Psychologie in Erziehung und Unterricht
3
0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2008
553
Zur Frage nach Auswirkungen von Lateinunterricht auf die kognitive Fähigkeit "Reasoning"
71
2008
Tuulia M. Ortner
Martina Asanger
Klaus D. Kubinger
René T. Proyer
Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit Effekten schulischen Lateinunterrichts auf schlussfolgerndes Denken: In einem Ex-post-facto-Versuchsdesign wurden in der vorliegenden Studie Schüler der elften Klassenstufe, welche seit zwei Jahren Latein lernen, und Schüler, welche stattdessen in einer „lebenden“ Fremdsprache unterrichtet wurden, mit Hilfe einer Batterie unterschiedlicher Reasoning Tests getestet. Ziel war es, möglichst umfassend hinsichtlich verfügbarer Testkonzepte vorzugehen und systematisch verschiedene Modalitäten (numerisch, verbal, figural) zu berücksichtigen. Zur Abschätzung von a-priori bestehenden Leistungsunterschieden wurden zusätzlich Schüler der neunten Klassenstufen getestet, welche sich soeben für den Unterricht in Latein entschieden hatten bzw. nicht; beide Gruppen waren also noch nicht in Latein unterrichtet worden. Die Ergebnisse zeigen, dass nur einer der eingesetzten Tests zwischen den beiden Gruppen mit bzw. ohne zwei Jahre Lateinunterricht zu diskriminieren vermag, dies allerdings auch nur im Ausmaß eines inhaltlich nicht relevanten Effekts (auch für die neunten Klassen ergaben sich keine relevanten Unterschiede).
3_055_2008_003_0189
n Empirische Arbeit Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2008, 55, 189 - 195 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zur Frage nach Auswirkungen von Lateinunterricht auf die kognitive Fähigkeit „Reasoning“ Tuulia M. Ortner Martina Asanger, Klaus D. Kubinger René T. Proyer Freie Universität Berlin Universität Wien Universität Zürich On Effects of School Education in Latin on the Cognitive Ability “Reasoning” Summary: The present study deals with effects on reasoning of a school education in Latin. In an ex-post-facto experimental design, eleventh grade pupils who had learned Latin for two years as well as those who had learned a living language instead, were tested. A battery of different reasoning tests representing presently available instruments and systematically varying different modalities (numerical, verbal, figural), was used. In order to control effects which might exist between Latin learners and non-Latin learners from the outset, ninth grade pupils who had just decided for or against learning Latin were also tested. Only a single test was found to discriminate significantly between Latin learners and non-Latin learners, however the established effect is too small as to be of content relevance (this is also true for the ninth grade pupils). Keywords: Learning Latin, Reasoning Zusammenfassung: Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit Effekten schulischen Lateinunterrichts auf schlussfolgerndes Denken: In einem Ex-post-facto-Versuchsdesign wurden in der vorliegenden Studie Schüler der elften Klassenstufe, welche seit zwei Jahren Latein lernen, und Schüler, welche stattdessen in einer „lebenden“ Fremdsprache unterrichtet wurden, mit Hilfe einer Batterie unterschiedlicher Reasoning Tests getestet. Ziel war es, möglichst umfassend hinsichtlich verfügbarer Testkonzepte vorzugehen und systematisch verschiedene Modalitäten (numerisch, verbal, figural) zu berücksichtigen. Zur Abschätzung von a-priori bestehenden Leistungsunterschieden wurden zusätzlich Schüler der neunten Klassenstufen getestet, welche sich soeben für den Unterricht in Latein entschieden hatten bzw. nicht; beide Gruppen waren also noch nicht in Latein unterrichtet worden. Die Ergebnisse zeigen, dass nur einer der eingesetzten Tests zwischen den beiden