eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 55/2

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Editorial zum Themenschwerpunkt: "Kompetenz- und Leistungsdiagnostik zum Schuleintritt"

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2008
Franz Petermann
Das Bildungssystem in Deutschland verändert sich. Durch internationale Vergleichsstudien und Projekte wie PISA, IGLU oder "Starting strong" ist der frühkindliche Bildungsbereich in den Fokus von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gerückt. "Vorschulisches Lernen", "frühe Bildung", "Chancengleichheit", "Bildung von Anfang an" stellen immer wiederkehrende Schlagwörter dar. Die Anforderungen und Trends in diesem Bereich machen sich nicht nur durch neue Gesetze und Bildungspläne bemerkbar, es haben sich auch verschiedene lokale und überregionale Projekte entwickelt, die teilweise zu umfassenden Forschungsbemühungen gebündelt werden. Die Initiativen auf Bundes- und Länderebene sind vielfältig und immer häufiger werden sie durch Forschungsprogramme der EU koordiniert.
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2008, 55, 81 - 83 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Einleitung Das Bildungssystem in Deutschland verändert sich. Durch internationale Vergleichsstudien und Projekte wie PISA, IGLU oder „Starting strong“ ist der frühkindliche Bildungsbereich in den Fokus von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gerückt. „Vorschulisches Lernen“, „frühe Bildung“, „Chancengleichheit“, „Bildung von Anfang an“ stellen immer wiederkehrende Schlagwörter dar. Die Anforderungen und Trends in diesem Bereich machen sich nicht nur durch neue Gesetze und Bildungspläne bemerkbar, es haben sich auch verschiedene lokale und überregionale Projekte entwickelt, die teilweise zu umfassenden Forschungsbemühungen gebündelt werden. Die Initiativen auf Bundes- und Länderebene sind vielfältig und immer häufiger werden sie durch Forschungsprogramme der EU koordiniert. In diesem Kontext einen Überblick zu erhalten, ist aufgrund der Vielfalt der Aktivitäten sehr schwierig, eine vollständige Erfassung der Neuerungen und Projekte ist kaum möglich. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Bildungsfragen beispielsweise in Kultusministerkonferenzen zwar national erörtert werden, die Umsetzung allerdings Ländersache ist. So haben alle Bundesländer in den letzten Jahren sowohl neue Schulgesetze auf den Weg gebracht, die neben einer Verkürzung der Gesamtschulzeit bis zum Abitur insbesondere Veränderungen in den Einschulungsverfahren und der Eingangsphase in der Grundschule mit sich bringen, als auch Bildungspläne für die verschiedenen Bildungsbereiche veröffentlicht. Die schulische Förderung beginnt in Deutschland etwa ein bis zwei Jahre später als in anderen Ländern: In Deutschland besuchen ca. 50 % der sechsjährigen Kinder noch nicht die Schule, diese Quote wird lediglich von Finnland übertroffen (hier liegt das Einschulungsalter bei 7 Jahren; vgl. BMBF, 2007). Befunde aus der Entwicklungsneuropsychologie bestätigen dagegen, dass Kinder zu keinem Zeitpunkt lern- und aufnahmefähiger sowie motivierter zum Lernen sind als im frühen Kindesalter. Zudem konnte bereits in den 80er Jahren nachgewiesen werden, dass der Übergang in die Schule besser gelingt, wenn schon vorschulisch ein hoher Grad an Vertrautheit mit dem schulischen Setting erreicht werden kann (Itskowitz, Strauss & Fruchter, 1987). Dies betrifft nicht nur räumliche Gegebenheiten, sondern auch verschiedene spielerische Lernangebote. Hasselhorn und Lohaus (2008) nennen hier unter anderem Besuche von Kindergartenkindern in der Grundschule mit Teilnahme am Unterricht, Gespräche oder Rollenspiele. Einerseits sollen bestimmte Zeitfenster im Kindergartenalter im Sinne einer vorschulischen Bildung besser genutzt und gleichzeitig das Einschulungsalter an den europäischen Standard angepasst werden. Auf der anderen Seite sind für die Aufnahme in die Schule immer gezielter die individuellen Lernvoraussetzungen des einzelnen Kindes zu berücksichtigen. Dieser Ansatz führt in Bezug auf den Entwicklungsstand und die Lernausgangslage insbesondere zu Beginn der Primarphase zu heterogenen Klassenverbänden. Editorial zum Themenschwerpunkt „Kompetenz- und Leistungsdiagnostik zum Schuleintritt“ Assessment of Skills and Competencies at School Entry Franz Petermann Universität Bremen 82 Franz Petermann In immer mehr Bundesländern wird der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule verändert, man fokussiert hier insbesondere auf eine veränderte Schuleingangsphase. Dabei verfolgen die einzelnen Bundesländer unterschiedliche Strategien. Dies wird durch die unterschiedliche Praxis der Bundesländer in der Stichtagsregelung und in der Flexibilisierung der Schuleingangsphase zu zeitlichen Verschiebungen in den Bildungsverläufen in Abhängigkeit vom Wohnort führen. Im Kontext dieser Veränderungen wird immer wieder auch die Funktion der Schuleingangsdiagnostik diskutiert. Neuorientierungen im Konzept von Schulfähigkeit führten zu einer deutlichen Veränderung in der Einschulungspraxis: die neue Schulgesetzgebung sieht die bislang praktizierte