Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Familiäre Bedingungen und individuelle Prädiktoren der Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern
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2008
Jan Retelsdorf
Jens Möller
Die Lesekompetenz hängt zum einen von familiären Bedingungen wie dem sozioökonomischen Status, dem Bildungshintergrund und den gemeinsamen sprachlichen Aktivitäten von Eltern und Kindern ab. Zum anderen sind auf der individuellen Ebene motivationale und kognitive Voraussetzungen wichtig. In der vorliegenden Arbeit werden die Zusammenhänge dieser Variablen mit der Lesekompetenz von Fünftklässlern im Rahmen des Erwartungs-Wert-Modells der Lesemotivation mittels Strukturgleichungsanalysen überprüft. Dafür wird in Studie 1 an N = 326 Schülern und Eltern ein Zusammenhangsmodell entwickelt, das an einer zweiten Stichprobe (N = 1244 Schülern und Eltern) in Studie 2 validiert wird. Es zeigt sich, dass der soziale Hintergrund vor allem über die gemeinsamen sprachlichen Aktivitäten von Eltern und Kindern auf die Lesemotivation und das Leseselbstkonzept wirkt. Diese motivationalen Merkmale hängen wie die kognitive Grundfähigkeit mit der Lesekompetenz der Schüler zusammen. Die Befunde liefern wichtige Hinweise für außerschulische Möglichkeiten der Leseförderung.
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n Empirische Arbeit Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2008, 55, 227 - 237 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Family Conditions and Individual Predictors for Students’ Reading Comprehension Summary: Reading comprehension depends on students’ family background as well as on individual predictors. Important family conditions are the socio-economic status, parents’ level of education, and language-related joint activities by parents and their children. Among individual predictors, motivational and cognitive determinants are to be stressed. In this research we investigated these variables’ relations to fifth graders’ reading comprehension in the context of the expectancy-value model of reading motivation using structural equation modeling. First (Study 1), we developed an association model with N = 326 students and their parents, which is validated with a second sample of N = 1244 students and parents (Study 2). Analyses showed that the social background influences reading motivation and self-concept mainly through the language-related joint activities. Then these motivational attributes and the cognitive ability affect students’ reading comprehension. These results give important information on extracurricular opportunities to encourage reading. Keywords: Reading Comprehension, reading motivation, family background, expectancy-value theory Zusammenfassung: Die Lesekompetenz hängt zum einen von familiären Bedingungen wie dem sozioökonomischen Status, dem Bildungshintergrund und den gemeinsamen sprachlichen Aktivitäten von Eltern und Kindern ab. Zum anderen sind auf der individuellen Ebene motivationale und kognitive Voraussetzungen wichtig. In der vorliegenden Arbeit werden die Zusammenhänge dieser Variablen mit der Lesekompetenz von Fünftklässlern im Rahmen des Erwartungs-Wert- Modells der Lesemotivation mittels Strukturgleichungsanalysen überprüft. Dafür wird in Studie 1 an N = 326 Schülern und Eltern ein Zusammenhangsmodell entwickelt, das an einer zweiten Stichprobe (N = 1244 Schülern und Eltern) in Studie 2 validiert wird. Es zeigt sich, dass der soziale Hintergrund vor allem über die gemeinsamen sprachlichen Aktivitäten von Eltern und Kindern auf die Lesemotivation und das Leseselbstkonzept wirkt. Diese motivationalen Merkmale hängen wie die kognitive Grundfähigkeit mit der Lesekompetenz der Schüler zusammen. Die Befunde liefern wichtige Hinweise für außerschulische Möglichkeiten der Leseförderung. Schlüsselbegriffe: Lesekompetenz, Lesemotivation, familiärer Hintergrund, Erwartungs-Wert- Theorie Familiäre Bedingungen und individuelle Prädiktoren der Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern Jan Retelsdorf, Jens Möller Universität Kiel Die Lesekompetenz von Schülern hängt wesentlich von ihrem familiären Hintergrund und ihren individuellen Voraussetzungen ab (für einen Überblick siehe z. B. Schiefele, Artelt, Schneider & Stanat, 2004). In früheren Untersuchungen zeigte sich auf der individuellen