Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aggression im schulischen Kontext. Die Lehrperson als Diagnostiker?
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Alexander Wettstein
Lehrpersonen erleben aggressives Schülerverhalten unmittelbar im Unterricht. Lehrereinschätzungen von aggressivem Schülerverhalten werden häufig als diagnostisches Eingangskriterium verwendet. Gleichzeitig wird die Objektivität von Lehrerurteilen immer wieder angezweifelt. Das hier vorgestellte Beobachtungssystem zur Analyse aggressiven Verhaltens in schulischen Settings (BASYS) ist ein verhaltensdiagnostisches Verfahren zur Erfassung von aggressivem Verhalten bei Schülern im Alter von 9 bis 16 Jahren. Lehrkräfte erfassen aggressives Schülerverhalten während ihres Unterrichts in teilnehmender Beobachtung mit der Lehrerversion BASYS-L. Durch die systematische Verhaltensbeobachtung werden eine Differenzierung der Wahrnehmung von Lehrpersonen und die Nutzung von Lehrerurteilen als zuverlässige diagnostische Quelle angestrebt. Die Fremdbeobachterversion BASYS-F erfasst zusätzlich Merkmale des schulischen Kontexts. Die Erprobung des BASYS in vier Feldstudien zeigt, dass Lehrkräfte nach einem Beobachtertraining durchaus in der Lage sind, aggressives Schülerverhalten objektiv zu erfassen. Die Ergebnisse deuten auf eine hohe Situationsspezifität aggressiven Schülerverhaltens hin. Divergente Beobachtereinschätzungen können somit teilweise auf eine hohe Situationsspezifität des Verhaltens zurückgeführt werden.
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n Empirische Arbeit Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2008, 55, 175 - 188 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Aggression in the Context of the Classroom Teachers Diagnose Student’s Aggressions Summary: Aggressive acts of students frequently happen in the classroom. Educational or therapeutic measures are often based on the judgments of teachers. Empirical investigations show that the objectivity of these judgments is generally low. With the observation-system „aggressive behavior in classroom-settings“ (BASYS) aggressive behavior of 9 to 16 year old students can be described. The BASYS-L, an adaptation for teachers, allows to register aggressive behavior while teaching. The aim is, to differentiate the perception and the judgments of the teachers, so that the judgments can serve as trusty diagnostic information. BASYS-F, the version for an independent observer, in addition contains categories to capture information about the context in which aggressions take place. The observation-system was tested in four field studies. After training the teachers were able to make objective observations. Moreover, aggressive behavior of the student depends to a large extent on different situational factors. Discrepancies in the observations of different people could be due to the situational sensitivity of aggressive behavior as well as to differing abilities of the observers. Keywords: Aggressive behavior, situational specifity, behavior observation, observation manual, diagnostics, classroom Zusammenfassung: Lehrpersonen erleben aggressives Schülerverhalten unmittelbar im Unterricht. Lehrereinschätzungen von aggressivem Schülerverhalten werden häufig als diagnostisches Eingangskriterium verwendet. Gleichzeitig wird die Objektivität von Lehrerurteilen immer wieder angezweifelt. Das hier vorgestellte Beobachtungssystem zur Analyse aggressiven Verhaltens in schulischen Settings (BASYS) ist ein verhaltensdiagnostisches Verfahren zur Erfassung von aggressivem Verhalten bei Schülern im Alter von 9 bis 16 Jahren. Lehrkräfte erfassen aggressives Schülerverhalten während ihres Unterrichts in teilnehmender Beobachtung mit der Lehrerversion BASYS-L. Durch die systematische Verhaltensbeobachtung werden eine Differenzierung der Wahrnehmung von Lehrpersonen und die Nutzung von Lehrerurteilen als zuverlässige diagnostische Quelle angestrebt. Die Fremdbeobachterversion BASYS-F erfasst zusätzlich Merkmale des schulischen Kontexts. Die Erprobung des BASYS in vier Feldstudien zeigt, dass Lehrkräfte nach einem Beobachtertraining durchaus in der Lage sind, aggressives Schülerverhalten objektiv zu erfassen. Die Ergebnisse deuten auf eine hohe Situationsspezifität aggressiven Schülerverhaltens hin. Divergente Beobachtereinschätzungen können somit teilweise auf eine hohe Situationsspezifität des Verhaltens zurückgeführt werden. Schlüsselbegriffe: Aggressives Verhalten, Schule, Diagnostik, Verhaltensbeobachtung, Situation, Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen (EAS) Aggression im schulischen Kontext. Die Lehrperson als Diagnostiker? Alexander Wettstein Pädagogische Hochschule Bern Aggression im schulischen Kontext Aggressives Schülerverhalten stellt einen Risikofaktor für die betroffenen Schüler und eine große Belastung für Lehrpersonen dar. Aggressives Verhalten