Form der Zurückstellung nur noch in definierten Ausnahmefällen vor. Gleichzeitig werden aber Vorgaben zur Förderung von Kindern gesetzlich verankert. Damit steht gleichzeitig aber auch das Konzept der Schulfähigkeit selbst zur Disposition (Griebel, 2004). Dies reicht bis zur Forderung, alle Kinder eines bestimmten Alters unabhängig vom Kriterium Schulfähigkeit einzuschulen, da es letztendlich Aufgabe der Grundschule sei, die Schulfähigkeit mit den Kindern zu erarbeiten (Kammermeyer, 2001). Übersicht über die Inhalte des Themenschwerpunktes Die Auswahl der Texte für dieses Schwerpunktheft erfolgte vor dem Hintergrund, die „konzeptuelle Breite“ der Thematik abzudecken. So sollten neben den gut erforschten kognitiven Lernvoraussetzungen vor allem auch die motivationalen und sozial-emotionalen Kompetenzen im Übergang vom Kindergarten in die Grundschule beleuchtet werden (vgl. auch Petermann, 2002). Lediglich die Interaktion dieser Voraussetzungen mit der psychosozialen Lebenssituation des Kindes und die Erziehungskompetenz der Bezugspersonen wurden ausgeklammert. Die Zusammenstellung in diesem Heft beginnt mit einer Bestandsaufnahme von Daseking, Oldenhage und Petermann (2008), die zeigt, dass die bildungspolitische Diskussion zu einer länderspezifischen, bundesweiten Umsetzung neuer Vorgaben zur Einschulung führte. Vielfach konnten Schritte der Umsetzung nur unzureichend wissenschaftlich begleitet werden. Vor allem fehlt es an diagnostischen Strategien und Erhebungsverfahren, mit denen es gelingt, Kompetenzen und Vorläuferfertigkeiten in der Einschulungsphase zuverlässig zu bestimmen. Sehr fundierte Studien liegen hierbei im Bereich der kognitiven Entwicklung vor, wie die Arbeit der Würzburger Gruppe um Wolfgang Schneider belegen (vgl. Krajewski, Schneider & Nieding, 2008). In diesem Bereich existieren aussagekräftige Längsschnittstudien, mit denen es gelingt, mathematische und schriftsprachliche Kompetenzen am Ende der ersten Klasse vorherzusagen. Unsere Bremer Arbeitsgruppe versucht in einer Pilotstudie, ein Screening zur Erfassung schulbezogenen Sozial- und Lernverhaltens auf die Phase vor der Einschulung zu übertragen (vgl. Petermann, Petermann & Krummrich, 2008). Die Ergebnisse dieser Bemühungen sind positiv zu bewerten; wenn es uns auf diese Weise gelingt, ökonomische und umfassende Screenings für Sozial- und Lernverhalten zu etablieren, dann wird auch der Austausch zwischen pädagogischen Fachkräften im Kindergarten und Grundschule optimiert. Die Arbeitsgruppe um Marcus Hasselhorn (Frankfurt/ Göttingen) regt an, über kognitive Vorläuferfertigkeiten hinaus sich auch volitionaler Kompetenzen der Selbstdisziplin vor der Einschulung genauer anzunehmen. Sicherlich stellen solche Merkmale wichtige Aspekte des Schulerfolges dar, die eine Herausforderung für eine umfassende, zukünftige Einschulungsdiagnostik bilden. Literatur BMBF (Hrsg.). (2007). Vertiefender Vergleich der Schulsysteme ausgewählter PISA-Teilnehmerstaaten. Bonn: BMBF. Kompetenz- und Leistungsdiagnostik zum Schuleintritt 83 Daseking, M., Oldenhage, M. & Petermann, F. (2008). Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule - eine Bestandsaufnahme. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 55, 84 - 99. Griebel, W. (2004). Übergänge zwischen Familie und Bildungssystem als Herausforderung für die Familienbildung. In W. E. Fthenakis & M. R. Textor (Hrsg.), Das Online Familienhandbuch. http: / / www.familienhandbuch.de/ cmain/ f_Fachbeitrag/ a_Familienbil dung/ s_1600.html [30. 11. 2007] Hasselhorn, M. & Lohaus, A. (2008). Entwicklungsvoraussetzungen und Herausforderungen des Schuleintritts. In M. Hasselhorn & R. K. Silbereisen (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie: Themenbereich C Theorie und Forschung, Serie V Entwicklungspsychologie, Band 4 Entwicklungspsychologie des Säuglings- und Kindesalters (S. 409 - 428). Göttingen: Hogrefe. Hasselhorn, M., von Goldammer, A. & Weber, A. (2008). Belohnungsaufschub als volitionale Kompetenz: Ein relevanter Bereich für die Schuleingangsdiagnostik? Psychologie in Erziehung und Unterricht, 55, 123 - 131. Itskowitz, R., Strauss, H. & Fruchter, D. (1987). Does familiarity with school increase adjustment? School Psychology International, 8, 251 - 255. Kammermeyer, G. (2001). Schulfähigkeit als Brücke zwischen Kindertagesstätte und Grundschule. http: / / www. kita-bildet.de/ downloads/ Referat_Kammermeyer-1.pdf [28. 11. 2007] Krajewski, K., Schneider, W. & Nieding, G. (2008). Zur Bedeutung von Arbeitsgedächtnis, Intelligenz, phonologischer Bewusstheit und früher Mengen-Zahlen-Kompetenz beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 55, 100 - 113. Petermann, F. (2002). Klinische Kinderpsychologie: Das Konzept der sozialen Kompetenz. Zeitschrift für Psychologie, 210, 175 - 185. Petermann, F., Petermann, U. & Krummrich, M. Z. (2008). Erfassung von Sozial- und Lernverhalten vor dem Schuleintritt. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 55, 114 - 122. Prof. Dr. Franz Petermann Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen Grazer Str. 2 und 6 D-28359 Bremen Fax: (0421) 218-4617 E-Mail: fpeterm@uni-bremen.de