Gruppen mit bzw. ohne zwei Jahre Lateinunterricht zu diskriminieren vermag, dies allerdings auch nur im Ausmaß eines inhaltlich nicht relevanten Effekts (auch für die neunten Klassen ergaben sich keine relevanten Unterschiede). Schlüsselbegriffe: Lateinunterricht, Schlussfolgerndes Denken Neben der Bedeutung der lateinischen Sprache für das Verständnis der abendländischen Kultur und für den Wortschatz bestimmter wissenschaftlicher Fachgebiete wird in der deutschsprachigen Bildungstradition häufig ein weiter Anspruch des Schulfachs Latein abgeleitet: Der Lateinunterricht kann, so Befürworter, als „Denkschule“ wirken, nach Maier (1994) etwa „dem Denken auf die Sprünge helfen; sowohl durch die ihr innewohnende Systematik und Logik, wie auch durch ihr begriffliches Beschreibungssystem, die Grammatik“ (S. 173). „Der Aufweis grammatischer Beziehungen - das wird im Lateinischen ständig trainiert, und dieses Training schult das logische Denken“ (Weeber, 1998, S. 27), fungiert gleichermaßen als „Gymnastik des Denkens“ (Leopold, 1988). Abstraktionsfähigkeit, logisches Denken, Fähigkeit zum Schließen und Strukturieren sowie das Entdecken von Ordnungsprinzipien 190 Tuulia M. Ortner et al. werden als fachübergreifende Anforderungen der lateinischen Sprache genannt; wer strengen Regeln folgende grammatikalische Strukturen versteht, anwendet und trainiert, der also schule auch sein logisches Denkvermögen. Bei dieser Art von Zitaten fehlt jedoch zumeist ein Hinweis auf empirische Studien. Es wird eher das Plausibilitätsargument ins Treffen geführt: Beim Lernen der lateinischen Sprache gehe es „…im Wesentlichen um analysierendes, kombinierendes, synthetisches und letztlich auch problemlösendes, kreatives Denken“ (Maier, 1994), also um das logische, schlussfolgernde Denken, was allgemein als Reasoning bezeichnet wird (Sternberg, 1996). Reasoning wurde als eine der Primary Mental Abilities von L. L. Thurstone (1931) eingeführt und später in der Taxonomie von Carroll (1993) als ein kognitiver Fähigkeitsbereich der fluiden Intelligenz auf Ebene II zugeordnet. Befürworter dieses Plausibilitätsarguments nehmen also an, dass Latein Lernen anregend auf die Reasoningfähigkeit wirkt, was aufgrund ähnlicher Aktivitäten zwischen dem Lernen der lateinischen Sprache und Reasoning nicht unplausibel ist: Übersetzen vom Lateinischen ins Deutsche bedarf des Wissens um Grammatikregeln, des genauen Analysierens und Abwägens von Alternativen (Haag & Stern, 2000). Es geht also darum, aus konkreten Fällen Regeln abzuleiten und anzuwenden, wie auch beim Reasoning: „Reasoning pertains to the process of drawing conclusions from principles and from evidence …, moving on from what is already known to infer a new conclusion or to evaluate a proposed conclusion“ (Sternberg, 1996, S. 397). Insgesamt liegen wenige empirische Arbeiten zu diesbezüglichen Auswirkungen von Lateinunterricht vor. Einige untersuchen den Einfluss auf die allgemeine Intelligenz (-entwicklung) und entstanden bereits Anfang des letzten Jahrhunderts (Thorndike, 1923); allerdings ist ihre Aussagekraft in Bezug auf heutige gesellschaftlich-schulische Bedingungen völlig überholt. Selbst zu den Auswirkungen von Lateinunterricht auf sprachliche Fertigkeiten liegen insgesamt wenige Studien vor (Gutacker, 1979; Haag & Stern, 2003; Trost, 1975). Die Forschungsgruppe um Haag (Haag, 1996; Haag, 2001; Haag & Stern, 2000) unternahm dagegen eine Längsschnittsstudie und untersuchte die Intelligenz und Schulleistung vor bzw. unmittelbar nach Beginn des Unterrichts verschiedener Fremdsprachen. Nach vier Jahren Unterricht in Latein zeigten sich Effekte hinsichtlich der Kompetenz der Muttersprache (Satzkonstruktion, buchstabengetreues Lesen, Finden von Grammatik- und Rechtschreibfehlern) im