Ebene vor allem der Einfluss der kognitiven Grundfähigkeit auf die Lesekompetenz von Kindern, auch wenn andere individuelle und soziale Variablen berücksichtigt wurden (z. B. Baumert, Watermann & Schümer, 2003; Schaffner, Schiefele & Schneider, 2004). Zusätzlich klären motivationale Variablen einen Teil der Varianz der Lesekompetenz auf (Wigfield & Guthrie, 1997). Um diesen Zusammenhang von Motivation und Lesekompetenz in 228 Jan Retelsdorf, Jens Möller einen geeigneten theoretischen Rahmen zu stellen, haben Möller und Schiefele (2004) ein Erwartungs-Wert-Modell der Lesekompetenz formuliert, in dem das Leseselbstkonzept und die Lesemotivation die Einflüsse der sozialen Umwelt auf die Lesemenge und die Lesekompetenz vermitteln. Nach diesem Modell beeinflusst das Leseselbstkonzept als Erwartungskomponente die Lesemotivation positiv und hängt eng mit der Lesekompetenz zusammen (s. a. Prochnow,Tunmer, Chapman & Greaney, 2001). Die intrinsische Lesemotivation als Wertkomponente wirkt auf die Lesemenge und die Lesekompetenz (s. a. Guthrie, Wigfield, Metsala & Cox, 1999; Wigfield & Guthrie, 1997). Dass die Lesekompetenz zudem stark von familiären Variablen wie der sozioökonomischen Stellung (SES, socio-economic status) der Familie oder dem Bildungsniveau der Eltern abhängt, ist spätestens seit den Analysen zur Lesekompetenz in der PISA-Studie (z. B. Baumert et al., 2001; Schiefele et al., 2004) deutlich geworden. So zeigen Baumert und Schümer (2001; 2002) die besonders starke Schichtabhängigkeit der Lesekompetenz in Deutschland im Vergleich zu den übrigen Teilnehmerstaaten mit ähnlicher Sozialstruktur anhand des sozialen Gradienten (dem Regressionskoeffizienten der Lesekompetenz auf den SES). Die Ursache für solche soziokulturellen Disparitäten sieht Hurrelmann (2002; 2004) vor allem in den unterschiedlichen Lesekulturen der Familien, die sie als die wirksamste Instanz der Lesesozialisation betrachtet (Hurrelmann, 2004). Kinder entwickeln ihre Sprachbewusstheit demnach zum großen Teil durch vorschulische gemeinsame sprachliche Aktivitäten mit den Eltern, zu denen unterschiedliche Aspekte des spielerischen Umgangs mit Sprache gehören, wie z. B. Lieder singen, Wortspiele, gemeinsames Lesen, Geschichten erzählen etc. (Hurrelmann, Hammer & Nieß, 1993). Zudem gehört das Leseverhalten der Eltern zu den Faktoren, die die kindliche Lesekompetenz prägen (Hurrelmann, 2004). Solche Aspekte der familieninternen Kultur sind nach Serpell, Sonnenschein, Baker und Ganapathy (2002) für die Entwicklung der Lesekompetenz von Kindern sogar aussagekräftiger als ökonomische Indizes, die lediglich Auskunft über die materiellen Ressourcen einer Familie geben. In der vorliegenden Untersuchung soll in Anlehnung an Bonerad und Möller (2005) ein Modell überprüft werden, das Prädiktoren der Lesekompetenz auf der Ebene der Sozialstruktur (SES, Bildungsniveau der Eltern), der familiären Prozesse (gemeinsame sprachliche Aktivitäten in der Vorschulzeit, Lesemenge der Eltern) und der individuellen Voraussetzungen der Schüler (kognitive Grundfähigkeit, Leseselbstkonzept, intrinsische Lesemotivation, Lesemenge) integriert. Abbildung 1 (s. u.) fasst unsere Überlegungen zusammen: Zunächst nehmen wir direkte Effekte des Leseselbstkonzepts, der intrinsischen Lesemotivation und der kognitiven Grundfähigkeit auf die Lesekompetenz an. Dabei wird geprüft, ob die Wirkung des Selbstkonzepts und der Motivation über die Lesemenge der Schüler vermittelt ist. Zudem gehen wir davon aus, dass die Einflüsse der familiären Variablen durch die Lesemenge der Eltern und ihre gemeinsamen sprachlichen Aktivitäten mit ihren Kindern vermittelt sind. In Studie 1 wird das Modell an einer kleineren Stichprobe erstmalig geprüft; Studie 2 bedient sich einer repräsentativen Stichprobe, um die Bewährung des Modells zu untersuchen. Studie 1 Methode Stichprobe In Studie 1 wurden N = 392 Schülerinnen und Schüler (52.3 % weiblich) der vierten (37.5 %) und fünften (62.5 %) Klasse aus sieben Schulen (147 Grundschüler; 82 Hauptschüler; 47 Realschüler; 116 Gymnasiasten) in Schleswig-Holstein befragt. Das Durchschnittsalter betrug 11.26 Jahre (SD = 0.81). Den zugehörigen Elternfragebogen füllten N = 326 Eltern aus (83.2 %). Sie bilden gemeinsam mit ihren Kindern (53.7 % weiblich) die Stichprobe für die vorliegende Auswertung. 