eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 55/1

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Beratung bei (vermuteter) Hochbegabung: Was sind die Anlässe und wie hängen sie mit Geschlecht, Ausbildungsstufe und Hochbegabung zusammen?

11
2008
Franzis Preckel
Christina Eckelmann
Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit Beratungsanlässen in der Hochbegabtenberatung bei 440 an der Begabungspsychologischen Beratungsstelle der LMU München vorgestellten Kindern (28.5 % weiblich; Kindergarten bis Klasse 7). Beratungsanlässe wurden über Fragebogen und im Beratungsgespräch erfasst, die Intelligenz mittels Testverfahren. Es wurde überprüft, inwieweit sich die Beratungsanlässe in Abhängigkeit von Geschlecht, Ausbildungsstufe und Hochbegabung der Kinder verteilen. Während sich für Jungen und Mädchen überwiegend vergleichbare Beratungsanlässe zeigten, erwiesen sich einige der Beratungsanlässe als abhängig von Ausbildungsstufe und Begabungsgruppe (IQ = 130 versus IQ < 130). Die Ergebnisse werden hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Ausbildung von Beratungspersonal diskutiert.
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n Empirische Arbeit Die Beratung hochbegabter Kinder und Jugendlicher hat in Deutschland innerhalb der letzten 20 Jahre stark an Bedeutung gewonnen. Um die Effizienz der Beratungstätigkeit steigern zu können, sind folgende Aspekte von großer Bedeutung: das Beratungssetting, Kenntnisse über die Beratungsbedürfnisse der Klientel, die Kompetenzen der Beraterinnen und Berater und angemessene Interventionsmaßnahmen (Wittmann, 2003). Die vorliegende Untersuchung greift den Aspekt der Beratungsanliegen heraus. Je ausführlichere Informationen zu den Beratungsanlässen vorliegen, umso besser lässt sich die Beratungstätigkeit wie auch die Aus- und Weiterbildung der Beratenden auf die Bedürfnisse der Klientinnen und Klienten abstimmen. Bislang liegen nur wenige deutschsprachige Publikationen zu Beratungsanlässen in der Hochbegabtenberatung vor (s. a. Pruisken & Fridrici, 2005). Die hier vorgestellte Untersuchung wurde an der Begabungspsychologischen Beratungsstelle der LMU München durchgeführt. Damit sind die Befunde nicht auf ande- Beratung bei (vermuteter) Hochbegabung: Was sind die Anlässe und wie hängen sie mit Geschlecht, Ausbildungsstufe und Hochbegabung zusammen? Franzis Preckel Christina Eckelmann Universität Trier Ludwig-Maximilians-Universität München Counselling the Gifted and Talented: What are the Reasons and how are they Related to Gender, Grade Level, and Giftedness? Summary: In this study reasons for counselling the gifted and talented are investigated. The sample comprised 440 children (28.5 % female) from a counselling centre for the gifted and talented. Reasons for counselling were assessed by a questionnaire and within the counselling sessions. Intelligence was tested with IQ-tests. It was examined how the reasons for counselling are related to children’s gender, grade level (Kindergarten up the grade level 7), and intelligence (gifted versus non gifted). For boys and girls very similar reasons for counselling were found. However, some reasons are related to grade level and giftedness. Results are discussed with respect to practical implications for counsellor education and training. Keywords: Giftedness, counselling, gender differences Zusammenfassung: Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit Beratungsanlässen in der Hochbegabtenberatung bei 440 an der Begabungspsychologischen Beratungsstelle der LMU München vorgestellten Kindern (28.5 % weiblich; Kindergarten bis Klasse 7). Beratungsanlässe wurden über Fragebogen und im Beratungsgespräch erfasst, die Intelligenz mittels Testverfahren. Es wurde überprüft, inwieweit sich die Beratungsanlässe in Abhängigkeit von Geschlecht, Ausbildungsstufe und Hochbegabung der Kinder verteilen. Während sich für Jungen und Mädchen überwiegend vergleichbare Beratungsanlässe zeigten, erwiesen sich einige der Beratungsanlässe als abhängig von Ausbildungsstufe und Begabungsgruppe (IQ ≥ 130 versus IQ < 130). Die Ergebnisse werden hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Ausbildung von Beratungspersonal diskutiert. Schlüsselbegriffe: Hochbegabung, Beratung, Geschlechterunterschiede Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2008, 55, 