Vergleich zu Schülern, die nur zwei Jahre bzw. an gar keinem Lateinunterricht teilgenommen hatten. Bereichsübergreifende Effekte über sprachliche Vorteile hinaus konnten allerdings nicht festgestellt werden. Haag und Stern (2000) verwendeten dabei zur Erfassung „Logischen Denkens“ zwar Tests, die sowohl figurales als auch numerisches Material beinhalten (nämlich die Subtests 3 und 4 des Leistungs- Prüf-Systems von Horn, 1983) und auch im deutschsprachigen Raum nicht routinemäßig eingesetzte sprachbezogene Aufgabenstellungen (Johnson-Laird & Byrne, 1992), allerdings sind all diese Testkonzepte sowohl überaltert und testtheoretisch nicht state-of-the-art (vgl. z. B. Kubinger, 2006) als auch weder repräsentativ noch komplett bezüglich des derzeit verfügbaren Verfahrensinventars von Reasoning-Tests. Insbesondere die Intelligenz-Testbatterie LPS ist mannigfach zu kritisieren: Genannt sei bloß, dass die einzelnen Untertests aufgrund sehr kurzer Bearbeitungszeiten als zu stark geprägt durch den Faktor Geschwindigkeit und daher besonders benachteiligend für reflexive und ängstliche Personen sind (Heller & Perleth, 2000). Zielsetzung der vorliegenden Arbeit Aufgrund der aus unserer Sicht unzureichenden Auswahl an Reasoning Tests bei Haag und Stern (2000) sollen nun im vorliegenden (ex-postfacto) Experiment die Auswirkungen von Lateinunterricht auf die Fähigkeit zum schlussfol- Lateinunterricht und schlussfolgerndes Denken 191 gernden Denken systematisch überprüft werden: Reasoning Tests werden weitgehend komplett, jedenfalls materialbezogen repräsentativ aus dem derzeit verfügbaren Verfahrensinventar der Psychologischen Diagnostik eingesetzt. Die Materialien der ausgewählten Tests beziehen sich sowohl auf numerische und lexikalische als auch auf figurale Inhalte. Neben der zusätzlichen Berücksichtigung möglichst unterschiedlicher Aufgabenstellungen wurde besonderer Wert auf Aktualität und die Erfüllung des Gütekriteriums „Skalierung“ gelegt (vgl. Kubinger, 2003; Kubinger, 2006); das bedeutet, dass vorrangig Tests eingesetzt werden, die dem Rasch-Modell entsprechen. Methode Ausgehend davon, dass die mehrjährige Teilnahme am Fach Latein, insbesondere das Erlernen der Übersetzungstätigkeit und ihrer stark regelgeleiteten grammatikalischen Komplexität die Reasoning-Fähigkeit fordert und somit fördert, wird Folgendes angenommen: Schüler, welche einige Jahre in Latein unterrichtet wurden, sollten bei Tests, welche Reasoning erfassen, im Mittel eine signifikant bessere Testleistung erzielen als Schüler, welche in diesem Fach nie unterrichtet wurden. Lateinunterricht kommt allerdings nur dann als Ursache für unterschiedliche Leistungsfähigkeiten in Frage, wenn sich diejenigen Schüler, welche Latein als Fremdsprache wählen, nicht schon a priori im Vergleich zu anderen Schülern in ihrer Fähigkeit zu schlussfolgerndem Denken unterscheiden; denkbar wäre etwa, dass Eltern bzw. Lehrer eher solche Schüler zu Lateinunterricht ermutigen, die sich durch besonders gute Schulleistungen auszeichnen, bzw. dass diejenigen Schüler, welchen logische Denkoperationen leichter fallen, von sich aus eher zur Wahl von Latein motiviert sind. Der Ex-post-facto-Versuchsplan sah daher zwei Versuchssowie zwei Kontrollgruppen vor: Einerseits wurden Schüler getestet, welche zwei Jahre Lateinunterricht besucht hatten bzw. nicht, andererseits Schüler, welche sich soeben für Lateinunterricht entschieden hatten bzw. nicht. Indem diese vier Gruppen in die Studie einbezogen wurden, sollten also sowohl Effekte unterschiedlicher Ausgangsfähigkeiten der Schüler vor Unterrichtsbeginn wie auch Effekte mehrjährigen Lateinunterrichts analysiert werden. Die Gruppen waren: • Schüler der elften Klassenstufe, welche seit zwei Jahren das Fach Latein belegen (L 11) • Schüler der elften Klassenstufe, welche noch nicht im Fach Latein unterrichtet wurden (KL 11) • Schüler der neunten Klassenstufe, welche erst seit kurzem im Fach Latein unterrichtet werden (und vorher nicht an Lateinunterricht teilgenommen haben) (L 9) • Schüler der neunten Klassenstufe, die sich nicht für Lateinunterricht entschieden haben (KL 9) Zur Beantwortung der Fragestellungen wurde eine Diskriminanzanalyse („step-wise“ Methode nach Wilks) herangezogen. Die Testergebnisse wurden auf Basis der erzielten Rohwerte, das heißt der Anzahl gelöster Aufgaben je Test analysiert. Zur Abschätzung darüber hinaus gehender Bildungsunterschiede zwischen den Gruppen wurden zusätzlich zwei weitere sprachliche Tests eingesetzt. Stichprobe Getestet wurden Schüler 1 aus Wiener Real- und Oberstufenrealgymnasien, in welcher ab der neunten Klassenstufe die Möglichkeit zur Wahl zwischen Latein und einer (zweiten) lebenden Fremdsprache besteht 2 . Es wurden keine Schüler der 10. Klassenstufe getestet, weil das jene Schüler betroffen hätte, die erst ein Jahr lang Lateinunterricht erhalten hatten; für mögliche Effekte des Lateinunterrichts schienen die im ersten Jahr des Lehrplans als „Anfangsunterricht“ bezeichneten Inhalte nicht ausreichend. Die Testung einer höheren Schulstufe mit entsprechend längerer Lateinausbildung war dagegen aus organisatorischen Gründen nicht möglich, da im darauffolgenden Schuljahr in österreichischen Schulen die Abschlussprüfung (Matura) stattfindet 3 . 1 Wegen der besseren Lesbarkeit wird hier und im Folgenden verzichtet, zwischen Schülern und Schülerinnen zu differenzieren; „Schüler“ ist hier immer geschlechtsneutral gemeint. 2 Schüler aus Gymnasien wurden nicht herangezogen, da Unterricht im Fach Latein hier ab der siebten Klassenstufe verpflichtend ist. 3 Der Schulunterricht endet in Österreich regulär bereits nach der zwölften Klassenstufe. 192 Tuulia M. Ortner et al. Insgesamt wurden 249 Schüler getestet. Die Teilnahme an den Testungen fand auf freiwilliger Basis statt und unter der Bedingung des Einverständnisses der Eltern. Zur Erhöhung der Motivation wurde den Schülern eine schriftliche Rückmeldung hinsichtlich ihrer Testergebnisse zugesagt. Entsprechend eines auf dem Testheft befindlichen Codes erhielten sie auf Wunsch anonymisiert etwa eine Woche später ihre Ergebnisse. Etwa 30 % der insgesamt hinsichtlich der Versuchsplanung in Frage kommenden Schüler nahmen an der Untersuchung nicht teil. Dies war in etwa zur Hälfte der Fälle auf das fehlende Einverständnis der Eltern zurückzuführen, in der anderen Hälfte auf das Fernbleiben des Schülers am Testtag. 152 (61.0 %) der Untersuchten waren weiblich, 97 (39.0 %) männlich. Für 198 Schüler (79.5 %) war deutsch die Muttersprache, für 51 Personen (20.5 %) war dies nicht der Fall. L 11 bestand aus 56 Schülern der 11. Klassenstufe mit zwei Jahren Lateinunterricht (Durchschnittsalter M = 16.73; SD = 0.86; 58.9 % weiblich), KL 11 aus 56 Schülern der 11. Klassenstufe ohne Lateinunterricht (Durchschnittsalter M = 16.70; SD = 0.78; 76.8 % weiblich). 47 Personen der 9. Klassenstufe, die erst seit kurzer Zeit das Fach Latein belegen, bildeten die dritte Gruppe L 9 (Durchschnittsalter M = 14.75; SD = 0.74; 55.3 % weiblich), und 90 Personen der 9. Klassenstufe, die kein Latein gewählt haben und nie im Fach Latein unterrichtet wurden, die Gruppe KL 9 (Durchschnittsalter M = 14.78; SD = 0.87; 55.6 % weiblich). Versuchsdurchführung Während der Testungen befanden sich jeweils gleichzeitig Schüler aus beiden Gruppen (mit bzw. ohne Latein) in den Klassen. Erhoben wurden Art und Dauer des Fremdsprachenunterrichts, zusätzlich Alter, Geschlecht und Muttersprache der Schüler. Die standardisierten Testinstruktionen erfolgten sowohl in schriftlicher