1 1 Wir danken Eva-Maria Bonerad für ihre Mitwirkung an den Datenerhebungen beider Studien. Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern 229 Variablen Sozioökonomischer Status In aktuellen Schulleistungsstudien wird der Sozioökonomische Status (SES, socio-economic status) von Familien in erster Linie über die Berufstätigkeit der Eltern erfasst (z. B. Baumert & Schümer, 2001; Maaz, Chang & Köller, 2004). Diese Berufsangaben werden dann entsprechend internationaler Vorgaben kodiert, wobei sich die Kodierung nach den ISCO- 88-Vorgaben (ILO, 1990) als Methode der Wahl herausgestellt hat. Auf Basis dieser ISCO-Codes lassen sich dann valide Berufsrangskalen für das Berufsprestige und die ökonomische Stellung eines Berufs bilden, mit denen die soziale Stellung von Familien bestimmt werden kann. Der geläufigste Index für das Berufsprestige, der sich aus dem ISCO-88 bilden lässt, ist der Treiman-Index oder Standard Index of Occupational Prestige Scale (SIOPS, Ganzeboom & Treiman, 1996; Treiman, 1977). Der Einsatz solcher Prestigemaße hat sich in vielen Untersuchungen bewährt und ist auch theoretisch begründet (Ganzeboom, De Graaf, Treiman & De Leeuw, 1992). Neben dem Ansehen eines Berufs hat sich der International Socio-Economic Index of Occupational Status (ISEI, Ganzeboom et al., 1992) als geeignetes Maß für seine ökonomische Stellung erwiesen, der sich ebenfalls aus dem ISCO-88 ableiten lässt. Als Indikatoren für den SES der Familie wurden in der vorliegenden Untersuchung jeweils der höchste ISEI und der höchste SIOPS der Familie herangezogen (vgl. Baumert & Schümer, 2002; Watermann & Baumert, 2006). Sowohl der ISEI als auch der SI- OPS können Werte zwischen 0 und 100 annehmen. Dass beide Indizes etwas Unterschiedliches messen, obwohl sie aus demselben Index abgeleitet werden und in der Regel hoch korrelieren, haben Maaz et al. (2004) grafisch veranschaulicht und an verschiedenen Beispielen belegt. So erreichen beispielsweise Verkäufer einen höheren ISEI als Krankenschwestern (d. h., sie verdienen mehr), das Berufsprestige (SIOPS) der Krankenschwestern ist aber höher. Berufliches Bildungsniveau der Eltern Das berufliche Bildungsniveau der Eltern wird wie die Variablen zum SES jeweils durch den höchsten beruflichen Bildungsabschluss in der Familie gekennzeichnet, der sich aus Schulabschluss und Ausbildung zusammensetzt. Dabei werden in Anlehnung an Studien, die im Rahmen der PISA-Erhebungen durchgeführt wurden (z. B. Baumert et al., 2003; Watermann & Baumert, 2006), sieben Abschlussniveaus unterschieden: 1) Hauptschulbesuch ohne Lehre, 2) Hauptschulbesuch mit Lehre, 3) Realschulbesuch mit und ohne Lehre, 4) Haupt- oder Realschulabschluss mit anschließendem Fachschulbesuch, 5) Abitur ohne Studium, 6) Fachhochschulabschluss und 7) Besuch einer wissenschaftlichen Hochschule. Gemeinsame sprachliche Aktivitäten Um die gemeinsamen vorschulischen sprachlichen Aktivitäten zwischen Eltern und ihren Kindern zu erfassen, wurden die Eltern in Anlehnung an die IGLU-Studie (Bos et al., 2005; Bos et al., 2003) danach gefragt, wie oft sie (oder andere im Haushalt lebende Erwachsene) folgende Tätigkeiten mit ihrem Kind durchgeführt haben, bevor es in die Grundschule kam: Bücher vorlesen, Geschichten erzählen, Lieder singen, Wortspiele spielen und über Gelesenes gemeinsam sprechen. Für jede der Tätigkeiten sollten die Eltern auf einer vierstufigen Skala von „nie oder fast nie“ (1) bis „sehr oft“ (4) angeben, wie häufig sie diese durchgeführt haben. Lesemenge Eltern/ Schüler Als Indikatoren für die selbst berichtete Lesemenge der Schüler wurden folgende Items aus der IGLU- Studie (Bos et al., 2005; Bos et al., 2003) gewählt: „Wie viel Zeit verbringst du normalerweise jeden Tag damit, zu deinem Vergnügen zu lesen? “. Die Antwortalternativen für dieses Item reichten von „Ich lese nicht zum Vergnügen“ (1) bis „mehr als zwei Stunden täglich“ (5). Zum anderen wurden sie gefragt „Wie oft liest du in deiner Freizeit (nicht für die Schule) deutsche Texte? “. Hier reichten die Antworten von „nie oder fast nie“ (1) bis „täglich“ (5). Für die Erfassung der Lesemenge der Eltern wurden analog zwei Indikatoren aus dem IGLU-Elternfragebogen eingesetzt. Zum einen sollten sie die Frage „Wie viel Zeit verwenden Sie in einer normalen Woche darauf, zu Hause für sich selbst zu lesen, einschließlich Bücher, Zeitschriften, Zeitungen und Arbeitsmaterialien? “ auf einer vierstufigen Skala von „weniger als eine Stunde pro Woche“ (1) bis „mehr als 10 Stunden pro Woche“ (4) beantworten. Zum anderen sollten sie angeben, wie oft sie zu Hause zum Vergnügen lesen (von „nie oder fast nie“ (1) bis „jeden Tag oder fast jeden Tag“ (4)). 