wird hier in Anlehnung an Bandura (1979, 18) als eine absichtlich ausgeführte Verhaltensweise, die zur persönlichen Schädigung und zur Zerstörung von Eigentum führt, definiert. Die Schädigung kann sowohl phy- 176 Alexander Wettstein sisch (schlagen, kratzen, anspucken) als auch psychisch (erniedrigen, bloßstellen, ausgrenzen) erfolgen. Diese Definition schließt sowohl herkömmliche als auch weniger gut erkennbare indirekte Formen von Aggression ein. In der klinischen Psychologie wird aggressives Verhalten kategorial (DSM-IV, 1996; WHO, 1993) unter den Störungen des Sozialverhaltens und Störungen mit oppositionellem Trotzverhalten subsumiert. Dimensionale Klassifikationen (Achenbach, 1991) differenzieren zwischen einem aggressiven und einem dissozialdeliquenten Syndrom. Schüler mit externalisierenden Störungen des Sozialverhaltens können nur schwer in Regelklassen integriert werden (Goetze, 1990; 1991) und werden häufig von ihren Klassenkameraden abgelehnt (Coie & Dodge, 1983). Verhaltensstörungen erweisen sich als der wichtigste Faktor für einen frühzeitigen Schulabbruch (Vitaro, Brendgen & Tremblay, 1999; Vitaro, Brendgen, Pagani, Tremblay & McDuff, 1999). Aggressives Verhalten wird in der Entwicklungspsychopathologie u. a. auf Defizite in der Informationsverarbeitung zurückgeführt, wobei für reaktive und proaktive Formen der Aggression jeweils spezifische Mechanismen der Informationsverarbeitung (Dodge & Coie, 1987; Dodge & Price, 1994; Crick & Werner, 1998) und unterschiedliche Entwicklungsverläufe postuliert werden (Esser, Schmidt, Blanz, Fätkenheuer, Fritz et al. 1992). Die Frage, wie auch Schüler mit Verhaltensstörungen erfolgreich integrativ geschult werden können, bleibt offen (Goetze, 1991). Verhaltensstörungen sind nicht allein Problem der Schulen der Erziehungshilfe. Zunehmend müssen sich auch Regelklassen mit Störungen des Sozialverhaltens auseinandersetzen. Lehrkräfte sind durch aggressives Schülerverhalten großen Belastungen ausgesetzt (Lambert, 2002). Gleichzeitig erleben sie aggressives Schülerverhalten unmittelbar im schulischen Kontext und können als wichtige Informationsquelle im diagnostischen Prozess genutzt werden. Mit dem vorliegenden Artikel verfolgen wir zwei Ziele: 1. Mit dem Beobachtungssystem zur Analyse aggressiven Verhaltens in schulischen Settings BASYS (Wettstein, 2008 in press) wird ein Verfahren vorgestellt, welches eine situationsspezifische Diagnostik im Schulalltag ermöglicht. 2. Aufgrund ausgewählter empirischer Ergebnisse aus der Entwicklung des BASYS (Wettstein, 2006) wird diskutiert, inwieweit Lehrpersonen als verlässliche Informationsquelle in den diagnostischen Prozess einbezogen werden können. Die Lehrperson als Diagnostiker? Unsystematische Beobachtungen des Autors in seiner früheren Tätigkeit als Sonderschullehrer deuten auf individuell distinktive Verhaltensprofile bei Kindern mit Störungen des Sozialverhaltens hin, welche mit herkömmlichen Verfahren nur unzulänglich erfasst werden können. Es stellt sich deshalb die Frage, wie Beobachtungen von Lehrpersonen als verlässliche diagnostische Quelle zur Erfassung aggressiven Verhaltens genutzt werden können. Aufgrund extensiver Verhaltensbeobachtung im Feld und der Konsultation bestehender Erhebungsverfahren, insbesondere des ,Erfassungsbogens für aggressives Verhalten in konkreten Situationen (EAS)‘ (Petermann & Petermann, 2000 a), wurde deshalb das Beobachtungssystem zur Analyse aggressiven Verhaltens in schulischen Settings BASYS (Wettstein, 2008 in press) entwickelt. Lehrpersonen erleben Schüler täglich als Teil einer in komplexer Weise interagierenden Gruppe und werden häufig über aggressives Schülerverhalten befragt. Lehrereinschätzungen dienen oft als diagnostisches Eingangskriterium und zur Erhebung von Störungsprävalenzen in der Population. Innerhalb des multimethodalen und multimodalen diagnostischen Prozesses wird die Aussagekraft von Lehrer- und Elternurteilen angezweifelt (Petermann & Petermann, 2000 b). Empirische Untersuchungen zur Objektivität von Lehrerurteilen deuten auf große Probleme hin: Steinhausen, Rentz und Göbel (1983) berichten in einer Metaanalyse zur Übereinstimmung von Eltern- und Lehrerurteilen bei der Einschätzung von Verhaltensauf- Aggression im schulischen Kontext 177 fälligkeiten von 184 Kindern im Alter zwischen 8 - 11 Jahren deutlich höhere Prävalenzraten im Elternurteil (16 %) gegenüber Lehrkräften (10,8 %), wobei die Beobachterübereinstimmungen auf individueller Ebene nur 7 % betrugen. Lehrpersonen nehmen aggressives und störendes Verhalten vorerst unspezifisch diffus wahr (Langfeldt, 2003; Wettstein, 2006) und verfügen über sehr heterogene subjektive Aggressionsdefinitionen (Humpert, Tennstädt & Dann, 1983; Thommen, 1985). Ihre Einschätzung störenden Schülerverhaltens unterliegt zudem systematischen Verzerrungstendenzen (Abikoff, Courtney, Pelham & Koplewicz, 1993; Ziv, 1970). Während