsansatz? Wird er von Schülern angenommen? Zur Klärung dieser Fragen wurde zu Beginn des Schuljahres 1996/ 97 die Beratungsstelle „Offenes Ohr“ am Schulzentrum Bremen Walle als Praxisforschungsstelle gegründet, um das entwickelte Beratungskonzept zu erproben. Die beiden beratenden Studenten stehen an vier Vormittagen in der Woche den Schülern einer gymnasialen Oberstufe sowie einer Berufsschule zur Verfügung. Zur Veranschaulichung der Vielfältigkeit der Beratungen sollen einige Beispiele für Beratungssituationen genannt werden (Haack-Wegner, 2001a): So kamen Schüler in das „Offene Ohr“, die einfach nur einen Kaffee mit den Studenten trinken wollten, ohne irgendein Problem zu besprechen. Nach Ansicht der Beratenden befanden sich diese Schüler oft in einer Art Zwischenstadium, sodass sie zwar merkten, ein Problem zu haben, dieses jedoch noch nicht formulieren konnten oder wollten. Erst nach weiteren Besuchen dieser Schüler kamen die Probleme zur Sprache. Andere Gespräche bezogen sich auf Probleme der Berufsfindung, familiäre Schwierigkeiten, Liebeskummer und weitere Themen des Erwachsenwerdens. Es gab jedoch auch schwerwiegende Lebenskrisen, wie starke Gefühle von Sinn- und Hoffnungslosigkeit. In solchen Fällen war die Supervision durch den zuständigen Schulpsychologen für die Studenten besonders hilfreich. In einigen Fällen war die Überweisung des betreffenden Schülers an ein anderes psychosoziales Hilfsangebot notwendig. Allein aus der Konzeption des Beratungsansatzes folgt, dass drei von den fünf eingangs genannten Defiziten bisheriger schulpsychologischer Beratungsangebote für die studentische Schülerberatung nicht zutreffen: Erstens ist nicht mit bedeutsamen Wartezeiten zu rechnen, zweitens sind alle Beratungen freiwillig und drittens geraten Lehrer nicht in einen Rollenkonflikt, da Studenten die Beratungen durchführen. Auf die anderen Defizite der Stigmatisierung der Ratsuchenden und der (Nicht-)Akzeptanz der Beratenden durch die Schüler wird im Diskussionsteil eingegangen. Fragestellungen Um die Effektivität des dargestellten Konzepts studentischer Schulberatung aus Sicht der Schüler zu überprüfen, nahm die Studie bereits bestehende Erkenntnisse über den Beratungsansatz zur Grundlage: Im Juni 1997 wurde eine quantitative Untersuchung (N = 430 Schüler) unter Verwendung eines kurzen Fragebogens zum „Offenen Ohr“ durchgeführt (Haack- Wegner, 2001 b). Die Ergebnisse zeigten, dass zu diesem Zeitpunkt nach rund einem Jahr Laufzeit der Beratungsstelle 84 % der Befragten der Meinung waren, das „Offene Ohr“ sei für die Schule eher nützlich oder sehr nützlich. Nur 3 % konnten im „Offenen Ohr“ keinen Nutzen erkennen. Weiterhin konnten 73 % nicht ausschließen, selbst einmal das „Offene Ohr“ zu besuchen. Von Interesse war einerseits, ob dieses Ergebnis nach sieben Jahren Laufzeit der Beratungseinrichtung repliziert werden konnte, und andererseits, ob nicht nur bei der pauschalen Frage nach der Nützlichkeit des Beratungskonzeptes ein positives Feedback der Schüler zu finden ist, sondern auch in Bezug auf konkrete Gesprächsanlässe (z. B. bei Ärger mit einem Lehrer). Den Berichten der beratenden Studenten zufolge nehmen mehr Berufsschüler als Gymnasiasten und insgesamt mehr Schülerinnen als (männliche) Schüler das Beratungsangebot in Anspruch (Haack-Wegner, 2001 a). Dies ist ein subjektiver Eindruck, sodass sich die Frage stellte, ob diese Beobachtungen durch die Evaluation bestätigt werden können. Wie Vetter (1985) zeigt, erfreuen sich klassische schulpsychologische Beratungsangebote bei Schülern keiner großen Beliebtheit. Es bestand jedoch die Hoffnung, dass Studenten von Schülern eher als Beratende akzeptiert werden, da sie der Erfahrungswelt von Schülern der Sekundarstufe II näher sind. Es wurden aus der bisherigen Untersuchung und den mündlichen Berichten Fragen formu- Studentische Schülerberatung 63 liert, die innerhalb der Evaluation überwiegend deskriptiv anhand der vorliegenden Stichprobe bearbeitet werden sollten: 1. Wird die Nützlichkeit des Beratungskonzeptes im Mittel als positiv eingeschätzt? 2. Hängt die Häufigkeit der Besuche von Geschlecht und Schulform ab? 4. Werden Studenten als Beratende von den Schülern eher akzeptiert als andere Berater? Ziel war die Überprüfung der Qualität des hier beschriebenen Beratungskonzepts und die Beantwortung der Frage, ob eventuell Veränderungen oder Verbesserungen des Konzepts vorgenommen werden sollten. Methodik Der Ort der Untersuchung Die Untersuchung wurde an Schülern des Schulzentrums Bremen Walle durchgeführt. Insgesamt besuchten zum Untersuchungszeitpunkt 1157 Schüler das Schulzentrum, welches eine Gymnasiale Oberstufe sowie eine Berufsschule umfasst. Die Ausbildungsziele der Berufsschule können dem Gesundheitsbereich zugeordnet werden, z. B. Arzt-, Zahnarzt- oder Tierarzthelferin. In den Berufsschulklassen gab es entsprechend den Ausbildungszielen fast keine männlichen Schüler. Die Altersspanne der Stichprobe, N = 597, reichte von 15 bis 36 Jahre, wobei ein knappes Drittel der Befragten (27 %) 17 Jahre alt war. Der weibliche Anteil überwog wie erwartet mit 83 %. 88 % der Befragten waren deutsch (77 % mit deutscher Muttersprache), und es wurden weitere 32 Nationalitäten und Muttersprachen gefunden. Hinsichtlich der erfassten soziodemografischen Daten entsprach die Stichprobe im Wesentlichen der Zusammensetzung der gesamten Schülerschaft. Erhebungsmethoden Zur Datenerhebung wurde ein vierseitiger Fragebogen mit 44 Items verwendet. Den Kern bildeten zwei Skalen, die beide die Nützlichkeit des Beratungskonzepts aus Sicht der Schüler erfassen sollten. Zum einen wurde, wie schon in der ersten Erhebung von 1997, pauschal nach der Nützlichkeit des „Offenen Ohrs“ gefragt, während zum anderen die Nützlichkeit in Bezug auf verschiedene konkrete Gesprächsanlässe erfasst wurde. Zur allgemeinen Nützlichkeit (Cronbachs Alpha = .89) wurden sechs Fragen gestellt; Beispiele: „Ich persönlich könnte mir vorstellen, künftig einmal das ‚Offene Ohr‘ zu besuchen.“ „Ich bezweifle, dass das ‚Offene Ohr‘ überhaupt einen Nutzen bringt.“ (invers) Zur spezifischen, problembezogenen Nützlichkeit (Cronbachs Alpha = .95) wurden 28 Fragen gestellt, welche sich auf konkrete unproblematische und problembezogene Gesprächsanlässe aus sechs verschiedenen sozialen Bereichen (Elternhaus, Freundeskreis, Schulalltag, Berufsalltag, Partnerschaft und die eigene Person ohne besonderen sozialen Bezug) bezogen; Beispiele: „Könnte Ihrer Meinung nach das ‚Offene Ohr‘ für Sie oder Ihre Mitschüler/ innen nützlich sein … … bei Prüfungsangst? “ (Bereich Schule) … wenn