als auch in mündlicher Form. Das in Schulsituationen häufige Problem des Abschreibens bzw. Zusammenarbeitens der Testpersonen untereinander wurde weitgehend durch den Einsatz von quasi-Parallelformen (d. h. dieselben Items in veränderter Reihenfolge) verhindert. Außerdem waren zwei Testleiter pro Klasse während der Testungen anwesend. Die vertrauliche Behandlung der Testergebnisse wurde zugesichert. Um zu verhindern, dass noch nicht getestete Schüler durch Freunde oder Geschwister über die Aufgaben informiert werden, wurden die Testungen je Schule an einem einzigen Tag abgeschlossen. An vier Schulen wurden je vier Klassen (je zwei der 9. und der 11. Klassenstufe) getestet. Die Testungen fanden an insgesamt vier Tagen statt. Psychologische Tests Ziel der Zusammenstellung verschiedener Tests war eine möglichst vielseitige wie auch umfangreiche Erfassung von Reasoning. Zum Zweck der besseren Realisierbarkeit wurden die nachfolgend angeführten Computertests als Papier-Bleistift-Tests und teilweise in verkürzter Form vorgegeben. Mithilfe von Vorversuchen wurden die für eine Gruppentestung notwendigen Zeitbegrenzungen festgesetzt. Im Folgenden werden die Tests kurz dargestellt. Der Untertest Topologies aus der CFT 20 (Grundintelligenz Skala 2; Weiß, 1998) ist ein Reasoning Test mit figuralem Material. Die Aufgaben bestehen jeweils in der Vorgabe eines Rechteckes, in welchem sich verschiedene geometrische Elemente (z. B. Kreis, Dreiecke) befinden. Daneben befindet sich im Aufgabenfeld ein Punkt, welcher jeweils im Rechteck eine bestimmte Position einnimmt. Bei nun fünf zur Auswahl stehenden Lösungsvorschlägen ist diejenige auszuwählen, bei welcher ein denkbarer Punkt dieselbe relative Position einnehmen könnte (z. B. „im Kreis, außerhalb des Dreiecks“). Erkennen von Meta-Regeln (Gatternig & Kubinger, 1994) erfasst Reasoning anhand abstrakten, lexikalischen Materials und stützt sich auf das informationstheoretisch orientierte, heuristische Intelligenzmodell von Roth, Oswald, & Daumenlang, 1980. Als Testmaterial dienen Regelsysteme sensu Post, sogenannte Postsche Produktionssysteme. Die Items bestehen aus Zeichenketten von Buchstaben. Aufgabe der Testperson ist es zu erkennen, ob eine Auswahl von sogenannten „Endketten“ aus einer gegebenen Startkette erzeugt werden kann. Während die Anwendung der vorgegebenen Transformationsregeln auf die Ausgangskette zeitaufwendig und fehleranfällig ist, ist das Erkennen einer übergeordneten, sogenannten Meta-Regel, die effiziente Lösungsstrategie. Eine Meta-Regel kann beispielsweise in der Symmetrieeigenschaft der Buchstaben eines Produktionssystems bestehen (siehe Abb. 1). Lateinunterricht und schlussfolgerndes Denken 193 Rechnen in Symbolen (Schmotzer, Kubinger & Maryschka, 1994) erfasst Reasoning anhand numerischen Materials: In Form einer Gleichung sind (geometrische) Figuren dargestellt, von denen eine einzelne aus dem Zusammenhang heraus eindeutig als eine bestimmte Zahl identifiziert werden muss (siehe Abb. 2). Alle Aufgaben sind unter Zuhilfenahme der Grundrechenarten ohne technische Hilfsmittel lösbar. Die Antworten liegen zwischen 0 und 9, möglich ist auch die Antwortkategorie „unlösbare Gleichung“. Der Test Syllogismen (Srp, 1994) wurde zur Erfassung von Reasoning im verbalen Bereich konstruiert. Als Testmaterial dienen kategorische Syllogismen, in welchen aus unterschiedlichen Urteilsarten und Prämissen Konklusionen abzuleiten sind. Der Untertest Sprichwörter aus dem MIT (Mannheimer Intelligenztest; Conrad et al., 1971; Conrad et al., 1986) soll Sprachverständnis wie auch Bedeutungsgehalt der Sprache erfassen, was als Reasoning im weiteren Sinne gelten kann. Unter einem vorgegebenen Sprichwort ist aus fünf weiteren dasjenige auszuwählen, welches weitgehend