16 - 26 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel re Beratungsstellen zu Hochbegabung generalisierbar; sie werden jedoch in Hinblick auf die Befunde, die für andere Beratungsstellen vorliegen, vergleichend eingeordnet. Die Beratungsstelle an der LMU berät bei (vermuteter) Hochbegabung, bei Fragen zur Identifikation, familiären Erziehung und schulischen Förderung Hochbegabter. Vorwiegend nehmen Eltern mit Kindern im Vor- und Grundschulalter dieses Beratungsangebot wahr, seltener Lehrkräfte oder erwachsene Hochbegabte. Die Klientel weist in der Regel einen überdurchschnittlich hohen sozioökonomischen Status auf. Bereits 1996 haben Elbing und Heller zu den Beratungsanlässen an dieser Beratungsstelle in Psychologie in Erziehung und Unterricht publiziert. Allerdings war die damalige Stichprobe mit 79 Kindern, davon 22 Mädchen, sehr klein. Circa ein Drittel der Stichprobe war gemäß einer Intelligenzdefinition hochbegabt (IQ > 130). Jedoch ist bei der Verwendung von Intelligenzdefinitionen intellektueller Hochbegabung zu beachten, dass Hochbegabte keine homogene Gruppe sind (Preckel, 2007). Es lassen sich unterschiedliche Begabungen wie mathematische, verbale oder allgemeine Hochbegabung unterscheiden (Benbow & Minor, 1990; Lohman, 2005), die auf jeweils spezifische Weise mit bestimmten Interessen und Persönlichkeitsvariablen korrespondieren (Ackerman & Heggestadt, 1997; Wai, Lubinski & Benbow, 2005). Dieser Aspekt wird in der vorliegenden Studie kontrolliert, indem ausschließlich allgemein Hochbegabte berücksichtigt wurden. Beratung bei Hochbegabung Wie zahlreiche Untersuchungen belegen, zeigen hochbegabte Kinder und Jugendliche Verhaltensstörungen, soziale Probleme oder psychische Auffälligkeiten nicht häufiger als nicht hochbegabte Kinder und Jugendliche (z. B. Neihart et al., 2001; Richards, Encel & Shute, 2003; Rost, 2000; Roznowski, Reith & Hong, 2000). Die wenigen Unterschiede äußern sich darin, dass bei Hochbegabten teilweise andere Themen auftreten können, welche dann auch besonderer Maßnahmen und spezifischer Beratung bedürfen (Colangelo, 2003; Holling, Preckel, Vock & Wittmann, 1999; Stapf, 2003). Zu diesen Themen gehören unter anderem schulische Unterforderung und damit verbundene motivationale Probleme (Holling & Wittmann, 2001; Schilling et al., 2002), Underachievement (Colangelo, 2003; Reis & McCoach, 2000), soziale Vorurteile und Stigmatisierungen (Coleman & Cross, 2000; Cross, Coleman & Stewart, 1993) oder Verunsicherung der Eltern (Webb, Meckstroth & Tolan, 2004). Auch Verhaltensauffälligkeiten stellen in der Hochbegabtenberatung einen wiederholt genannten Beratungsanlass dar (Schilling et al., 2002; Perleth, Sühlfleisch-Thurau & Joswik, 2004). Dies liegt unter anderem daran, dass Beratungsstellen für Hochbegabte eine vorselektierte Stichprobe aufweisen, denn Verhaltensauffälligkeiten sind innerhalb der Hochbegabtenpopulation nicht häufiger vertreten als in der Gesamtbevölkerung (Hany, 2000). Neben diesen Themen stehen bei der Beratung Hochbegabter diagnostische Aufgaben und präventive Maßnahmen wie die Beratung zu geeigneten Fördermaßnahmen im Vordergrund. Vergleicht man die an verschiedenen Beratungsstellen für Hochbegabtenfragen am häufigsten genannten Beratungsanlässe, so ist eine relativ hohe Übereinstimmung zu erkennen. Dabei führen Diagnose der intellektuellen Fähigkeiten, Unterforderung und Langeweile, Suche nach Fördermöglichkeiten und Fragen zur Schullaufbahnberatung jeweils die Rangliste der Beratungsanlässe in unterschiedlichen Einrichtungen an (Elbing & Heller, 1996; Perleth et al., 2004; Pruisken & Fridrici, 2005; Schilling et al., 2002; Wittmann, 2003). Betrachtet man die Zusammenhänge der einzelnen Beratungsanlässe mit Variablen wie Geschlecht, Alter und Intelligenz, so zeigt sich, dass Jungen in einem Verhältnis von etwa 3 : 1 gegenüber den Mädchen überrepräsentiert sind (Bachmann et al., 2004; Elbing & Heller, 1996; Perleth et al., 2004; Pruisken & Fridrici, 2005; Schilling et al., 2002; Wittmann, 2003). An Beratung bei Hochbegabung 17 vielen Beratungsstellen sowie bei der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK) zeigte sich, dass Eltern von Mädchen in erster Linie eine Entscheidungshilfe bezüglich Schullaufbahnfragen suchen, wohingegen bei Söhnen eine Beratung eher aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten und Stören des Unterrichts oder Lern- und Leistungsschwierigkeiten in Anspruch genommen wird (Elbing & Heller, 1996; Keller, 1992; Perleth et al., 2004; Wittmann, 2003). Auch an der Marburger Beratungsstelle werden Jungen häufiger wegen Konzentrationsproblemen und externalisierten Auffälligkeiten vorgestellt, Mädchen jedoch nicht häufiger wegen Fragen der Schullaufbahn oder Förderung. Hier und auch in den übrigen erfassten Beratungsanlässen (z. B. Lerntechnik, internalisierte Auffälligkeiten, Probleme mit Peers etc.) zeigten sich keine geschlechtsabhängigen Unterschiede (Pruisken & Fridrici, 2005). In Bezug auf das Alter lässt sich feststellen, dass an den meisten Beratungsstellen überwiegend Grundschulkinder vorgestellt werden (Bachmann, Weidtmann & Schulte-Markwort, 2004; Elbing & Heller, 1996; Schilling et al., 2002; Wittmann, 2003). Je nach Alter bzw. Ausbildungsstufe unterscheiden sich die Beratungsanlässe: Während im Vorschulalter verstärkt präventive Anlässe wie Hochbegabungsdiagnose und Schullaufbahnberatung zu einem Beratungstermin führen, treten im Grundschulalter vermehrt Unterforderung und die Frage nach Überspringen einer Klasse auf. Im Sekundarstufenbereich werden Leistungsstörungen, Lernschwierigkeiten und problematisches Arbeitsverhalten wiederum häufiger als Beratungsanlass genannt als in den anderen Ausbildungsstufen. An verschiedenen begabungspsychologischen Beratungsstellen liegt der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die als hochbegabt identifiziert werden, bei ungefähr einem Drittel (Bachmann et al., 2004; Schilling et al., 2002; Perleth et al., 2004; Pruisken & Fridrici, 2005). Inwieweit ein Zusammenhang zwischen der Intelligenzausprägung des Kindes und den Beratungsanlässen besteht, wurde bisher kaum untersucht. Elbing und Heller (1996) fanden an der Münchener Beratungsstelle, dass bei überdurchschnittlich Begabten (IQ > 115)Unterforderung, Schulunlust, Suche nach Fördermöglichkeiten und, insbesondere bei Hochbegabten (IQ > 130), Gutachtenerstellung häufigere Beratungsanlässe waren als bei durchschnittlich begabten Kindern. Fridici (2002) fand an der Marburger Beratungsstelle, dass Langeweile in der Schule bei Hochbegabten (minimaler IQ: M = 125) häufiger ein Beratungsanlass war als bei überdurchschnittlich Begabten (minimaler IQ: M = 112) oder durchschnittlich Begabten (minimaler IQ: M = 104). Probleme im Sozialkontakt wurden bei Hochbegabten und durchschnittlich Begabten vergleichbar oft und häufiger als bei überdurchschnittlich Begabten genannt. Fragestellung Bislang liegen nur wenige deutschsprachige Publikationen zu Beratungsanlässen in der Hochbegabtenberatung vor. Während sich für die Häufigkeit der verschiedenen Beratungsanlässe eine relativ hohe Übereinstimmung ergibt, wurde nach Wissen der Autorinnen bisher lediglich einmal dokumentiert (s. Pruisken & Fridrici, 2005), wie bestimmte Beratungsanlässe zusammenhängen. Die Befunde zur Geschlechts- und Altersabhängigkeit der Beratungsanlässe sind zum Teil uneinheitlich. Während beispielsweise Stapf (2003) berichtet, dass die Beratungsanlässe kaum alters- oder begabungsabhängig seien, finden sich in den Daten der Beratungsstellen in München, Rostock und Marburg klare Hinweise auf eine Altersabhängigkeit. Im Geschlechtervergleich der Beratungsanlässe zeigt sich an einigen Beratungsstellen, dass Eltern von Jungen eher Beratung zuVerhaltensauffälligkeitenundLeistungsschwierigkeiten und Eltern von Mädchen eher Beratung zu Schullaufbahnfragen in Anspruch nehmen. Letztgenannter Unterschied zeigte sich an der Marburger Beratungsstelle nur tendenziell. Die Frage, inwieweit die Beratungsanlässe mit der Intelligenz der Kinder variieren, wurde bisher kaum untersucht. In der vorliegenden Untersuchung an der Begabungspsychologi- 18 Franzis Preckel, Christina Eckelmann schen Beratungsstelle der LMU München wurden daher die folgenden Fragestellungen untersucht: 1. Wie hängen die einzelnen Beratungsanlässe miteinander zusammen und wie oft kommen die einzelnen Beratungsanlässe vor? 2. Lassen sich die bisherigen Befunde zu geschlechts- und altersabhängigen Unterschieden in der Häufigkeit der genannten Beratungsanlässe replizieren? 