man von seinen Eltern zu sehr bevormundet wird? “ (Bereich Elternhaus) … bei Streitigkeiten im Freundeskreis? “ (Bereich Freundeskreis) … als Gelegenheit, sich über alle möglichen Themen des Alltags zu unterhalten? “ (unproblematischer Gesprächsanlass) Die Formulierungen der Items der zweiten Skala wurden inhaltlich den Berichten der Beratenden des „Offenen Ohrs“ angepasst (vgl. Haack-Wegner, 2001a). Für die Beantwortung der Items stand eine 4-stufige Ratingskala von „nicht nützlich“ (1) bis „nützlich“ (4) zur Verfügung. Ablauf der Untersuchung und Beschreibung der Stichprobe Vor dem Haupttest wurde der Fragebogen in einem Vortest an einer kleinen Schülergruppe (N = 26) getestet. Nach einer Überarbeitung der Itemformulierungen lag der Fragebogen für den Haupttest vor. Die Verteilung und das anschließende Einsammeln der Fragebögen wurde von Lehrkräften vorgenommen; die Beantwortung der Fragen fand während der Unterrichtszeit statt. Es wurden 718 Fragebögen zufällig auf 37 Schulklassen verteilt. Der Rücklauf lag bei 83 % (N = 597), entsprechend 51 % aller Schüler 64 Klaus Helmken des Schulzentrums. Der Haupttest fand im November und Dezember 2003 statt; der Vortest wurde im November 2003 durchgeführt. Ergebnisse Der Bekanntheitsgrad des „Offenen Ohrs“ beträgt 99 %. Allerdings wissen nur drei Viertel der Schüler (76 %), dass es sich bei den Ansprechpartnern in der Beratungsstelle um Studierende der Psychologie handelt. Insgesamt kann sich knapp die Hälfte (44 %) der Schüler vorstellen, einmal selbst das „Offene Ohr“ zu besuchen. 93 der 597 Befragten (16 %) gaben an, schon einmal mit einem persönlichen Anliegen das „Offene Ohr“ aufgesucht zu haben. Die besprochenen Themen waren vielfältig: Am häufigsten kamen unproblematische Themen (40 %, z. B. eine Unterhaltung bei Kaffee oder Tee) und Schulschwierigkeiten (28 %, z. B. Lernstress) zur Sprache, aber auch Probleme aus Elternhaus (z. B. Streit mit den Eltern), Freundeskreis, Partnerschaft (z. B. Liebeskummer), Berufsalltag und anderes, beispielsweise Identitätsprobleme (jeweils 2 - 7 %). Kein Schüler hat angegeben, ein wirklich schwerwiegendes Problem wie eine neurotische Störung oder ein Suchtproblem im „Offenen Ohr“ vorgebracht zu haben. Ein Viertel (25 %) der Schüler, die schon einmal im „Offenen Ohr“ waren, beließen es bei lediglich einem Besuch, während die Hälfte (50 %) zweimal kam. 21 % besuchten die Beratungsstelle dreibis neunmal, die restlichen 4 % noch öfter. Die meisten Schüler (71 %) kamen nur innerhalb einer Gruppe zum „Offenen Ohr“, 22 % jedoch erst in einer Gruppe und dann auch allein. Die restlichen 7 % kamen entweder nur allein oder erst allein und dann in einer Gruppe. Die Schüler, die das „Offene Ohr“ besucht haben, stuften dieses Beratungskonzept als „eher nützlich“ ein, M = 2.88, SD = 1.00. Auch in Bezug auf die Bereitschaft, das „Offene Ohr“ in Zukunft aufzusuchen, sind sie positiv eingestellt: Sie „stimmen eher zu“ bei der Frage, ob die Bereitschaft zu künftigen Besuchen existiere, M = 2.84, SD = 1.11. Die Zufriedenheit mit den bisherigen und die Bereitschaft zu weiteren Besuchen korrelieren, N = 89, r = .71, p < .01. Dies lässt die Annahme zu, dass die Einstellung zur Nützlichkeit vergangener Besuche einen Einfluss auf die Bereitschaft zu künftigen Besuchen