Lehrkräfte angeben, sozial-integrativ auf aggressives Schülerverhalten zu reagieren, zeigen sie in der konkreten schulischen Situation meist neutrale oder punitive Reaktionen auf störendes Schülerverhalten (Dann & Humpert, 1987; Mees, 1988). Bestehende Verfahren zur Erfassung aggressiven Schülerverhaltens Bestehende Verfahren zur Erfassung aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter, die sich auf Lehrereinschätzungen stützen, illustrieren unterschiedliche methodische und theoretische Zugänge und unterscheiden sich hinsichtlich ihres Zugangs, der Erfassungsbreite und ihrer Strukturiertheit (vgl. Petermann & Petermann, 2000 b, 45ff.), wobei sich einzelne Verfahren im Rahmen einer multimodalen und multimethodalen Diagnostik ergänzen (vgl. Döpfner, Schürmann & Frölich, 2002; Petermann & Petermann, 2000 b). Während indirekte Verfahren wie die Teacher’s Report Form TRF (Achenbach, 1991; Döpfner & Melchers, 1993) aggressives Verhalten durch retrospektive Befragungen von Lehrpersonen erfassen, wird das Problemverhalten in direkten Verfahren durch kontinuierliche Verhaltensbeobachtung im Feld (Faßnacht, 1995) in einer Konfliktsituation unmittelbar registriert. Das sehr differenzierte Beobachtungsverfahren zur Analyse von aggressionsbezogenen Interaktionen im Schulunterricht BAVIS (Humpert & Dann, 1988) erfasst mit der Ereignis-Sampling-Technik störende Schülerhandlungen und die Reaktion der Lehrkraft. Während sich das BAVIS hervorragend für die Durchführung von Fremdbeobachtungen eignet, erweist sich das Verfahren für einen Einsatz durch Lehrpersonen im Unterricht jedoch als zu komplex. Mit dem Beobachtungsbogen für aggressives Verhalten BAV (Petermann & Petermann, 2005, 62) können besonders markante Verhaltensweisen und erwünschtes positives Zielverhalten in Zehnminutenintervallen mit dem Time-Sampling- Verfahren auf einer Ratingskala eingeschätzt werden. Mit dem VBS-L und dem SL-L liegen zwei ausgezeichnete Screeningverfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs vor. Der Verhaltensbeurteilungsbogen Schule VBS-L (Gießler-Fichtner, Freimann, Frey, Menzel & Petermann, 2000) erlaubt die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs auf den Dimensionen des Sozialverhaltens, des Lernverhaltens und des positiven Leistungsverhaltens. Der Verhaltensbeurteilungsbogen Sozial- und Lernverhalten - Einschätzliste Lehrerversion SL-L (Petermann, 2004) erfasst im Unterbereich Sozialverhalten Items zur Einschätzung von Kooperation, Selbstwahrnehmung, Selbstkontrolle, Einfühlungsvermögen und Hilfsbereitschaft, angemessene Selbstbehauptung und Umgang mit Normen und Regeln. Sowohl der VBS-L als auch der SL-L stellen bewährte Screeningverfahren dar und können durch ihre Orientierung auf das erwünschte Zielverhalten gut in ein mögliches Schülertraining integriert werden. Neben den genannten Verfahren, die sich auf Lehrereinschätzungen stützen, liegt mit dem Erfassungsfragebogen für Verhalten in konkreten Situationen EAS von Petermann und Petermann (2000 a) ein situationsspezifisches Diagnoseinstrument für Kinder zwischen 9 bis 13; 11 Jahren vor. Der EAS enthält 22 konkrete Beschreibungen von Alltagskonflikten zwischen Kindern, welche zusätzlich durch Bilder verdeutlicht werden. Die Kinder können zwischen 178 Alexander Wettstein einer sozial erwünschten und zwei sozial unerwünschten Reaktionen auswählen. Mit dem EAS lassen sich sowohl direkte, als auch verdeckt hinterhältige und gegen die Eigenperson gerichtete Aggressionen erfassen. Die sozial unerwünschten Reaktionen werden wie folgt kategorisiert: Verbal hinterhältig, direkt in Bezug auf Fremdpersonen; Nonverbal hinterhältig, direkt in Bezug auf Fremdpersonen; Verbal und nonverbal bezüglich der Eigenperson; Verbal und nonverbal bezüglich Gegenstände. Das Beobachtungssystem zur Analyse aggressiven Verhaltens in schulischen Settings BASYS (Wettstein, 2008 in press) ist ein Verfahren zur systematischen Beobachtung von aggressivem Verhalten in Sonderschulen, Kleinklassen und Regelklassen bei Schülern von 9 bis 16 Jahren. BASYS kann von Lehrpersonen, Psychologen, Erziehungsberatern und Schulsozialarbeitern eingesetzt werden. Mit dem Beobachtungssystem zur Analyse aggressiven Verhaltens in schulischen Settings (BASYS) können problematische Person-Umwelt-Beziehungen im Klassenkontext differenziert erfasst und Interventionsschritte abgeleitet werden. BASYS liegt in einer Version für Lehrpersonen (BASYS-L) und einer erweiterten Version für Fremdbeobachter (BASYS-F) vor. Lehrerversion BASYS-L BASYS-L richtet sich an Lehrpersonen und Heilpädagogen. Fünf Formen aggressiven Schülerverhaltens sowie eine Form von oppositionellem Verhalten können in Abhängigkeit von Merkmalen des schulischen Kontexts während des Unterrichtens in teilnehmender Beobachtung erfasst werden. Es wird zwischen reaktiven und proaktiven Formen aggressiven Verhaltens unterschieden. Mit der Identifikation problematischer Person-Umwelt- Bezüge werden die Wahrnehmungen der Lehrkräfte objektiviert und Grundlagen für die Förderdiagnostik und Interventionsplanung sowie für weiterführende Interventionen der Erziehungsberatung und Therapie geschaffen. Das Beobachtungsinstrument kann zudem in der Lehrerbildung für ein Training eines differenzierten und reflexiven Umgangs mit Störungen des Sozialverhaltens eingesetzt werden. Aggressives Verhalten: Die Benennung der Kategorien aggressiven Verhaltens orientiert sich weitgehend am EAS (Petermann & Petermann, 2000 a). 