230 Jan Retelsdorf, Jens Möller Leseselbstkonzept und intrinsische Lesemotivation Das Leseselbstkonzept und die intrinsische Lesemotivation wurden mit Skalen aus dem Fragebogen zur habituellen Lesemotivation (FHLM, Möller & Bonerad, 2007) erfasst. Der FHLM erfasst die tätigkeitsbezogene Komponente der intrinsischen Lesemotivation als Leselust (5 Items, z. B.: „Es macht mir Spaß, Bücher zu lesen“) und die gegenstandsbezogene Komponente als Lesen aus Interesse (6 Items, z. B.: „Ich lese, um Neues über Themen zu erfahren, die mich interessieren“). Die beiden Subskalen wurden in unseren Analysen als Indikatoren für die intrinsische Lesemotivation eingesetzt. Das Leseselbstkonzept wurde mit vier Items erfasst (z. B.: „Ich kann Texte sehr gut und schnell verstehen“). Die Items waren auf einer vierstufigen Skala von „stimmt gar nicht“ (1) bis „stimmt genau“ (4) zu beantworten. Kognitive Grundfähigkeit Zur Erfassung der kognitiven Grundfähigkeit wurde der Untertest Figurenanalogien (Untertest N 2) aus dem Kognitiven Fähigkeitstest für 4. bis 12. Klassen, Revision (KFT 4 - 12 + R, Heller & Perleth, 2000) eingesetzt. Dieser Untertest besteht aus 30 Items und erfasst induktives Denken. Die richtigen Antworten der einzelnen Items werden mit 1 kodiert und aufsummiert, sodass der Summenscore Werte zwischen 0 und 30 annehmen kann. Lesekompetenz Zur Erfassung der Lesekompetenz wurden die Texte „Mäuse auf dem Kopf“ und „Die Nächte der jungen Papageientaucher“ aus der IGLU-Studie (Bos et al., 2005; Bos et al., 2003) gewählt. 2 Zu beiden Texten wurden sowohl offene als auch geschlossene Fragen gestellt, deren Antworten dann jeweils zu einem gemeinsamen Summenscore addiert werden können. Für beide Texte können Werte zwischen 0 und 17 erreicht werden. Die Kennwerte und Interkorrelationen der in Studie 1 verwendeten Skalen sind in Tabelle 1 dargestellt. Die Reliabilitäten sind dabei mit Ausnahme der Lesemenge hinreichend oder besser. 2 Vielen Dank an Wilfried Bos für die zur Verfügung gestellten Materialien. M SD a 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 01. ISEI 47.98 17.24 - 02. SIOPS 44.55 14.73 - .89*** 03. Bildungsniveau 4.33 1.95 - .64*** .62*** 04. Gem. sprachl. Akt. 2.61 0.58 .71 .34*** .37*** .28*** 05. Lesemenge Eltern 3.10 0.75 .61 .31*** .34*** .31*** .38*** 06. Lesemenge Schüler 3.16 1.14 .51 .19*** .19*** .15** .22*** .10 07. Leseselbstkonzept 3.04 0.68 .75 .22*** .26*** .21*** .19** .08 .34*** 08. Leselust 3.02 0.84 .88 .24*** .22*** .24*** .26*** .20*** .57*** .39*** 09. Lesen aus Interesse 3.23 0.53 .70 .03 .03 .05 .08 .08 .35*** .17** .53*** 10. Kognitive Grund. 19.69 7.81 .94 .26*** .21*** .31*** .11* .12* .11* .12* .16** .03 11. Papageientaucher 9.09 3.48 .72 .36*** .38*** .43*** .26*** .24*** .29*** .34*** .32*** .17** .43*** 12. Mäusetext 12.33 2.95 .72 .31*** .30*** .34*** .26*** .25*** .24*** .34*** .27*** .12* .41*** .68*** Tabelle 1: Skalenkennwerte und Korrelationen in Studie 1 (N = 326) Anmerkungen: Gem. sprachl. Akt. = Gemeinsame sprachliche Aktivitäten; Kognitive Grund. = Kognitive Grundfähigkeit * p < .05; ** p < .01; *** p < .001 Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern 231 Statistische Analysen Umgang mit fehlenden Werten Sowohl in Studie 1 als auch in Studie 2 wurden fehlende Daten mittels multipler Imputation ersetzt. Bei diesem Verfahren, das in der jüngeren Literatur als „state-of-the-art“-Methode empfohlen wird (z. B. Graham, Cumsille & Elek-Fisk, 2003; Schafer & Graham, 2002), werden mehrere (m) plausible Werte für die fehlenden Daten geschätzt, sodass man m vollständige Datensätze erhält. Die statistischen Auswertungen werden dann für jeden vollständigen Datensatz getrennt durchgeführt und anschließend nach den Regeln von Rubin (1987) zu einem Gesamtergebnis kombiniert. Dabei hat sich gezeigt, dass meist schon eine geringe Anzahl von Schätzungen ausreicht, um sehr effiziente Schätzungen zu erhalten (z. B. Rubin, 1987; Schafer & Olsen, 1998). Die multiple Imputation wurde mit der Software NORM 2.03 (Schafer, 1999) durchgeführt. Es wurden jeweils m = 5 Werte für jeden fehlenden