3. Gibt es Unterschiede in der Häufigkeit bestimmter Beratungsanlässe bei der Beratung mit hochbegabten und nicht hochbegabten Kindern? Methodik Erhebungsinstrumente Demografische Angaben und Beratungsanlässe Demografische Angaben zu Kind und Familie wurden mittels Fragebogen erhoben, der von den Eltern vor dem Beratungsgespräch ausgefüllt wurde. Die Beratungsanlässe wurden aus den schriftlichen Unterlagen zum telefonischen Erstkontakt, dem Fragebogen sowie aus dem Protokoll des Beratungsgesprächs ermittelt. Als Kategorien für die Beratungsanlässe wurden festgelegt: Suche nach Fördermöglichkeiten, Hochbegabungsdiagnose, Unterforderung und Langeweile, Leistungsstörungen/ -probleme,Konzentrationsstörungen, Erziehungsberatung,Überspringen von Schulklassen, Verhaltensprobleme (mangelnde Impulskontrolle, Regelverstöße, störendes Verhalten im Unterricht), aggressives Verhalten, Gutachtenerstellung, Motivationsprobleme, soziale Probleme sowie vorzeitige Einschulung (insgesamt 13 Kategorien). InTeilen entspricht diese Kategorisierung der bereits von Elbing und Heller (1996) verwandten. Pro Beratungsfall wurde festgehalten, ob ein Anlass benannt wurde oder nicht. Mehrfachnennungen waren möglich. Hochbegabungsdiagnostik In der vorliegenden Untersuchung wurde eine IQ- Definition von Hochbegabung verwendet (cut-off- Wert IQ = 130). Auch wenn die Verwendung reiner IQ-Definitionen von Hochbegabung nicht unumstritten ist (zu einem Überblick über Modelle siehe z. B. Sternberg & Davidson, 2005), so werden dennoch in den meisten Hochbegabungsmodellen kognitive Fähigkeiten, und hierbei insbesondere logischschlussfolgerndes Denken sowie die Fähigkeit schnell und effizient zu lernen und Probleme zu lösen, als Kern intellektueller Hochbegabung angesehen. Sie stellen damit die Voraussetzung dafür dar, dass sich im Zusammenspiel mit entsprechender Motivation, Kreativität oder günstigen Umweltbedingungen (etc.) außergewöhnliche Leistungen entwickeln können (Robinson, 2005). In der vorliegenden Studie wurden lediglich die Probanden berücksichtigt, deren allgemeine Intelligenz mit Tests zur Erfassung mehrerer Intelligenzdimensionen erfasst wurde (HA- WIK-III, Tewes, Rossmann & Schallberger, 2000; HAWIK-R, Tewes, 1985; AID 2, Kubinger & Wurst, 2001; K-ABC, Kaufman, Kaufman, Melchers & Preuß, 2001), da lediglich allgemeine Hochbegabung und keine bereichsspezifischen Begabungen berücksichtigt wurden. Stichprobe Die Datenerhebung erstreckte sich über den Zeitraum von Januar 1999 bis Juni 2005. In dieser Zeit wurden insgesamt 440 Kinder mit Intelligenzstrukturtests getestet (Alter in Jahren: range: 5 - 12, M = 7.83, SD = 1.97; IQ: range: 83 - 156, M = 122.50, SD = 12.41), von denen 145 einen IQ von mindestens 130 erreichten (33 %). Von den 440 Probanden sind 28.5 % weiblich und 71.1 % männlich. Der sozioökonomische Status der Herkunftsfamilien ist überdurchschnittlich hoch (49 % der Mütter und 56 % der Väter haben einen akademischen Abschluss ohne Promotion, 7 % der Mütter und 11 % der Väter sind promoviert). In Bezug auf die Ausbildungsstufe der Kinder zeigte sich, dass vor allem die Eltern von Grundschulkindern eine Beratung in Anspruch nehmen. So besuchen 20.2 % der Kinder einen Kindergarten, 63.1 % eine Grundschule (37 % Klasse 1 und 2; 26.1 % Klasse 3 und 4) und 15.9 % eine weiterführende Schule (Klassen 5 - 7). Analytisches Vorgehen Zunächst werden die korrelativen Zusammenhänge zwischen den Beratungsanlässen dargestellt. Anschließend wird die Verteilung der Beratungsanlässe für die Gesamtstichprobe als auch getrennt nach Geschlecht und Ausbildungsstufe dokumentiert. Unterschiede in der Häufigkeit der Anlässe in Abhängigkeit von Geschlecht und Ausbildungsstufe wurden jeweils mittels c 2 -Test überprüft. Da gemäß Beratung bei Hochbegabung 19 der Anzahl der verschiedenen Beratungsanlässe 12 bis 13 Tests durchgeführt wurden, wurde zur Korrektur der a-Fehler-Kumulierung jeweils eine Bonferoni- Korrektur vorgenommen (a’ = .004 bzw. 003). Ob das Vorliegen bestimmter Beratungsanlässe die Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit zur hochbegabten Gruppe (HB; n = 145) oder nicht hochbegabten Gruppe (nHB; n = 295) erhöht, wurde mittels logistischer Regression geprüft. Die Gruppen unterscheiden sich signifikant in ihrer Intelligenz (IQ HB: M = 135.68, SD = 5.02, range: 130 - 156; IQ nHB: M = 116.01, SD = 9.46, range: 83 - 129; t = 28.50, df = 435.55, p < .001), nicht jedoch in der Geschlechterzusammensetzung (c 2 = 3.30, df = 1, p = .07; jeweils ca. 30 % Mädchen) oder im Ausbildungsstatus der Eltern, operationalisiert als höchster akademischer Abschluss (Mütter: c 2 = 3.93, df = 5, p = .56; Väter: c 2 = 9.16, df = 5, p = .10). Die Gruppen unterscheiden sich jedoch im Alter, wobei die Hochbegabten etwas älter sind als die nicht Hochbegabten (HB: M = 8.10, SD= 1.87; DB: M= 7.69, SD= 2.01; t = 2.07, df = 305.34, p = .04). Ergebnisse Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Beratungsanlässen Beratungsanlässe, welche sich auf schulische und leistungsrelevante Aspekte beziehen (Unterforderung/ Langeweile, Motivationsprobleme, Überspringen), treten tendenziell gemeinsam auf (s. Tabelle 1). Zudem treten Leistungs-, Motivations- und Konzentrationsstörungen auf der einen Seite und Verhaltensprobleme, aggressives Verhalten, soziale Probleme und Fragen zur Erziehungsberatung auf der anderen Seite überzufällig häufig gekoppelt auf. Insgesamt fallen die Zusammenhänge zwischen den Beratungsanlässen jedoch eher gering aus. Man kann daher kaum von typischen Clustern von Beratungsanlässen sprechen. Häufigkeit der Beratungsanlässe Der häufigste Beratungsanlass ist die Hochbegabtendiagnose, gefolgt von der Suche nach Fördermöglichkeiten (s. Tabelle 2). Die Dominanz des Anlasses der Hochbegabtendiagnose erklärt sich aus der Ausrichtung der Beratungsstelle, die bei Fragen im Zusammenhang mit vermuteter Hochbegabung berät. In mehr als einem Drittel aller Fälle werden Unterforderung bzw. Langeweile und Verhaltensprobleme thematisiert. Erziehungsberatung und soziale Probleme tauchen als Thema in jeder fünften Beratung auf. Leistungs-, Motivations- und Konzentrationsstörungen sowie Überspringen sind ein Thema in 12 bis 16 % der Fälle. Vergleichsweise seltenere Beratungsanlässe sind vorzeitige Einschulung, aggressives Verhalten und Gutachtenerstellung. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 1 Hochbegabtendiagnose - 2 Fördermöglichkeiten -.00 - 3 Unterforderung Langeweile -.06 .11* - 4 Verhaltensprobleme -.01 -.11* .00 - 5 Erziehungsberatung .06 -.02 -.05 .23** - 6 Soziale Probleme -.01 .00 -.02 .13** .19** - 7 Leistungsstörungen -.17** -.08 -.06 -.06 -.02 -.00 - 8 Überspringen -.02 -.03 .17** -.18** -.05 -.05 -.13** - 9 Motivationsprobleme -.05 .05 .04 -.01 .08 .02 .28** .04 - 10 Konzentrationsstörungen -.03 .01 -.04 .03 .07 .01 .11* -.05 .16** - 11 Vorzeitige Einschulung .04 -.07 -.13** -.03 .05 -.10* -.14** -.11* -.13** -.07 - 12 Aggressives Verhalten -.04 -.07 .01 .17** .13** .18** .10* -.06 .03 .01 -.03 - 13 Gutachten .05 -.04 -.02 -.05 -.06 -.02 -.03 .05 -.02 -.06 -.01 .01 Tabelle 1: Korrelationen (Spearman Rho) der verschiedenen Beratungsanlässe (N = 440) Anmerkungen: * p < .05 ** p < .01 20 Franzis Preckel, Christina Eckelmann Geschlechtervergleich Im Geschlechtervergleich zeigt sich insgesamt eine große Ähnlichkeit in der Häufigkeit der Beratungsanlässe (s. Tabelle 2). Bei Jungen sind jedoch Verhaltensprobleme ein signifikant häufigerer Beratungsanlass als bei Mädchen, tendenziell auch Erziehungsberatung sowie Leistungs- und Konzentrationsstörungen. Bei Mädchen wird tendenziell häufiger als bei Jungen zu den Fördermaßnahmen Überspringen und frühzeitige Einschulung beraten. Diese Befunde bleiben auch dann bestehen, wenn man die Geschlechterunterschiede separat nach Begabungsgruppe (HB vers. nHB) betrachtet. Vergleich der Ausbildungsstufen Fünf der zwölf Beratungsanlässe variieren in ihrer Auftretenshäufigkeit mit der Ausbildungsstufe (s. Tabelle 2; vorzeitige Einschulung wird hier nicht berücksichtigt, da dieser Beratungsanlass ausschließlich im Vorschulalter genannt wird). In der Grundschule werden die Anlässe Unterforderung und Langeweile häufiger thematisiert als im Kindergarten oder in der weiterführenden Schule. Überspringen wird in der Grundschule, insbesondere in den ersten beiden Klassenstufen, ebenfalls häufiger thematisiert als in der weiterführenden Schule. Die drei Beratungsanlässe Leistungsstörungen, Konzentrationsstörungen und Motivationsprobleme kommen im Vorschulalter kaum vor, werden jedoch mit zunehmendem Alter zunehmend häufiger genannt. Bei der Beratung von Schülerinnen oder Schülern der weiterführenden Schule (Klasse 5 - 7) spielen diese Themen in jedem dritten bzw. fünften Beratungsfall eine Rolle. Zusammenhänge von Beratungsanlässen und Hochbegabung Ob das