1. Oppositionelles Verhalten gegen die Lehrkraft 2. Aktiv gegen Fremdperson; offen direkt 3. Aktiv gegen Fremdperson; verdeckt hinterhältig 4. Aggression gegen Gegenstände 5. Partei ergreifend gegen Fremdpersonen; offen direkt und 6. Partei ergreifend gegen Fremdpersonen; verdeckt hinterhältig. Bei der Konzeption des BASYS wurde besonderes Augenmerk auf verdeckte Aggressionsformen gelegt. Während Lehrpersonen direkte physische und verbale Aggression unschwer als solche erkennen, werden subtilere und verdecktere Formen der Aggression wie Ausgrenzen, Herabsetzen, Erniedrigen vor dem Hintergrund von Alltagskonzepten nicht erkannt oder Kategorien Lehrperson BASYS-L Zusätzliche Kategorien Fremdbeobachter BASYS-F 1. Aggressives Verhalten 4. Methodisch-didaktisches Setting 2. Ziel des aggressiven Verhaltens 5. Funktion des aggressiven Verhaltens 3. Erwünschtes Zielverhalten 6. Reaktion der Lehrperson Tabelle 1: Kategorienübersicht BASYS-L und BASYS-F Aggression im schulischen Kontext 179 nicht als Aggression bewertet. Im Manual zum BASYS wird jede Kategorie mit einer kurzen intensionalen Erläuterung eingeführt und anschließend deiktisch exemplarisch mit einem prototypischen Beispiel mit Bildinformation, weiteren Kurzbeispielen und der Abgrenzung von anderen Kategorien erläutert: 3. Aktiv gegen Fremdpersonen; verdeckt hinterhältig Allgemeine Beschreibung Die Person ist aktiv in den Konflikt verwickelt, versucht aber dem Gegner auf versteckte, hinterhältige Art und Weise zu schaden. Die Person möchte dabei nicht ertappt werden und/ oder sucht Mittel, welche die Verteidigung „aber ich habe ja gar nichts gemacht“ zulassen (z. B. nonverbal demonstrativ zur Schau gestellte Geringschätzung). Beispiele Carla und Anna haben sich in der Pause gestritten. Carla will sich rächen. Sie verbreitet Gerüchte über Anna. Sie nimmt ungesehen die Schultasche von Anna und schmeißt sie in den Müll. Sie beschuldigt Anna fälschlicherweise bei der Lehrperson. Sie zeigt hinter Annas Rücken zur Klasse feixend den Vogel. Sie reicht Anna das Mathematikblatt mit spitzen Fingern und Ekel verzerrtem Gesicht. Sie zeigt bei Wortmeldungen von Anna demonstrativ einen verächtlichen Gesichtsausdruck. Beispiele Kurzform verbal: falsche Anschuldigungen machen; Gerüchte verbreiten. körperlich: dem Gesprächspartner die kalte Schulter zeigen; Gegenstand stehlen bzw. verstecken; aufhören zu spielen, damit eine Person nicht mehr mitspielen kann; demonstrativ gezeigte körperliche Distanz. Abgrenzung Offensichtliche aggressive Handlungen gegen Fremdpersonen, die kaum abgestritten werden können, werden nicht als verdeckt hinterhältige Aggression kodiert. Kasten 1: Beispiel einer Kategorie aggressiven Verhaltens aus dem BASYS-L Bei den Kategorien aggressiven Verhaltens (Kategorien 2 - 6) wird zudem unterschieden, ob sich das Verhalten rein verbal (A), rein körperlich (C) oder in einer Mischform (B) zeigt. Lehrpersonen setzen das BASYS nach einem Beobachtertraining (vgl. Wettstein 2008, in press) in ihrem Unterricht ein. Lehrkräfte sind im Unterricht vielfältigen Anforderungen ausgesetzt. Die Lehrerversion (BASYS-L) wurde deshalb so ökonomisch aufgebaut, dass sie im Unterricht die Aufmerksamkeit der Lehrkraft so wenig als möglich belastet. Aggressives Verhalten wird täglich während zwei Lektionen unter Angabe des Ziels des aggressiven Verhaltens unmittelbar auf dem BASYS-L Beobachtungsbogen festgehalten. Die Auswertung der Rohdaten erfolgt anschließend automatisch durch ein auf CD-Rom beiliegendes Auswerteprogramm und erfordert keine statistischen Kenntnisse. Um eine ausschließliche Fokussierung von Lehrpersonen und Schülern auf das negative Verhalten zu vermeiden, werden vier positive Zielverhaltensweisen des ,Beobachtungsbogen für aggressives Verhalten (BAV)‘ (Petermann & Petermann, 2005) gut sichtbar auf einem Klassenplakat festgehalten und erwünschtes Zielverhalten gezielt verstärkt. Dieses Vorgehen kann mit bereits bestehenden Interventionsansätzen kombiniert werden. Die Schüler haben zudem die Möglichkeit, ihre Lehrpersonen auf positive Verhaltensweisen aufmerksam zu machen. Fremdbeobachterversion BASYS-F BASYS-F ermöglicht eine kontextsensitive Erfassung aggressiven Verhaltens im Feld. Durch die Identifikation allgemeiner schulischer Einflussfaktoren auf aggressives Schülerverhalten und die Identifikation