Wert geschätzt. Der Durchschnitt der fehlenden Werte lag in Studie 1 bei 2.8 % pro Variable. Bei der Beurteilung der Konvergenz der Imputationen nach Schafer und Olsen (1998) ergaben sich keine Auffälligkeiten. Strukturgleichungsanalysen Zur Analyse der Zusammenhangsmodelle wurden Strukturgleichungsanalysen (SEM, Structural Equation Modeling) mit der Software Mplus 3.01 (Muthén & Muthén, 2004) berechnet. Mplus kann dabei mehrere Datensätze gleichzeitig verarbeiten und die Ergebnisse automatisch nach Rubin (1987) kombinieren. In unserem Modell wurden die Variablen außer der kognitiven Grundfähigkeit und dem beruflichen Bildungsniveau als latente Variablen modelliert. In Studie 1 wurde zunächst das theoretische Ausgangsmodell modelliert (siehe Abbildung 1). Im weiteren Vorgehen wurden dann die nicht signifikanten Pfade sukzessiv entfernt (model trimming), um letztlich ein Modell zu erhalten, das möglichst gut zu den Daten passt und dem Kriterium der Parsimonität genügt (vgl. Kline, 2005). Dabei ist zu beachten, dass der Fit eines Modells in der Regel insgesamt schlechter wird, wenn Pfade entfernt werden, da unter anderem die c 2 -Statistik ansteigt. Kline (2005) rät daher, einen c 2 -Differenztest zwischen dem Ausgangsmodell und dem „getrimmten“ Modell durchzuführen, um zu überprüfen, ob der Fit signifikant schlechter geworden ist. Liegt eine signifikante Verschlechterung vor, wurde zumindest ein Pfad entfernt, für den dies empirisch nicht gerechtfertigt ist. Ergebnisse Das Ausgangsmodell zeigte bereits eine gute Anpassung an die Daten (c 2 (170) = 287.36; CFI = .950; TLI = .938; RMSEA = .046; SRMR = .052). 3 Ausgehend von diesem Modell wurden nichtsignifikante Pfade schrittweise entfernt. Dabei fielen die postulierten direkten Zusammenhänge der Lesekompetenz mit dem SES und der intrinsischen Lesemotivation weg. Auch die Zusammenhänge der gemeinsamen sprachlichen Aktivitäten mit der beruflichen Bildung und der intrinsischen Lesemotivation wurden nicht signifikant. Schließlich wurden die Pfade zwischen dem SES und der kognitiven Grundfähigkeit sowie zwischen der Lesemenge der Eltern und dem Leseselbstkonzept aus dem Modell entfernt. Für das resultierende Modell, das keine nichtsignifikanten Pfade mehr enthält, zeigte sich ebenfalls eine gute Anpassung (c 2 (176) = 294.40; CFI = .949; TLI = .940; RMSEA = .045; SRMR = .054). Im c 2 -Differenztest ergab sich kein signifikanter Unterschied zwischen dem Ausgangsmodell und dem finalen Modell (c 2 (6) = 7.03; ns), sodass das sparsamere Modell angenommen werden kann. In diesem Modell lässt sich die Lesekompetenz der Schüler (s. Abbildung 1) direkt vorhersagen aus der beruflichen Bildung der Eltern, der kognitiven Grundfähigkeit, dem Leseselbstkonzept, und der Lesemenge der Schüler. Der Zusammenhang des SES mit der Lesekompetenz ist durch die gemeinsamen sprachlichen Aktivitäten und die elterliche Lesemenge vermittelt. Beide sind wiederum mit dem Leseselbstkonzept bzw. der intrinsischen Lesemotivation korreliert. Diese beiden motivationalen Faktoren bestimmen über die Lesemenge die Lesekompetenz mit. Insgesamt werden 48 % der Varianz der Lesekompetenz aufgeklärt. 3 Aus Platzgründen werden die Ergebnisse des Ausgangsmodells hier nicht im Detail berichtet. Bei Interesse können Sie von den Autoren angefordert werden. 232 Jan Retelsdorf, Jens Möller Diskussion Ziel von Studie 1 war es, ein Modell zu entwickeln und zu prüfen, das Zusammenhänge zwischen familiären Hintergrundvariablen und individuellen Voraussetzungen bei der Vorhersage der Lesekompetenz von Schülern berücksichtigt. Dabei sollte unter anderem geklärt werden, durch welche Prozesse die Zusammenhänge des SES und des familiären Bildungsniveaus mit der Lesekompetenz vermittelt sind. Zusammenfassend lässt sich das resultierende Modell als Beleg dafür werten, dass die familiären Hintergrundvariablen (SES, Bildungsniveau) über sprachbezogene Tätigkeiten in der Familie (Lesemenge der Eltern, gemeinsame sprachliche Aktivitäten) auf die Lesemotivation und -menge der Schüler sowie auf ihre Lesekompetenz wirken. Eine mögliche Einschränkung unserer Ergebnisse bezieht sich auf die unzureichende Reliabilität bei der Erfassung der Lesemenge (vor allem seitens der Schüler). In den weiteren Analysen ergibt sich aber dennoch eine sehr gute Anpassung unseres Modells an die Daten und auch die Faktorladungen für