Vorliegen bestimmter Beratungsanlässe die Wahrscheinlichkeit erhöht, entweder zur Geschlechter- Vergleich der vergleich Ausbildungsstufen Beratungsanlässe Gesamt Mädchen Jungen c 2 KiGa Kl. 1&2 Kl. 3&4 Kl. 5-7 c 2 N=440 n=124 n=311 df=1 n=89 n=163 n=115 n=70 df=3 Hochbegabungsdiagnose 79.3 80.5 79.4 .07 88.3 84.1 80.7 76.7 4.37 Suche nach Fördermöglichkeiten 53.9 53.7 53.9 .00 56.2 54.1 53.8 51.1 1.08 Unterforderung, Langeweile 39.3 39.0 39.4 .00 25.4 46.9 42.3 28.9 28.74** Verhaltensprobleme 30.5 19.5 34.8 9.76** 32.1 39.8 30.8 31.7 3.89 Erziehungsberatung 22.5 19.5 23.5 .83 32.3 29.5 25.7 32.2 3.57 Soziale Probleme 21.8 23.6 21.6 .20 22.1 16.8 22.1 25.0 1.83 Leistungsstörungen/ -probleme 15.7 12.2 17.1 1.60 1.7 7.3 25.4 33.9 61.52** Überspringen 14.5 21.1 11.9 6.0 2.7 20.5 14.8 7.2 25.14** Motivationsprobleme 12.3 11.4 12.6 .19 3.0 10.4 17.8 19.4 36.61** Konzentrationsstörungen 11.8 8.9 12.6 1.14 4.0 10.2 13.0 17.2 17.27** Vorzeitige Einschulung 9.3 14.4 8.0 3.89 - - - - - Aggressives Verhalten 7.0 7.3 7.1 .01 11.4 9.3 8.2 6.1 1.10 Gutachtenerstellung 2.7 2.4 2.9 .07 2.0 1.5 2.7 2.8 2.98 Tabelle 2: Prozentuale Häufigkeit der Beratungsanlässe insgesamt sowie separat nach Geschlecht und Ausbildungsstufe mit jeweiligem Test auf Unterschiede in der Häufigkeit Anmerkungen: Für fünf Fälle fehlen die Angaben zum Geschlecht. Für drei Fälle fehlen die Angaben zur Ausbildungsstufe. Vorzeitige Einschulung ist beim Vergleich der Ausbildungsstufen nicht aufgeführt, da dieser Beratungsanlass ausschließlich im Vorschulalter genannt wird. ** p < .001 Beratung bei Hochbegabung 21 Gruppe der Hochbegabten (HB) oder der nicht Hochbegabten (nHB) zu gehören, wurde mittels logistischer Regression geprüft (AV: nHB = 0 vs. HB = 1). Um den Zusammenhang zwischen den Beratungsanlässen und der Zugehörigkeit zu einer der Begabungsgruppen unabhängig von Ausbildungsstufe und Geschlecht zu untersuchen, wurden diese Variablen in einem ersten Schritt in das Modell aufgenommen (Codierung der Variable Ausbildungsstufe über Indikator-Kontraste); in einem zweiten Schritt wurden alle Beratungsanlässe aufgenommen (Einschluss-Methode). Tabelle 3 zeigt lediglich die Ergebnisse nach Schritt 2 der Analyse, da die Aufnahme der Beratungsanlässe die Modellpassung signifikant verbessert (c 2 = 29.88, df = 12, p < .01). Der signifikante Geschlechtereffekt zeigt an, dass in der Beratungsstelle vorgestellte Jungen im Vergleich zu den Mädchen eher ein Testergebnis im Bereich der Hochbegabung erreichen (positives Beta-Gewicht). In Hinblick auf den Einfluss der Ausbildungsstufe werden lediglich die Ausprägungen für Klasse 1 und 2 signifikant: im Vergleich zu Kindern im Kindergartenalter werden in der Beratungsstelle weniger hochbegabte Kinder aus den Klassen 1 und 2 vorgestellt. Nach Kontrolle der Effekte Wald Prädiktoren b SE b df p e b c 2 Geschlecht (weiblich = 0/ männlich = 1) .58 .27 4.78 1 .03 1.79 Ausbildungsstufe (Referenzgruppe Kindergarten) Klasse 1 u. 2 -1.12 .46 6.01 1 .01 .33 Klasse 3 u. 4 -.35 .34 1.08 1 .30 .70 Klasse 5 - 7 -.59 .35 2.87 1 .09 .55 Beratungsanlässe (liegt nicht vor = 0/ liegt vor = 1) Hochbegabtendiagnose -.38 .28 1.85 1 .17 .68 Fördermöglichkeiten .30 .23 1.73 1 .19 1.36 Unterforderung/ Langeweile -.10 .24 .18 1 .67 .90 Verhaltensprobleme -.09 .26 .12 1 .73 .92 Erziehungsberatung -.71 .30 5.74 1 .02 .49 Soziale Probleme .30 .28 1.18 1 .28 1.35 Leistungsstörungen -.96 .37 6.80 1 .01 .38 Überspringen .61 .32 3.65 1 .06 1.84 Motivationsprobleme .91 .35 6.70 1 .01 2.48 Konzentrationsstörungen -.15 .35 .18 1 .67 .86 Aggressives Verhalten .18 .46 .15 1 .70 1.20 Vorzeitige Einschulung -.76 .64 1.43 1 .23 .47 Konstante (b) -.38 .46 .70 1 .40 Modellgültigkeit c 2 df p Hosmer & Lemeshow 6.32 8 .61 Modellrelevanz Likelihood ratio test 48.51 16 .00 Tabelle 3: Logistische Regressionsanalyse über die Zuweisung als nicht hochbegabt (0) oder hochbegabt (1) Anmerkungen: Gutachtenerstellung wurde bei den nHB nicht genannt und wird daher nicht berücksichtigt. Pseudo-R 2 -Statistiken als Ersatz für den Determinationskoeffizienten der linearen Regression: Cox & Snell R 2 = 11. Nagelkerke R 2 = .15. 