hat. Die Beratungsstelle wird im Mittel als nützlich angesehen: Die Mittelwerte liegen für die allgemeine Bewertung bei „nützlich“, M = 3.57, SD = 0.53, und für die spezifische Bewertung bei „eher nützlich“, M = 2.80, SD = 0.66. Eine Einschätzung mittels 95 %-Konfidenzintervallen zeigt, dass man davon ausgehen kann, dass die wahren Populationsmittelwerte höchstens unwesentlich von den durch die Studie ermittelten Werten abweichen, Intervallbreite 0.08 bzw. 0.11. Die Häufigkeit von Besuchen hängt nicht von Schulform und Geschlecht ab, denn entsprechende Chi-Quadrat-Tests ergaben nichtsignifikante Ergebnisse, c 2 (3, N = 587) = 4.15, p = .25 bzw. c 2 (2, N = 594) = 1.84, p = .40. Analog stellt sich die Situation bei dem zusätzlich untersuchten Zusammenhang zwischen der Besuchshäufigkeit und der Nationalität bzw. der Muttersprache dar, c 2 (2, N = 586) = 0.24, p = .89 bzw. c 2 (2, N = 566) = 2.40, p = .30. Auch zwischen Geschlecht und dem Gesprächsthema (dichotomisiert in problematisch/ unproblematisch) besteht kein statistisch bedeutsamer Zusammenhang, p = .76 (exakter Test nach Fisher). Das Wissen oder Nichtwissen der Schüler über die Ansprechpartner in der Beratungsstelle hat einen gewissen Einfluss auf die Bewertung der Nützlichkeit: Schüler, die wissen, dass die Beratenden im „Offenen Ohr“ Psychologiestudierende sind, halten die Beratungseinrichtung im Mittel für nützlicher, als diejenigen, die in diesem Punkt falsch informiert sind. Der Unterschied ist desto größer, je niedriger der Problemschweregrad des zu besprechenden Themas ist. Bei unproblematischen Gesprächsthemen ist die Differenz zwischen den beiden Schülergruppen in der Bewertung der Nütz- Studentische Schülerberatung 65 lichkeit am größten, DM = 0.58, t = 7.35, df = 571, p < .01, bei Alltagsproblemen geringer, DM = 0.21, t = 2.99, df = 543, p < .01, und bei schwerwiegenden Problemen weder statistisch noch empirisch bedeutsam, DM = 0.14, t = 1.65, df = 566, p = .10. Wenn ein unproblematisches Gesprächsthema den Anlass des Besuches bildet, macht es also einen Unterschied, wen die Schüler im „Offenen Ohr“ vermuten: Mit Studierenden der Psychologie würden sie sich in diesem Fall lieber unterhalten als mit Lehrern oder Schulpsychologen. Liegt aber ein schwerwiegendes Problem vor, so ist es für die Schüler nicht von Bedeutung, ob Schulpsychologen, Lehrer oder Psychologiestudierende die Ansprechpartner sind. Diskussion Das Konzept der studentischen Beratung wird dieser Untersuchung zufolge insgesamt für nützlich gehalten. Rund jeder sechste Schüler war schon einmal mit einem eigenen Anliegen in der Praxisforschungsstelle, wobei viele verschiedene Themen zur Sprache kamen. Dies entspricht in etwa den Ergebnissen von Gasteiger-Klicpera und Klicpera (2000), nach denen sich ein Viertel aller Schüler eine persönliche Aussprachemöglichkeit in der Schule durch eine nicht unterrichtende (Lehr-)Person wünscht und ein Sechstel gern im Auskommen mit den Mitschülern unterstützt werden möchte. Erfreulich ist die Tatsache, dass die Häufigkeit der Besuche im „Offenen Ohr“ nicht von Geschlecht, Schulform, Nationalität oder Muttersprache abhängt. Psychologiestudierende sind als Berater aus Sicht der Schüler geeignet. Wenn es sich bei den Beratungsthemen nicht um schwerwiegende Probleme, sondern