die entsprechenden latenten Variablen sind zufriedenstellend (alle > .55, vgl. Kline, 2005), sodass sich auch für diese Konstrukte plausible und gut interpretierbare Zusammenhänge ergeben. Die hier erzielte Reliabilität ist auch mit der von Guthrie et al. (1999) berichteten (.52) vergleichbar, die die Lesemenge ebenfalls mit zwei Items erfasst haben. Auf das Problem der Erfassung der Lesemenge wird in der Gesamtdiskussion ausführlicher eingegangen. In einer weiteren Studie wird das resultierende Modell an einer umfangreicheren Stichprobe erneut getestet, um die Generalisierbarkeit der Ergebnisse zu überprüfen. Studie 2 Methode Stichprobe In Studie 2 wurden N = 1455 Schülerinnen und Schüler (50.6 % Mädchen) aus 60 fünften Schulklassen der weiterführenden Schularten Haupt-, Real-, Abbildung 1: Ergebnisse der resultierenden Strukturgleichungsmodelle (nicht signifikante Pfade sind gestrichelt dargestellt und wurden sukzessiv aus dem Modell entfernt). Oberhalb des Strichs: Parameter aus Studie 1 (N = 326); unterhalb: Parameter aus Studie 2 (N = 1244). * p < .05; ** p < .01; *** p < .001 + p = .058 Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern 233 Gesamtschule und Gymnasium befragt. Das Durchschnittsalter betrug 10.87 Jahre (SD = 0.56). Die Daten wurden im Rahmen der von der DFG geförderten Längsschnittstudie „Lesen in der Sekundarstufe“ (Mo 648/ 15-1; Möller & Bonerad, 2005) erhoben. Es handelt sich um eine für Schleswig-Holstein repräsentative Stichprobe von Schulklassen, die in einem zweistufig stratifizierten Cluster-Design gezogen wurde (erste Stufe: Ziehung der Schulen; zweite Stufe: Ziehung der Klassen). Den zugehörigen Elternfragebogen füllten N = 1244 Eltern aus (85.5 %). Die Stichprobe für die vorliegende Auswertung besteht folglich aus den Daten der N = 1244 Schülerinnen und Schüler (50.2 % Mädchen), deren Eltern einen Fragebogen ausgefüllt haben. Variablen In Studie 2 wurden dieselben Variablen wie in Studie 1 erhoben. Die einzige Änderung betrifft die Erfassung der kognitiven Grundfähigkeit, die in Studie 2 mit den beiden Paralleltestformen A und B des Untertests Figurenanalogien aus dem KFT 4 - 12 + R (Heller & Perleth, 2000) erfasst wurden. Die Reliabilitäten sind auch in Studie 2 meist ausreichend oder besser. Einen Überblick über die Kennwerte der Skalen in Studie 2 bietet Tabelle 2. Statistische Analysen Auch in Studie 2 wurden fehlende Werte mittels multipler Imputation ersetzt (s. o.). Dabei war der Anteil an Fehlwerten pro Variable mit durchschnittlich 3.5 % erneut niedrig. Die Beurteilung der Konvergenz (Schafer & Olsen, 1998) ergab auch hier keine Auffälligkeiten. In Studie 2 wurde das in Studie 1 entwickelte Modell an einer größeren Stichprobe mittels SEM mit der Software Mplus 3.01 (Muthén & Muthén, 2004) überprüft. Ergebnisse Das in Studie 1 entwickelte Modell zeigt auch in Studie 2 eine gute Anpassung an die Daten (c 2 (176) = 552.36; CFI = .951; TLI = .942; RMSEA = .041; SRMR = .051). Bis auf den Zusammenhang von Leseselbstkonzept und Lesemenge der Schüler (.09; p = .058) werden M SD a 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 01. ISEI 50.80 16.61 - 02. SIOPS 47.78 13.25 - .88*** 03. Bildungsniveau 4.46 1.75 - .66*** .66*** 04. Gem. sprachl. Akt. 2.66 0.57 .72 .22*** .21*** .27*** 05. Lesemenge Eltern 3.08 0.71 .65 .24*** .24*** .23*** .31*** 06. Lesemenge Schüler 3.32 1.09 .63 .18*** .17*** .20*** .18*** .09** 07. Leseselbstkonzept 3.07 0.68 .73 .20*** .21*** .21*** .20*** .08** .28*** 08. Leselust 3.17 0.81 .88 .13*** .14*** .20*** .20*** .08** .60*** .35*** 09. Lesen aus Interesse 3.35 0.54 .73 -.03 -.03 .04 .09** .01 .39*** .17*** .51*** 10. Kog. Grund. (A/ B) a 19.91 7.49 .98 a .15*** .14*** .15*** .07* .11*** .11*** .11*** .10*** -.04 11. Papageientaucher 9.70 3.33 .70 .27*** .25*** .28*** .22*** .17*** .23*** .31*** .27*** .07* .37*** 12. Mäusetext 12.18 2.77 .72 .25*** .23*** .29*** .19*** .14*** .17*** .30*** .22*** .01 .37*** .60*** Tabelle 2: Skalenkennwerte und Korrelationen in Studie 2 (N = 1244) Anmerkungen: Gem. sprachl. Akt. = Gemeinsame sprachliche Aktivitäten; Kog. Grund. = Kognitive Grundfähigkeit. a Da die beiden Testformen als Parallelformen gelten, wurden sie hier gemeinsam analysiert. Lediglich Cronbachs a wurde für beide Skalen getrennt berechnet - es ergab sich aber der gleiche Wert für beide Testformen. * p < .05; ** p < .01; *** p < .001 234 Jan Retelsdorf, Jens Möller alle Pfade des angepassten Modells aus Studie 1 auch in der zweiten Stichprobe signifikant. Die Lesekompetenz lässt sich wieder direkt aus dem Bildungsniveau der Familie, der kognitiven Grundfähigkeit, dem Leseselbstkonzept und der Lesemenge der Schüler vorhersagen. Der Zusammenhang des SES mit der Lesekompetenz ist wie in Studie 1 durch die gemeinsamen sprachlichen Aktivitäten, die elterliche Lesemenge und durch das Leseselbstkonzept vermittelt. Das Selbstkonzept ist sowohl direkt als auch über die intrinsische Lesemotivation mit der Lesekompetenz assoziiert. Für einige Beziehungen ergeben sich niedrigere Zusammenhänge als in Studie 1. So ist die Korrelation der Lesemenge mit der Lesekompetenz nur noch gering ausgeprägt (.09; p < .05). Gleiches gilt für den Zusammenhang der elterlichen Lesemenge mit der intrinsischen Motivation (.09; p < .05). Der direkte Pfad von Leseselbstkonzept und Lesemenge der Schüler wird in Studie 2 nicht signifikant - der Zusammenhang ist aber über die intrinsische Motivation vermittelt. Die Varianzaufklärung der Lesekompetenz liegt mit 42 % ähnlich hoch wie in Studie 1. Die Modellparameter sind zusammenfassend in Abbildung 1 dargestellt (s. o.). Diskussion In Studie 2 konnten die Ergebnisse aus Studie 1 fast vollständig repliziert werden. Das Modell erreicht erneut eine gute Anpassung an die Daten und fast alle Pfade aus dem resultierenden Modell in Studie 1 werden signifikant - auch wenn die Zusammenhänge teilweise etwas niedriger ausfallen. So zeigt sich auch in Studie 2 die Wirkung der strukturellen Hintergrundvariablen (SES, Bildungsniveau) über die Prozesse in der Familie (Lesemenge der Eltern, gemeinsame sprachliche Aktivitäten) und über die individuellen Merkmale der Schüler (kognitive Grundfähigkeit, intrinsische Lesemotivation, Leseselbstkonzept, Lesemenge) auf ihre Lesekompetenz. Gesamtdiskussion In der vorliegenden Arbeit wurden zwei Untersuchungen mit dem Ziel durchgeführt, ein Modell zu entwickeln, das soziale Hintergrundmerkmale der Familie und individuelle Determinanten bei der Erklärung der Lesekompetenz von Schülern integriert. Dafür wurde ein theoretisches Modell aufgrund der Ergebnisse früherer Studien entwickelt, an einer ersten Stichprobe getestet und modifiziert und an einer zweiten Stichprobe validiert. Zusammengefasst ergab sich ein Modell zur Vorhersage der Lesekompetenz, das aus drei Ebenen besteht: den sozialen Strukturmerkmalen, den familiären Prozessen und den individuellen Merkmalen der Schüler. Der soziale Hintergrund hängt im Wesentlichen auf zwei Wegen mit der Lesekompetenz der Schüler zusammen: Zum einen bestimmen die sozialen Gegebenheiten der Familie (SES und Bildungsniveau) wie viel Eltern lesen und die gemeinsamen sprachlichen Aktivitäten (z. B. gemeinsames Lesen von Büchern, Wortspiele) mit ihren Kindern. Dieser Umgang mit Sprache innerhalb der Familie scheint - wie von Möller und Schiefele (2004) postuliert - die Erwartungen (Leseselbstkonzept) und Werte (intrinsische Lesemotivation) der Kinder in Bezug auf das Lesen und dadurch letztlich ihre Lesemenge und Lesekompetenz zu fördern. Der andere Weg führt vom elterlichen Bildungsniveau - teilweise über die kognitive Fähigkeit der Kinder - zur Lesekompetenz. Dabei erweist sich in beiden Studien die kognitive Fähigkeit wie auch bei Baumert et al. (2003) oder Schaffner et al. (2004) als stärkster Prädiktor der Lesekompetenz. Auffällig in dem Modell ist die zentrale Stellung, die das Leseselbstkonzept innerhalb der individuellen Ebene einnimmt. So ist es nach der kognitiven Grundfähigkeit der stärkste Prädiktor der Lesekompetenz und korreliert darüber hinaus mit der intrinsischen Lesemotivation und der Lesemenge der Schüler. Dieser Befund fügt sich dabei in eine Reihe anderer Untersuchungen ein, in denen sich das Selbstkonzept immer wieder als bedeutender Prädiktor von Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern 235 Schulleistungen erweist (für einen Überblick siehe z.B. Valentine, DuBois & Cooper, 2004). Das Leseselbstkonzept hängt nach den vorliegenden Ergebnissen mit den gemeinsamen sprachlichen Aktivitäten von Eltern und Kindern zusammen. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass der frühe spielerische Umgang mit Sprache nicht nur wie bei Hurrelmann (2004) postuliert die Sprachbewusstheit der Kinder fördert, sondern ihnen darüber hinaus ein gewisses Kompetenzerleben vermittelt, durch das Kinder ein positives sprachliches Selbstkonzept entwickeln. So könnten für die Genese akademischer Selbstkonzepte über frühere Schulleistungen hinaus (vgl. Möller & Köller, 2004) auch Prozesse innerhalb der Familie relevant sein. Nicht optimal gelöst werden konnte in unseren Studien das Problem der geeigneten Erfassungsmethode der Lesemenge. Diese Problematik spiegelt sich in der vorliegenden Untersuchung in den niedrigen Reliabilitäten der entsprechenden Instrumente wider. Die unzureichende Zuverlässigkeit könnte auch Grund für den niedrigen Zusammenhang der Lesemenge mit der Lesekompetenz in unserem Modell sein. In der Literatur werden verschiedene Erhebungsmethoden für Lesegewohnheiten und Lesemenge diskutiert (z. B. Allen, Cipielewski & Stanovich, 1992; Cunningham & Stanovich, 1997; Wigfield & Guthrie, 1997). Tagebücher gelten dabei als valide Möglichkeit der Erfassung der Lesemenge, sind aber aufgrund des hohen Aufwands nur bei relativ kleinen Stichproben einsetzbar. Auch Varianten wie der Author bzw. Title Recognition Test (Allen et al., 1992) führen gerade in Längsschnittstudien zu Problemen, da die Kenntnis von Buchtiteln und Autoren mit der Zeit zunehmen kann, ohne dass Schüler tatsächlich mehr lesen (vgl. Wigfield & Guthrie, 1997). Bei der Erfassung per Fragebogen ergibt sich ein enger Zusammenhang mit den Angaben der Schüler zur Lesemotivation, da durch die Frage nach der aufgewendeten Lesezeit Ähnliches wie die Lesemotivation erfasst wird (z. B. Allen et al., 1992). Da die Unterscheidung von Lesemotivation und Lesemenge aber theoretisch sinnvoll und interessant ist (z. B. Guthrie et al., 1999; Möller & Schiefele, 2004), haben wir trotz der beschriebenen Probleme versucht, die Lesemenge in unserem Modell zu berücksichtigen. Darüber hinaus sei auf eine weitere mögliche Einschränkung der Generalisierbarkeit unserer Ergebnisse hingewiesen: Die Datenerhebungen wurden mit Schülern der vierten und fünften (Studie 1) bzw. der fünften (Studie 2) Klassenstufe und ihren Eltern durchgeführt. Daraus ergibt sich zunächst vor allem eine Bedeutung der Befunde für diese Altersgruppen. Zudem sollten die Eltern die gemeinsamen sprachlichen Aktivitäten in ihrem Fragebogen rückblickend einschätzen. Solche retrospektiven Antworten können Verzerrungen unterliegen (s. a. Hurrelmann, 2004). Dennoch geben unsere Ergebnisse Hinweise auf die Bedeutung der vorschulischen Aktivitäten für die Lesekompetenz. Da die vorliegende Untersuchung als Korrelationsstudie darüber hinaus keine kausalen Schlussfolgerungen zulässt, sollten die gefundenen Zusammenhänge in künftigen Untersuchungen längsschnittlich geprüft und möglichst mit Beobachtungsdaten zur Eltern- Kind-Interaktion kombiniert werden. Welche Implikationen haben die Ergebnisse für die Praxis der Leseförderung? Zunächst ist zu erwähnen, dass gerade das Selbstkonzept durch gezielte Maßnahmen gefördert werden kann (Streblow, 2004). So könnten Schüler in Trainings lernen, Leistungsrückmeldungen selbstwertdienlich zu attribuieren. Darüber hinaus könnten Lehrkräfte durch eine stärkere individuelle Bezugsnormorientierung die Vergleichsperspektiven ihrer Schüler positiv beeinflussen. Die Zusammenhänge der Lesekompetenz mit den familiären Hintergrundvariablen zeigen die Wichtigkeit der Leseförderung außerhalb der Schule. Dafür können Programme konzipiert werden, in denen Eltern direkt in die Förderung der Lesemotivation und Lesekompetenz ihrer Kinder einbezogen und gleichzeitig für die Wichtigkeit der allgemeinen Lesekultur innerhalb der Familie sensibilisiert werden (s. a. McElvany & Artelt, 2007). 236 Jan Retelsdorf, Jens Möller Literatur Allen, L., Cipielewski, J. & Stanovich, K. E. (1992). Multiple indicators of children’s reading habits and attitudes: Construct validity and cognitive correlates. Journal of Educational Psychology, 84, 489 - 503. Baumert, J., Klieme, E., Neubrand, M., Prenzel, M., Schiefele, U., Schneider, W. et al. (Hrsg.). (2001). PISA 2000: Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Baumert, J. & Schümer, G. (2001). Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb. In J. Baumert, E. Klieme, M. Neubrand, M. Prenzel, U. Schiefele, W. Schneider, P. Stanat, K.-J. Tillmann & M. 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