individuell distinktiver Verhaltensprofile (vgl. Mischel, 1977; Shoda, Mischel & Wright, 1993) können ungünstige Person-Umwelt-Beziehungen verändert werden. BASYS-F richtet sich an Fachpersonen, welche in nicht-teilnehmender Beobachtung zusätzlich das methodisch-didaktische Setting, die Funktion des aggressiven Verhaltens und die Reaktion der Lehrkraft auf die störende Schüler- 180 Alexander Wettstein handlung erfassen. Die Überschneidung zwischen der Fremdbeobachter- und Lehrerversion erlaubt die Überprüfung der Objektivität. Die Zusammenarbeit zwischen Psychologen und Lehrpersonen im diagnostischen Prozess bietet zugleich einen niederschwelligen Einstieg für Interventionsmaßnahmen und die Entwicklung eines störungspräventiven Unterrichts. Funktion: Aufgrund der strukturellen Merkmale des Verhaltens und Merkmalen des sozialen Kontexts wird im BASYS-F in einem interpretativen Deutungsprozess die Funktion des aggressiven Verhaltens im Sinne einer psychologisch (perzipierten) Situation erschlossen (vgl. Oswald & Krappmann, 2000). Ausgehend von der Unterscheidung zwischen reaktiven und proaktiven Formen der Aggression wurden aus den Beobachtungsdaten induktiv Kategorien hergeleitet, welche die Funktion des aggressiven Verhaltens (als psychologische Situation eines Individuums) erschließen. Reaktiv-emotionsgeleitete Aggressionsformen • Abwehr einer tatsächlichen oder subjektiv wahrgenommenen Bedrohung • Appell bei Überforderung Proaktiv-instrumentelle Aggressionsformen • Dominanz • Manipulation des sozialen Status • Erwerb von Ressourcen Gewalt als Erlebnis • Identifikation mit Gewalt • Spaß Im BASYS-F werden für alle Schüler Funktionsprofile erstellt, welche zwischen proaktiven und reaktiven Formen differenzieren. Dies erlaubt die Ableitung spezifischer Interventionsmaßnahmen. Die Methodik der Feldstudien Aufgrund ausgewählter empirischer Ergebnisse werden im folgenden Teil Chancen und Beschränkungen aufgezeigt, welche sich aus der Anwendung des BA- SYS durch Lehrpersonen ergeben. Die Entwicklung und Erprobung des Beobachtungssystems zur Analyse aggressiven Verhaltens in schulischen Settings (BASYS) erfolgte in vier Feldstudien (N = 38) während einer Beobachtungszeit von insgesamt 174 Stunden. Die Beobachtungszeit des Fremdbeobachters betrug 138 Stunden. Im Folgenden erfolgt lediglich eine summarische Darstellung ausgewählter Probleme und Ergebnisse. Interessierte Leser, welche sich detailliert mit der Entwicklung und Erprobung des BASYS auseinandersetzen möchten, verweisen wir auf die Dissertationsschrift Aggressionsdiagnostik in schulischen Settings (Wettstein, 2006). Stichproben Schulheim für verhaltensauffällige Kinder: Die erste Erhebung erfolgte bei 6 verhaltensauffälligen Schülern (2 Mädchen) im Alter von 12; 3 bis 14; 11 Jahren (M = 13; 7), welche eine heiminterne Sonderschule einer kleineren Vorortsgemeinde besuchen. Beide Klassenlehrkräfte wurden mit dem BASYS-L geschult. Durch den Ausfall einer Lehrperson an der Sonderschule entstand ein quasi- Abbildung 1: Ausschnitt aus dem BASYS-L Beobachtungsbogen Aggression im schulischen Kontext 181 experimentelles Untersuchungsdesign. 3 Teilpensenlehrkräfte und 2 Stellvertreter wurden in die Untersuchung miteinbezogen. Ein Jahr nach der ersten Erhebung wurde an der gleichen Klasse eine zweite Erhebung durchgeführt, wobei allerdings nur noch 2 Jungen aus der Originalstichprobe in der Klasse waren. Zusätzlich waren mittlerweile 5 neue Schüler (2 Mädchen) im Alter von 12; 9 bis 13; 9 Jahren in die Klasse eingetreten (n = 7). Eine neue Lehrerin ohne Erfahrung im Unterricht mit verhaltensauffälligen Kindern wurde mit dem BASYS-L geschult und in die Datenerhebungen einbezogen. Kleinklasse für lernbeeinträchtigte Kinder: Aus der gleichen Gemeinde wurde eine Kleinklasse mit 12 Schülern (5 Mädchen) im Alter von 9; 6 bis 13; 7 Jahren (M = 11; 7 Jahre) ausgewählt. Die Klasse wurde von zwei Lehrerinnen geführt. Regelklasse: Als Kontraststichprobe wurde eine Schule einer ländlichen Vorortsgemeinde mit dreistufiger Führung (4. bis 6. Klasse) ausgewählt. Die Klassenlehrkraft und eine Lehrkraft im Teilpensum (Teilpensenlehrkraft) unterrichteten 15 Schüler (9 Mädchen) im Alter von 10; 2 bis 13; 8 Jahren (M = 12; 1 Jahre). Ablauf der Untersuchungen Die Lehrpersonen wurden während 12 Stunden mit dem Beobachtungssystem BASYS geschult. Anschließend wurde das Schülerverhalten von einem Fremdbeobachter (BASYS-F) und der unterrichtenden Lehrkraft (BASYS-L) mittels Ereignis Sampling Technik (vgl. Faßnacht, 1995) über 10 Wochen während täglich 2 Lektionen erfasst. Um mögliche Reaktivitätseffekte durch die Anwesenheit eines Fremdbeobachters aufseiten der Schüler und Lehrkräfte zu minimieren, wurde das Klassengeschehen aus zwei Perspektiven mit Videokameras und einem Tonsystem aufgezeichnet. Das Geschehen im Schulzimmer wurde sowohl in Anwesenheit als auch während der Abwesenheit von