um Alltagsprobleme oder unproblematische Anlässe handelt, sind sie sogar nach Meinung der Befragten traditionellen Beratern, wie Lehrern oder Schulpsychologen, überlegen. Ring-Kurtz, Sonnichsen und Hoover- Dempsey (1995) weisen auf die Vorteile schulintegrierter Beratungsangebote hin (etwa die Möglichkeit, alle Schüler auch unabhängig von den Eltern erreichen und Probleme unter Einbindung des sozialen Umfeldes bearbeiten zu können), dennoch existieren - wie bereits erwähnt - beträchtliche Nachteile bei einer Beratung durch Beratungslehrer oder Schulpsychologen, wie lange Wartezeiten, unfreiwillige Beratungen, Nichtakzeptanz oder Rollenkonfusion der Berater. Mit dem Konzept der studentischen Beratung können die Vorteile eines schulintegrierten Beratungsangebotes genutzt werden, während die Nachteile weitgehend vermieden werden, jedoch mit Einschränkungen bei der Zielgruppe der zu Beratenden (nur Schüler, keine Lehrer oder Eltern). Das Problem der Stigmatisierung von Ratsuchenden seitens der Mitschüler in Richtung einer defizitären oder pathologischen Persönlichkeitsstruktur bleibt allerdings auch bei der studentischen Beratung bestehen (Helmken, 2006). So könnte auch das Ergebnis dieser Studie erklärt werden, dass nur knapp die Hälfte aller Schüler sich vorstellen kann, einmal selbst das „Offene Ohr“ aufzusuchen, obwohl es von vielen positiv bewertet wird: Schüler bewerten das Beratungsangebot positiv, wollen es jedoch aus Angst vor Stigmatisierung nicht selbst in Anspruch nehmen. Desinformation der Schüler reicht als Erklärung für die Stigmatisierungen nicht aus (Helmken, 2006; Vetter, 1991); wahrscheinlich sind Prozesse der sozialen Konkurrenzbildung ausschlaggebend (Helmken, 2006). Insgesamt erscheint der Ansatz der studentischen Schülerberatung sehr vielversprechend. Verbesserungen des Konzepts sind im Wesentlichen nur hinsichtlich einer Reduktion der möglichen Stigmatisierung Ratsuchender durch Mitschüler zu überlegen. Eine Lage der Einrichtung innerhalb des Schulgebäudes, die einen möglichst unauffälligen Zugang ermöglicht, sowie die Ergänzung durch eine Beratung per Internet wären in diesem Zusammenhang zu nennen (zum zweiten Aspekt vgl. Götz, 2003). Die Praxisforschungsstelle besteht zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch und wird auch in Zukunft fortgeführt und auf ein zweites Bremer Schulzentrum erweitert werden. 66 Klaus Helmken Literatur Aurin, K., Stark, G. & Stobberg, E. (1977). Beratung im Schulbereich. Weinheim: Beltz. Barres, E., Basler, E. & Diener, K. (1990). Beratungslehrer. Opladen: Leske + Budrich. Belardi, N., Akgün, L., Gregor, B., Neef, R., Pütz, T. & Sonnen, F. R. (2001). Beratung. Eine sozialpädagogische Einführung (2. Aufl.). Weinheim: Beltz. Dietrich, G. (1983). Allgemeine Beratungspsychologie. Göttingen: Verlag für Psychologie. Erikson, E. H. (1968). Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart: Ernst Klett. Fend, H. (2003). Entwicklungspsychologie des Jugendalters (3. Aufl.). 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Klaus Helmken Arbeitsgruppe Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie Universität Bremen Grazer Str. 2 c D-28359 Bremen Tel.: (04 21) 2 18 30 56 Fax: (04 21) 2 18 71 11 E-Mail: khelmken@uni-bremen.de Studentische Schülerberatung 67