dieselbe Bedeutung wie das vorgegebene hat. Zur Abschätzung darüber hinausgehender Bildungsunterschiede zwischen den Gruppen wurden zusätzlich zwei weitere Tests eingesetzt: Einmal eine Kurzform von LEWITE (Lexikon-Wissen-Test; Wagner-Menghin, 2004), welcher Allgemeinwissen und Wortschatz bei Erwachsenen erfasst: Er besteht aus zwei Teilen, wobei im ersten Teil Wörter aus einer Wortliste anzukreuzen sind, welche der Testperson bekannt sind bzw. deren Bedeutung sie kennt; im zweiten Teil muss in einem Lückentext mit Hilfe von Lösungsvorschlägen (dabei sind im Lückentext zwei Satzteile zur Erklärung aus je drei Optionen auszuwählen) die Wortbedeutung definiert werden. Der Untertest Synonyme Finden aus dem AID 2 (Adaptives Intelligenz Diagnostikum - Version 2.1; Kubinger & Wurst, 2000) erfasst Wortschatz und elementares Sprachverständnis. Dies erfolgte in adaptierter Form anhand dreier Aufgabengruppen gehobener Schwierigkeit. Die Reihenfolge der Tests war mit einer zwischengeschalteten Pause für alle Testpersonen gleich. Ergebnisse Hinsichtlich der VG 1 (11. Klassenstufe mit Lateinunterricht) und KG 1 (11. Klassenstufe ohne Lateinunterricht) wurde (bei Homogenität der Varianz-Kovarianz Matrix: Box M-Test, p > 0.05) ein signifikanter Effekt zur Unterscheidung der Gruppen festgestellt (c 2 = 5.07, p < 0.05). Statistisch bedeutend diskriminiert nur Rechnen in Symbolen (Wilks’ Λ = 0.955; d. h. ηˆ 2 = 0.045) bei einer Trefferwahrscheinlichkeit von 57.14 % (im Vergleich zur zufälligen Zuordnungswahrscheinlichkeit von 50 %). Gemäß ηˆ 2 ist die geschätzte Effektgröße, der Prozentsatz erklärter Varianz, zu gering, um als inhaltlich relevant bezeichnet zu werden. Zur Beantwortung der Frage, ob sich Schüler von vornherein unterscheiden, also noch vor Beginn des Lateinunterrichts (VG 2) bzw. vor Beginn des Unterrichts einer zweiten lebenden Fremdsprache (KG 2) ergab sich (bei Homogenität der Varianz-Kovarianz Matrix; Box M- Test, p > 0.05) wiederum eine signifikante Testgröße (c 2 = 4.59, p < 0.05), mit gleichfalls irrelevantem Effekt: Signifikant diskriminiert hier der Untertest Topologies (Wilks’ Λ = .966, d. h. ηˆ 2 = 0,034). Die Trefferwahrscheinlichkeit Startzeichenkette: U Antwort: Regeln: U ➝ SUE (+) SSRUEEE E ➝ K (-) SKSEEAU A ➝ S (-) SRKUE S ➝ R (+) RKUAE U ➝ KUA (-) KURKA (+) KSUKS Abbildung 1: Aufgabe 3 aus dem Test Erkennen von Meta-Regeln (Gatternig & Kubinger, 1994). Die Meta-Regel lautet „Symmetrie um den Buchstaben U“; dementsprechend sind als Lösung nur die mit „+“ bezeichneten Antworten erzeugbar, nicht die mit „-“ bezeichneten. JJ / J = M M M = ? 0 / 1 / 2 / 3 / 4 / 5 / 6 / 7 / 8 / 9 / U Abbildung 2: Aufgabe 3 (mit modifizierten Symbolen) aus Rechnen in Symbolen (Schmotzer et al., 1994); Die Lösung lautet „1“, da bei Einsetzen aller zur Verfügung stehenden Zahlen (außer 0) für „J“ die Zahl „11“ die Lösung ist, sodass „ M “ hier zwingend der Ziffer „1“ entsprechen muss („U“ steht für „unlösbar“). 194 Tuulia M. Ortner et al. beträgt hier 65.69 % (im Vergleich zur zufälligen Zuordnungswahrscheinlichkeit von 54,92 %). Die bessere Testleistung zeigt sich in KG 2, das ist allerdings auch hier inhaltlich irrelevant. Tabelle 1 gibt einen Überblick über Mittelwerte und Standardabweichungen der erzielten Testwerte in den vier untersuchten Gruppen. Diskussion In der vorliegenden Studie wurde Schülerinnen und Schülern eine aktuelle und anhand der geforderten Operationen breite Batterie an unterschiedlichen Reasoning-Aufgaben vorgegeben. In einem Ex-post-facto-Design konnte gezeigt werden, dass es lediglich anhand der Leistungen im Test Rechnen in Symbolen ansatzweise möglich ist, zwischen Testpersonen der elften Klassenstufen zu unterscheiden, die einerseits einen mindestens zweijährigen Lateinunterricht