Lehrkräften gefilmt. Die Erhebungen des Fremdbeobachters erfolgten aufgrund der Videoaufnahmen. Dieses Vorgehen erlaubte die Erfassung des Schülerverhaltens in Abwesenheit der Lehrperson. Die Beobachtungszeit des Fremdbeobachters betrug 138 Stunden. Die Überschneidungen der Beobachterperspektiven zwischen Lehrkraft und Fremdbeobachter betrug 96 Stunden. Ergebnisse Wie gut erkennen Lehrpersonen aggressives Schülerverhalten? Die Objektivität wird im BASYS im Hinblick auf eine gute Anwendbarkeit durch Lehrkräfte als Beobachterübereinstimmung zwischen Lehrpersonen und Fremdbeobachter in Prozentwerten (und nicht mit Cohens-Kappa) angegeben. Aufgrund der 96-stündigen Überschneidung der Beobachterperspektiven von Fremdbeobachter und Lehrpersonen wurden Beobachterübereinstimmungen zwischen 53 % und 82 % ermittelt. Die teilweisen moderaten Übereinstimmungen sind in erster Linie auf niedrigre Detektionsraten von Lehrpersonen in hohen Anspruchssituationen zurückzuführen. Doch wenn Lehrpersonen ein aggressives Verhalten feststellten, dann wurde es auch übereinstimmend mit dem Fremdbeobachter kodiert. Hier wurden sehr hohe Beobachterübereinstimmungen zwischen Lehrpersonen und Fremdbeobachtern identifiziert. Die Rate der falschen Alarme (2.5 %) und falschen Kodierungen (1.7 %) war sehr tief. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Lehrpersonen wahrgenommenes aggressives Schülerverhalten mit dem BASYS-L korrekt kategorisieren. Vier Faktoren erwiesen sich als besonders bedeutsam: 1. Beobachtungsdauer: Bei einer zeitlich vollständigen Erhebung des Verhaltens über den ganzen Tag durch die Lehrkraft in der Entwicklungsphase lag die Detektionsrate bei 53 %. Durch die Beschränkung der Beobachtungszeit auf zwei Stunden täglich konnte eine Steigerung der Detektionsrate auf 82 % erreicht werden. 2. Die Erfahrung der Lehrkraft: Novizen mit geringer Berufserfahrung sind weitaus mehr Unterrichtsstörungen ausgesetzt und erreichten wesentlich tiefere Detektionsraten als erfahrene Lehrpersonen. 3. Methodisch-didaktisches Setting: Die höchsten Detektionsraten erreichten Lehrpersonen bei der Beobachtung von Schülern in Pausensituationen (80 %), im Frontalunterricht und 182 Alexander Wettstein in Einzelarbeit (75 %). Hier ist der Fokus der Lehrperson auf die ganze Klasse gerichtet. Mit zunehmender innerer Differenzierung des Unterrichts steigen die Ansprüche an die Lehrperson und die Objektivität der Lehrerurteile sinkt auf 60 % ab. 4. Formen des aggressiven Verhaltens: Verbale Formen (A) wurden deutlich besser erkannt als körperliche Formen (C). Verbale aggressionshaltige Äußerungen lösen auch bei abgewandtem Blick häufig eine Orientierungsreaktion der Lehrkraft aus, während körperliche Aggressionen, die vom Opfer ohne verbale Reaktion erduldet werden, nicht zu einer Orientierungsreaktion der Lehrkraft führen. Aggressionsfrequenzen nach Schultypen Sind Lehrpersonen an verschiedenen Schultypen jeweils anderen Aggressionsfrequenzen und Aggressionsformen ausgesetzt? Formen: Aggressives Verhalten wurde in allen Stichproben in 62 % rein verbal (A) und in 20 % rein körperlich (C) ausgeführt. 18 % der aggressiven Verhaltensweisen wiesen sowohl körperliche als auch verbale Elemente auf und wurden als Mischformen (B) klassifiziert. Partei ergreifende Formen der Aggression (Kategorie 5 und 6) und Aggression gegen Gegenstände (Kategorie 4) traten selten auf. Häufigkeit: Während wir bei den gewählten Formen des aggressiven Verhaltens kaum Unterschiede zwischen den Stichproben finden, so sehen wir aber, dass Lehrkräfte verschiedener Schultypen unterschiedlichen Aggressionsfrequenzen ausgesetzt sind. Eine mehrfaktorielle univariate Varianzanalyse (ANOVA) ergab einen hochsignifikanten Effekt für den Faktor Schultyp F(1, 33) = 9.10, p < .001). Die Faktoren Geschlecht und Alter und deren Interaktion erwiesen sich als nicht signifikant (alle p > .30). Die durchschnittlichen Aggressionsfrequenzen steigen von der Regelklasse (RK) hin zur Sonderschule (SK) deutlich an. In Abwesenheit der Lehrpersonen beobachten wir einen überproportionalen Anstieg aggressiven Schülerverhaltens an der Sonderklasse. Abbildung 2: Aggressionsfrequenzen nach Schultyp Durchschnittliche Aggressionsfrequenz pro Schüler pro Stunde nach Schultyp in Anwesenheit (grau) und Abwesenheit (schwarz) der Lehrkräfte. RK = Regelklasse, KK = Kleinklasse, SK R = Sonderklasse reguläre Lehrkraft, SK NR = Sonderklasse nicht reguläre Lehrkraft (Lehrkräfte im Teilpensum und Stellvertreter) Aggression im schulischen Kontext 183 Situationsspezifität des aggressiven Verhaltens Im heute weit verbreiteten Persönlichkeitstest NEO-PI-R von Costa und McCrae (1992) und vor dem Hintergrund naiver Persönlichkeitstheorien wird Aggression meist als Eigenschaft einer Person verstanden, welche sich zeitlich stabil und über verschiedene Situationen gleich äußert. Bei Schülern mit Verhaltensstörungen würde man