22 Franzis Preckel, Christina Eckelmann von Geschlecht und Ausbildungsstufe erhöht die Nennung der Beratungsanlässe Überspringen und Motivationsprobleme die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Hochbegabung gegenüber ihrem nicht Vorliegen signifikant. Insbesondere die Nennung von Motivationsproblemen zeigt einen starken Effekt. Auf der anderen Seite erhöht die Nennung der Beratungsanlässe Leistungsstörungen/ -probleme und Erziehungsberatung deutlich die Wahrscheinlichkeit für das Nichtvorliegen einer Hochbegabung. Diskussion In dieser Arbeit wird eine Untersuchung der Beratungsanlässe an der Begabungspsychologischen Beratungsstelle der LMU München vorgestellt, die sich auf 440 Kinder bezieht. Verallgemeinerungen müssen unterbleiben, da die Klientel der Hochbegabtenberatungsstellen bereits eine vorselektierte Stichprobe darstellt. Diese Untersuchung zieht zudem eine IQ-Definition von Hochbegabung heran, wobei Hochbegabung als weit überdurchschnittliche allgemeine Intelligenz definiert wird. Auch daraus verbieten sich Verallgemeinerungen auf die Population der intellektuell Hochbegabten, da bereichsspezifisch Hochbegabte nicht berücksichtigt wurden. Insgesamt wurden 13 verschiedene Beratungsanlässe unterschieden. Die Zusammenhänge zwischen diesen erweisen sich als so klein, dass es nicht gerechtfertigt scheint, von bestimmten Clustern von Beratungsanlässen zu sprechen. Die Beraterin bzw. der Berater muss sich anhand der Befunde der Münchener Beratungsstelle vielmehr darauf einstellen, dass in der Begabtenberatung sehr unterschiedliche Kombinationen von Beratungsanlässen auftreten können. Dieser Befund entspricht dem aus der Marburger Beratungsstelle; auch hier zeigten sich, mit wenigen Ausnahmen, nur geringe Zusammenhänge zwischen den Beratungsanlässen (Pruisken & Fridrici, 2005). Durchschnittlich werden circa drei Beratungsanlässe pro Beratung genannt. Am häufigsten sind dies die Hochbegabtendiagnose, was sich aus der Ausrichtung der Beratungsstelle ergibt, gefolgt von den Anlässen Suche nach Fördermöglichkeiten und schulische Unterforderung bzw. Langeweile. Doch sind auch eher klassische Themen aus der Erziehungsberatung vertreten: Verhaltensprobleme sind in fast jeder dritten, Erziehungsberatung und soziale Probleme in fast jeder vierten Beratung ein Thema. Insgesamt zeigen die Befunde damit eine relativ hohe Übereinstimmung mit denen aus anderen Beratungsstellen zum Bereich Hochbegabung. Im Vergleich zu nicht auf Hochbegabung spezialisierten Schul- oder Erziehungsberatungsstellen aus dem Münchener Raum ergeben sich jedoch deutliche Unterschiede: hier stehen viel häufiger Beziehungsprobleme innerhalb der Familie, soziale Probleme oder Entwicklungsauffälligkeiten im Vordergrund der Beratung; die Beratung erfolgt zudem selten zu präventiven Zwecken, sondern in der Regel bei bereits vorhandenen Problemen (Eckelmann, 2004). Begabungspsychologische Beratungsstellen weisen demnach ein spezifisches Profil von Beratungsanlässen auf, das sich zum Teil jedoch mit dem nicht auf Hochbegabung spezialisierter Schul- oder Erziehungsberatungsstellen überschneidet. Eine weitere Ähnlichkeit zu anderen, nicht auf Hochbegabung spezialisierten Beratungsstellen ist die Überrepräsentation der Jungen innerhalb der Beratungsklientel. Diese ist in begabungspsychologischen Beratungsstellen besonders deutlich ausgeprägt und am ehesten durch eine Vielzahl möglicher Ursachen erklärbar. Hierzu gehören unter anderem geschlechterspezifische Leistungserwartungen und Attributionsmuster zur Erklärung besonderer Leistungen von Eltern und Lehrkräften (Elbing & Heller, 1996; Feger & Prado, 1986), Anpassung an die Gruppe bei begabten Mädchen (Kerr & Nicpon, 2003; Reis, 1998) sowie auffälligeres Verhalten wie z.B. Stören des Unterrichts bei Unterforderung oder Spezialinteressen bei Jungen (Holling, Preckel, Vock & Wittmann, 1999; Stapf, 2002; Wittmann, 2003). All diese Faktoren reduzieren die Wahrscheinlichkeit, Beratung bei Hochbegabung 23 dass hochbegabte Mädchen als solche erkannt werden bzw. dass Eltern hochbegabter Mädchen eine Beratung in Anspruch nehmen. Wenn Eltern Töchter in der Beratungsstelle vorstellen, dann tendenziell eher zu Fragen der Förderung (Überspringen und vorzeitige Einschulung). Bei Jungen wird hingegen die Beratungsstelle häufiger aufgrund von Verhaltensproblemen aufgesucht (s. a. Keller, 1992; Perleth et al., 2004; Wittmann, 2003). Insgesamt zeigte sich jedoch, dass sich die Beratungsanlässe bei Jungen und Mädchen, unabhängig davon ob sie hochbegabt sind oder nicht, eher