erhielten und andererseits stattdessen in einer lebenden Fremdsprache unterrichtet wurden. Das Ausmaß des Unterschieds zwischen den beiden Gruppen ist dabei jedoch so gering, dass diesem keine inhaltliche Relevanz beigemessen werden kann. Vorsichtshalber wurde auch geprüft, ob allfällige Unterschiede nicht auch schon am Beginn des Lateinunterrichts bestehen, nämlich darin begründet, dass eine (in Bezug auf das schlussfolgernde Denken) ausgewählte,typische Population sich für bzw. gegen Latein entscheidet. Diese Befürchtung bestätigte sich allerdings nicht: Schüler der neunten Klassenstufen unterscheiden sich nicht in Abhängigkeit davon, ob sie sich eben für oder gegen den Lateinunterricht entschieden haben. Auch in Bezug auf allgemeine sprachliche Fähigkeiten wurden keine Gruppenunterschiede zwischen Schülern mit und ohne Latein, am Beginn und nach zwei Jahren der Entscheidung dafür oder dagegen festgestellt. Dies entspricht den Ergebnissen bei Haag (2001). Zweijähriger Lateinunterricht zeigte in der vorliegenden Untersuchung also keine relevanten Auswirkungen auf die Fähigkeit zu schlussfolgerndem Denken. Für die Praxis sind die aus dieser Studie ableitbaren Schlussfolgerungen aufgrund des Untersuchungsdesigns allerdings mit Einschränkungen zu interpretieren: Eine anhand der Auswahl der Tests analog durchgeführte Längsschnittstatt der hier durchgeführten Querschnittsstudie ist zur Absicherung der Ergebnisse durchzuführen. In einer nachfolgenden Studie scheint es überdies sinnvoll, die eingesetzte Testbatterie auf Schüler mit noch längerer Lateinlerndauer anzuwenden. In der vorliegenden Untersuchung war dies nicht möglich, da das Schulsystem in Österreich eine entsprechende (ex-post-facto-) experimentelle Variation verbietet. Auch dem Alter, in dem Latein gelernt wird, mag zukünftig weitere Beachtung zu schenken sein (vgl. Klauer, 1975). Für die hier untersuchte Schulform ist festzu- Neunte Klassen Elfte Klassen L KL L KL Eingesetzte Tests M SD M SD M SD M SD Topologies (CFT 20) 9.91 3.94 11.33 3.48 11.73 2.93 11.73 2.80 META .62 .64 .73 .78 1.00 .76 1.02 .77 Rechnen in Symbolen 4.89 1.62 5.59 2.08 6.21 1.67 5.50 1.64 Syllogismen 7.45 3.21 8.10 2.66 9.04 2.61 9.46 2.00 Sprichwörter (MIT) 3.45 1.43 3.31 1.68 4.00 1.40 3.70 1.35 LEWITE 3.53 2.26 3.94 2.00 5.75 2.23 5.04 2.85 Synonyme 3.79 2.31 4.09 2.24 5.36 2.00 5.70 2.66 Tabelle 1: Mittelwerte und Standardabweichungen (in Klammern) der erzielten Testwerte in den vier untersuchten Gruppen Anmerkungen: L = mit Lateinunterricht; KL = kein Lateinunterricht; M = Mittelwert; SD = Standardabweichung; META = Erkennen von Metaregeln; CFT 20 = Grundintelligenz Skala 2; MIT = Mannheimer Intelligenztest; LEWITE = Lexikon-Wissen-Test. Lateinunterricht und schlussfolgerndes Denken 195 halten, dass keine Hinweise darauf gefunden werden konnten, dass Lateinlernen zumindest bei so spätem Beginn und kurzer Dauer einen erheblichen Fördereffekt im Sinne eines kognitiven Anregungs- und Entfaltungsprozesses in Bezug auf schlussfolgerndes Denken hat. Der besondere Wert der hier dargestellten Studie mag darin liegen, ein Anknüpfungspunkt für nachfolgende Untersuchungen zu sein, insbesondere ein Anstoß zur Anwendung moderner psychologisch-diagnostischer Erfassungsmethoden bei zukünftiger Untersuchung dieser und ähnlicher Fragestellungen. Literatur Carroll, J. B. (1993). Human cognitive abilities: A survey of factor analytic studies. New York: Academic Press. Conrad, W., Büscher, P., Hornke, L., Jäger, R., Schweizer, H., Stünzner v., W. et al. (1971). Mannheimer Intelligenztest (MIT). Weinheim: Beltz. Conrad, W., Büscher, P., Hornke, L., Jäger, R. S., Schweizer, H., von Stünzner, W. et al. (1986). Mannheimer Intelligenz Test (MIT). Weinheim: Beltz Test. Gatternig, J. & Kubinger, K. D. (1994). Erkennen von Meta-Regeln. Manual. Frankfurt/ M.: Swets Test Service. Gutacker, B. (1979). Fördert Lateinunterricht sprachliche Fertigkeiten im Deutschen? In K. J. Klauer & H.