vor dem Hintergrund dieser Perspektive ein über alle Situationen generalisiertes Verhaltensmuster erwarten. Die empirischen Untersuchungen deuten jedoch darauf hin, dass die Schüler ihr Verhalten stark unterschiedlichen Situationen anpassen und Lehrpersonen jeweils völlig unterschiedlichen Aggressionsfrequenzen ausgesetzt sind (vgl. Abb. 3). Diese Befunde stützen eine interaktionistische Perspektive. Fragebogenverfahren erfassen aggressives Verhalten jedoch meist situationsunspezifisch. Die Ergebnisse aus der systematischen Verhaltensbeobachtung deuten darauf hin, dass unterschiedliche Beobachterübereinstimmungen in Fragebogenverfahren zumindest teilweise auf eine hohe Situationsspezifität des Verhaltens zurückzuführen sind. Erstaunlich ist vor allem auch die sekundenschnelle Anpassung der Schüler an die jeweilige Lehrperson. Aggressives Schülerverhalten ist folglich in einem sehr hohen Ausmaß situationsspezifisch. Abbildung 3: Situationsspezifität des aggressiven Verhaltens Die durchschnittliche Frequenz des aggressiven Verhaltens pro Kategorie pro Stunde zeigt die intraindividuelle Konsistenz des Verhaltens der Schülerin E über vier Situationsklassen: 1.) Im Unterricht der Klassenlehrkraft (weiß) beobachten wir kaum aggressive Verhaltensweisen. 2.) Verlässt die Klassenlehrkraft das Zimmer (hellgrau), so steigt die Aggressionsfrequenz unmittelbar an. 3.) Im Unterricht der Teilpensenlehrkraft (dunkelgrau) stellen wir vergleichbare Aggressionsfrequenzen fest, wie wenn die Schüler alleine im Zimmer sind. 4.) Verlässt die Teilpensenlehrkraft das Klassenzimmer (schwarz) so steigt die Aggressionsfrequenz massiv an Legende: 1: Oppositionelles Verhalten gegen die Lehrperson 4: Gegenstände 2: Aktiv gegen Fremdperson; offen direkt 5: Partei gegen Fremdperson; offen direkt 3: Aktiv gegen Fremdperson; verdeckt hinterhältig 6: Partei gegen Fremdperson; verdeckt hinterhältig A: Verbal B: Mischform C: Körperlich 184 Alexander Wettstein Aggression im sozialen Kontext Aufgabe des Pädagogen ist es, das Kind zu fördern. Diese Aufgabe kann nur sinnvoll wahrgenommen werden, wenn man von einer prinzipiellen Veränderbarkeit des Menschen ausgeht und problematische Person-Umwelt-Beziehungen verändert. Aggression ist ein gerichtetes Verhalten und somit auch ein soziales Phänomen, welches nicht nur Individuen, sondern Beziehungen in Gruppen beschreibt. Für die Lehrkraft ist es entscheidend, problematische Beziehungen zwischen Schülern zu erkennen und pädagogische Maßnahmen abzuleiten. Mit BASYS lassen sich Veränderung und Konstanz der Beziehung zwischen Individuen und die soziale Dynamik der Klasse in sehr verdichteter Form anhand einer modifizierten Form des Moreno-Soziogramms darstellen. Im vorliegenden Soziogramm wurden die Schüler der Sonderklasse aufgrund der Daten der systematischen Verhaltensbeobachtung und Einschätzfragen (vgl. Hawley, 1999; Wettstein, 2008 in press; ) nach ihrem sozialen Status angeordnet. In einem weiteren Schritt wurden die Aggressionsfrequenzen pro Woche zwischen den Interaktionsteilnehmern in Pfeilform abgetragen. Die Pfeilstärke signalisiert die Auftretenshäufigkeit des aggressiven Verhaltens. So zeigt beispielsweise Schüler B 22 aggressive Verhaltensweisen gegen die Leaderin E. Die Schüler F und D zeigen kein aggressives Verhalten, werden jedoch Opfer. Lehrkräfte mit geringer Berufserfahrung (LB) werden häufiger zum Ziel aggressiven Schülerverhaltens als erfahrene Lehrpersonen (LA). Einfluss des methodisch-didaktischen Settings Im BASYS-F werden Unterrichtsmethoden und Sozialformen auf einer niedrig inferenten Ebene im Sinne einer nominellen (realen) Si- Abbildung 4: Aggressives Verhalten im sozialen Kontext Aggression im schulischen Kontext 185 tuation kategorisiert. Verschiedene Unterrichts- und Sozialformen unterscheiden sich hinsichtlich der Strukturierung durch die Lehrperson. Niedrig strukturierte Settings (z. B. Pause in Abwesenheit der Lehrkraft) bieten einen großen sozial akzeptierten Handlungsspielraum für die Schüler, während der Spielraum in hoch strukturierten Settings (z. B. Einzelarbeit oder Testsituation) stark eingeschränkt ist. Die Möglichkeiten des sozial akzeptierten Verhaltens nehmen mit zunehmendem Strukturierungsgrad des Unterrichts durch die Lehrperson ab. Die Aggressionsfrequenzen sinken erwartungsgemäß mit zunehmendem Strukturierungsgrad. Eine Ausnahme stellt das Setting ,Pause‘ dar, welche die Schüler in Anwesenheit der Lehrperson im Klassenzimmer verbringen. Obwohl hier die Schüler über einen großen Bewegungsspielraum verfügen, beobachten wir kaum aggressive Verhaltensweisen. Dieser Effekt kann möglicherweise auf das Fehlen schulischer Anforderungen zurückgeführt werden. Funktion des aggressiven Verhaltens Während die meisten Funktionen aggressiven Verhaltens auch in Anwesenheit der Lehrpersonen auftreten, wurde Identifikation mit Gewalt - wie folgende detaillierte Handlungsanleitung eines Schülers - ausschließlich in Abwesenheit von Lehrpersonen beobachtet: „Du musst die Person nicht gleich mit dem Messer abmurksen. Du musst sie alle Minuten hier in den Bauch stechen, damit es langsam geht und dann schlitzt du den Bauch auf und nimmst langsam die Därme raus und dann enthaupten und höllisch den Kopf rumkicken.