ähnlich sind. Ein interessanter Nebenbefund aus der logistischen Regressionsanalyse dieser Studie ist, dass in der Münchener Beratungsstelle Jungen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit ein Ergebnis im Bereich der Hochbegabung erreichen als Mädchen. Warum das so ist, lässt sich anhand der vorliegenden Daten nicht beantworten. Ein Grund könnte eine Vorselektion der angemeldeten Kinder durch die Eltern sein. Möglicherweise erkennen Eltern eine Hochbegabung bei einem Sohn besser als bei einer Tochter. Ein weiterer möglicher Grund könnte ein geschlechterspezifischer Bias in der Konstruktion von Testverfahren sein, nach dem bei der Messung im Bereich hoher Begabung Mädchen durch die Auswahl des Testmaterials benachteiligt werden (siehe z. B. Kerr & Nicpon, 2003). Hier wären vergleichende Analysen zur Situation in anderen Beratungsstellen interessant. In Bezug auf die Ausbildungsstufe fanden wir wie Wittmann (2003), dass Unterforderung und Fragen zum Überspringen vor allem im Grundschulalter zu einem Beratungsgespräch führen. Dies ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass durch die gemeinsame Beschulung der Kinder im Grundschulalter individuelle Differenzen in Begabungen, Wissen oder schulbezogenen Fertigkeiten besonders deutlich werden. Zudem zeigte sich, dass Leistungs-, Konzentrations- und Motivationsprobleme mit zunehmend höherer Ausbildungsstufe zunehmend häufiger als Beratungsanlass genannt werden. Diese Befunde gelten wiederum sowohl in Bezug auf die hochbegabten als auch auf die nicht hochbegabten Kinder. Anhand der vorliegenden Daten ist nicht zu entscheiden, ob dieser Befund darauf zurückzuführen ist, dass sich diese Probleme im Laufe der schulischen Sozialisation verstärken oder darauf, dass leistungsrelevantes Verhalten für Eltern mit zunehmendem Alter der Kinder wichtiger wird, so dass sich die Eltern stärker um die Behebung leistungsbezogener Probleme bei älteren Kindern bemühen. Die Frage, ob bestimmte Beratungsanlässe eher bei Hochbegabten auftauchen, kann anhand der vorliegenden Befunde bejaht werden. In Einklang mit Elbing und Heller (1996) sowie Pruisken und Fridrici (2005) fanden wir, dass Familien mit hochbegabten Kindern sich eher zu schulbezogenen Motivationsproblemen und zum Überspringen beraten lassen, während Familien mit nicht hochbegabten Kindern eher Beratung zu Leistungsproblemen und Erziehungsfragen in Anspruch nehmen. Gutachtenerstellung wird, wenn auch selten, ausschließlich von Familien mit hochbegabten Kindern nachgefragt. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass in beiden Begabungsgruppen dieselben Beratungsanlässe an erster Stelle stehen, nämlich Hochbegabtendiagnose, Suche nach Fördermöglichkeiten, Unterforderung und Langeweile sowie Verhaltensprobleme. Bei Familien mit hochbegabten Kindern nimmt dann die Erziehungsberatung Platz 5 ein, bei den Familien mit nicht hochbegabten Kindern sind das soziale Probleme. In der Beratung Hochbegabter geht es also nicht ausschließlich um hochbegabungsspezifische Themen, sondern auch um eher klassische Themen aus der Erziehungsberatung. Beraterinnen und Berater in Beratungsstellen für Hochbegabte werden demnach mit einer Fülle von Beratungsanlässen konfrontiert, die nur teilweise mit der Begabung des Kindes zusammenhängen. In Hinblick auf die Beratung von Familien mit hochbegabten Kindern erscheint es dennoch sinnvoll, in der Ausbildung von Beraterinnen und Beratern neben den allgemeinen 24 Franzis Preckel, Christina Eckelmann Grundlagen der pädagogischen Beratung im Bereich Familie und Bildung spezifische Kompetenzen aufzubauen. Neben sehr guten diagnostischen Kompetenzen und der Aneignung von Wissen über schulische und außerschulische Fördermöglichkeiten sollten sich Beraterinnen und Berater mit Möglichkeiten der Motivationsförderung vertraut machen. Da in der Regel Eltern und seltener Lehrkräfte begabungspsychologische Beratungsstellen aufsuchen, sollten die entsprechenden Informationen und Interventionsformen optimalerweise so aufgearbeitet sein, dass sie die elterliche Handlungskompetenz zur Motivationsförderung stärken. 1 Literatur Ackerman, P. L. & Heggestad, E. D. (1997). Intelligence, personality, and interests: Evidence for overlapping traits. Psychological Bulletin, 121, 219 - 245. 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