-J. Kornadt (Hrsg.), Jahrbuch für Empirische Erziehungswissenschaften 1979 (S. 9 - 32). Düsseldorf: Schwann. Haag, L. (1996). Wer sind die Lateinlerner? In E. Witruk & G. Friedrich (Hrsg.), Pädagogische Psychologie im Streit um ein neues Selbstverständnis. Landau: Verlag Empirische Pädagogik. Haag, L. (2001). Auswirkungen von Lateinunterricht - Ergebnisse nach zwei Lernjahren. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 48, 30 - 37. Haag, L. & Stern, E. (2000). Non scholae sed vitae discimus: Auf der Suche nach globalen und spezifischen Transfereffekten des Lateinunterrichts. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 14 (2/ 3), 146 - 157. Haag, L. & Stern, E. (2003). In search of the benefits of learning Latin. Journal of Educational Psychology, 95 (1), 174 - 178. Heller, K. A. & Perleth, C. (2000). Das Leistungsprüfsystem (LPS) von W. Horn. In K. A. Heller (Hrsg.), Begabungsdiagnostik in der Schul- und Erziehungsberatung (S. 161 - 169). Bern: Huber. Horn, W. (1983). LPS: Leistungsprüfsystem. Göttingen: Hogrefe. Johnson-Laird, P. N. & Byrne, R. (1992). Deduction. Hillsdale, NJ: Erlbaum. Klauer, K. J. (1975). Intelligenztraining im Kindesalter. Weinheim: Beltz. Kubinger, K. D. (2003). Skalierung. In K. D. Kubinger & R. S. Jäger (Hrsg.), Schlüsselbegriffe der Psychologischen Diagnostik (S. 387 - 390). Weinheim: Beltz. Kubinger, K. D. (2006). Psychologische Diagnostik - Theorie und Praxis psychologischen Diagnostizierens. Gottingen: Hogrefe. Kubinger, K. D. & Wurst, E. (2000). Adaptives Intelligenz Diagnostikum - Version 2.1 (AID 2). Weinheim: Beltz. Leopold, H. (Hrsg.). (1988). Latein im Computerzeitalter - Europareife durch humanistische Bildung. Wien: Wiener Humanistische Gesellschaft. Maier, F. (1994). Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt 1. Zur Theorie und Praxis lateinischen Sprachunterrichts. Bamberg: C. C. Buchners Verlag. Roth, E., Oswald, W. D. & Daumenlang, K. (1980). Intelligenz: Aspekte, Probleme, Perspektiven. Stuttgart: Kohlhammer. Schmotzer, C., Kubinger, K. D. & Maryschka, C. (1994). Rechnen in Symbolen. Manual. Frankfurt/ M.: Swets Test Service. Srp, G. (1994). Syllogismen. Manual. Frankfurt/ M.: Swets Test Services. Sternberg, R. J. (1996). Cognitive Psychology. Fort Worth, TX: Harcourt Brace College Publishers. Thorndike, E. L. (1923). The influence of first-year Latin upon ability to real English. School and Society, 15, 165 - 168. Thurstone, L. L. (1931). Multiple factor analysis. Psychological Review, 38, 406 - 427. Trost, G. (1975). Vorhersage des Schulerfolgs. Braunschweig: Westermann. Wagner-Menghin, M. M. (2004). Lexikon-Wissen-Test (LEWITE) [Software und Manual]. Mödling: Dr. G. Schuhfried GmbH. Weeber, K.-W. (1998). Mit dem Latein am Ende? Tradition mit Perspektiven. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Weiß, R. H. (1998). Grundintelligenztest Skala 2 (CFT 20). Göttingen: Hogrefe. Mag. Dr. Tuulia M. Ortner Arbeitsbereich Differentielle und Persönlichkeitspsychologie, Psychologische Diagnostik und Intervention Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie Freie Universität Berlin Habelschwerdter Allee 45 D-14195 Berlin E-Mail: ortner@zedat.fu-berlin.de Tel.: ++49-30-8 38-5 56 49 Fax: ++49-30-8 38-5 56 47 Mag. Martina Asanger Univ.-Prof. Dr. Mag. Klaus D. Kubinger Fakultät für Psychologie Universität Wien Liebiggasse 5 A-1010 Wien Mag. Dr. René T. Proyer Fachrichtung Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik Universität Zürich Binzmühlestrasse 14/ 7 CH-8050 Zürich E-Mail: r.proyer@psychologie.unizh.ch