“ Die Narration und Imagination von erlebten und imaginierten Gewalterlebnissen gegen nicht anwesende Fremdpersonen, Tiere oder Entitäten wird als lustvoll und unterhaltend erlebt. Durch die ausführlichen Schilderungen gewalttätiger Erlebnisse und Vorstellungen schaffen sich die betreffenden Schüler einen gemeinsam geteilten Bedeutungshorizont. Reaktion der Lehrperson Mit dem BASYS-F werden sozial-integrative, neutrale und punitive Reaktionen der Lehrperson auf das aggressive Schülerverhalten erfasst. Die Untersuchungen zeigen deutlich, dass gerade Lehrkräfte mit geringer Berufserfahrung mit aggressivem Schülerverhalten massiv überfordert sind. Lernprozesse der Schüler werden durch den gestörten Unterricht stark beeinträchtigt. Lehrpersonen zeigen nur wenige aggressive Verhaltensweisen. Sie verstärken jedoch häufig ungewollt negative Schülerverhaltensweisen und tragen zu einer Eskalation von Konflikten bei. Es stellt sich des- Abbildung 5: Einfluss des methodisch-didaktischen Settings 186 Alexander Wettstein halb die Frage, wie Lehrpersonen auf einer pädagogisch-didaktischen Ebene im Umgang mit Unterrichtsstörungen unterstützt werden können. Diskussion Die Situationsspezifität des Verhaltens als Problem der Diagnostik Die Untersuchungen haben gezeigt, dass auch Schüler mit massiven Verhaltensstörungen ihr Verhalten in hohem Maß auf den Kontext abstimmen (vgl. Abbildung 3). Die Situationsspezifität führt dazu, dass verschiedene Lehrpersonen und Mitschüler auch auf der Basis einer absolut objektiven Einschätzung hinsichtlich der Auftretenshäufigkeit und der gewählten Aggressionsformen zu jeweils vollkommen anderen Schlüssen kommen. Hier liegt eine mögliche (wenn auch nicht ausschließliche) Quelle von unbefriedigenden Aggressionseinschätzungen durch Eltern, Lehrkräfte und Mitschülern vor. Die hohe Situationsspezifität des Verhaltens bietet aber zugleich die Chance, problematische Person-Umwelt-Bezüge zu identifizieren und differenzierte Interventionsziele abzuleiten. Lehrpersonen als diagnostische Quelle nutzen Durch die Schulung mit dem BASYS-L wird eine Objektivierung und Differenzierung der Wahrnehmung von Lehrpersonen angestrebt. Lehrpersonen nehmen nicht alle aggressiven Schülerverhaltensweisen wahr. Sie sind aber nach einer Beobachterschulung in der Lage, wahrgenommene Episoden korrekt zu kategorisieren. Die Lehrpersonen nutzen zudem auch spontan die Möglichkeit, einzelne Videosequenzen ihres Unterrichts gemeinsam mit dem Fremdbeobachter zu analysieren und ihren Unterricht zu reflektieren. Dieses Vorgehen stellt einen niederschwelligen Einstieg in die Zusammenarbeit von Lehrpersonen und Psychologen dar. Neben Chancen zeigen sich aber auch klare Beschränkungen: Die Felduntersuchungen (Wettstein, 2006) zeigen, dass besonders Novizen im Umgang mit aggressivem Schülerverhalten massiv überfordert sind und bis in zu 50 % der Fälle zum Ziel aggressiven Schülerverhaltens werden. Gleichzeitig sind diese Lehrpersonen nicht in der Lage, sich durchzusetzen. Dadurch wird der Unterricht stark gestört und schwächere Schüler sind Übergriffen ihrer Mitschüler ausgesetzt. Durch die hohen Aggressionsfrequenzen ist hier eine Anwendung des BASYS-L durch die unterrichtende Lehrperson nicht mehr möglich. Als Alternative bietet sich hier eine Fremdbeobachtung durch eine Lehrperson oder eine Fachperson an. Die Entwicklung eines pädagogischen Coachings Mit dem BASYS wurde versucht, die Wahrnehmungen und Beschreibungen von Lehrpersonen und Fremdbeobachtern zu differenzieren. Die Entwicklung des BASYS hat allerdings auch gezeigt, dass eine differenzierte Wahrnehmung und Beschreibung von aggressivem Verhalten alleine nicht ausreichen. Lehrpersonen müssen in der Bewältigung schwieriger Unterrichtssituationen unterstützt werden. Der Einsatz des BASYS stellt einen niederschwelligen Einstieg in die Intervention dar. Die Entwicklung von Formen wirksamer Lehrerfortbildung muss die Frage beantworten, wie wissenschaftliches Wissen transformiert und für die Praxis fruchtbar gemacht werden kann. Aus der gemeinsamen Analyse einzelner Videosequenzen entstand ein pädagogisch-didaktisches Coaching für Lehrkräfte (Staub, 2004; Wettstein & Thommen, 2006; 2007). Lehrpersonen und Psychologen besprechen Unterrichtssequenzen gemeinsam vor und werten diese nach der Durchführung videogestützt aus. Durch dieses Vorgehen können wirksame Formen der Unterrichtsberatung identifiziert werden. Aggression im schulischen Kontext 187 Literatur Abikoff, H., Courtney, M. E., Pelham, W. E. 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