eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht55/4

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Editorial zum Themenheft: Familiäre Bedingungen von schulischen Leistungen und leistungsrelevanten Überzeugungen

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Tina Hascher
Markus P. Neuenschwander
Spätestens seit dem Colemanreport in den 1960er Jahren wissen wir, dass die Familien einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung von Schülerkompetenzen leisten. Im Zuge der vertiefenden Auswertungen von PISA-Daten wurde dieser Befund für viele Länder wiederholt bestätigt. Auch in Deutschland, Schweiz und Österreich wurden enge Zusammenhänge zwischen der sozialen Herkunft und den Schülerleistungen gefunden. Leistungen von Kindern in der Schule hängen demnach nicht nur von der Qualität von Schule und Unterricht ab, sondern - in noch stärkeren Ausmaß - von Art und Qualität der Interaktionen und Förderung in der Familie. Wie lässt sich dies erklären?
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2008, 55, 225 - 226 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Editorial zum Themenheft: Familiäre Bedingungen von schulischen Leistungen und leistungsrelevanten Überzeugungen Tina Hascher Markus P. Neuenschwander Universität Salzburg Universität Zürich Spätestens seit dem Colemanreport in den 1960er Jahren wissen wir, dass die Familien einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung von Schülerkompetenzen leisten. Im Zuge der vertiefenden Auswertungen von PISA-Daten wurde dieser Befund für viele Länder wiederholt bestätigt. Auch in Deutschland, Schweiz und Österreich wurden enge Zusammenhänge zwischen der sozialen Herkunft und den Schülerleistungen gefunden. Leistungen von Kindern in der Schule hängen demnach nicht nur von der Qualität von Schule und Unterricht ab, sondern - in noch stärkeren Ausmaß - von Art und Qualität der Interaktionen und Förderung in der Familie. Wie lässt sich dies erklären? Eine Annahme besteht darin, dass Kinder in der Familie erworbenes Wissen in der Schule nutzen. Dies ist nicht trivial, weil Kinder dieses Wissen dabei in einen anderen sozialen Kontext, den der Schule, übertragen und auf schulische Leistungssituationen anwenden müssen, was die Wirkung der familiären Sozialisation auf Schülerleistungen reduzieren könnte. Allerdings wird dieser Wissenstransfer aus einem Kontext in einen anderen dank des kontinuierlichen Pendelns zwischen Schule und Familie (sog. synchrone Transition) ermöglicht. Die Intensivierung von Eltern-Lehrer-Kontakten, ein zweiter Ansatzpunkt, scheint dagegen nicht per se zu höheren Schülerleistungen zu führen. Eine intensivere Absprache und Koordination der pädagogischen Anstrengungen von Eltern und Lehrpersonen wirkt sich nicht notwendigerweise positiv auf die Kompetenzentwicklung der Kinder aus - wie dies gelegentlich suggeriert wird. Entsprechend berichten Studien mitunter sogar negative Korrelationen zwischen der Häufigkeit von Eltern-Lehrer- Kontakten und Schülerleistungen (Downey, 2002; Neuenschwander, Balmer, Gasser, Goltz, Hirt, Ryser, Wartenweiler, 2005). Eine Erklärung für diese Befunde liegt in einem häufigen Anlass für Eltern-Lehrer-Kontakte: meist sind es geringe Leistungen, die einen Kontakt motivieren. Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, weshalb die familiäre Sozialisation für den Schulerfolg so wichtig ist. Wie wird in der Familie der schulische Lernprozess beeinflusst, dass er sich in günstigen und weniger günstigen schulischen Leistungen niederschlägt? Im vorliegenden Themenheft werden diese Fragen aufgegriffen und am Beispiel von sechs Originalstudien vertieft diskutiert. Alle Studien basieren auf dem Multiinformanten-Ansatz und schließen Informationen sowohl von Kindern bzw. Jugendlichen als auch von Eltern ein. Diese Multiperspektivität ermöglicht es, die Relativität verschiedener Betrachtungsperspektiven in der Untersuchung zu berücksichtigen und Elternverhaltensweisen sowohl in der Selbstwahrnehmung wie auch in der Schülerperspektive zu erfassen. Eine zweite Gemeinsamkeit der Studien besteht darin, dass sie vermittelnde Prozesse zwischen der Schichtzugehörigkeit der Familie und den schulischen Leistungen der Kinder in verschiedenen Klassenstufen beschreiben. Wie kann der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Kompetenzentwicklung erklärt werden und welche mediierenden Prozesse laufen ab? Die Beiträge unterscheiden sich aber darin, wie dieser vermittelnde Prozess konzipiert wird. 226 Tina Hascher, Markus P. Neuenschwander Jan Retelsdorf und Jens Möller folgen dem Erwartungs-Wert-Ansatz und zeigen, dass der soziale Hintergrund vor allem über die gemeinsamen sprachlichen Aktivitäten von Eltern und Kindern auf die Lesemotivation und das Leseselbstkonzept wirke. Ellen Schaffner und Ulrich Schiefele machen in ihrem Beitrag deutlich, dass die soziale Schicht über prozessbezogene familiäre Faktoren und kognitive/ motivationale Lernermerkmale verschiedene Indikatoren der Textrepräsentation beeinflusst. Timo Ehmke und Thilo Siegle untersuchen die Mathematikkompetenzen von Eltern und stellen fest: Die Kompetenzen der Eltern hängen von ihrem Bildungsabschluss ab und beeinflussen die Lernstrategien und die Leistungen der Kinder in Mathematik positiv. Markus Neuenschwander und Stefanie Goltz wiederum beziehen sich auf den Person-Ansatz und weisen nach, dass verschiedene Muster von familiären Interaktionen (Familientypen) die Leistungen und die Leistungsveränderungen in Deutsch und Mathematik vorhersagen können und soziale Herkunftseffekte teilweise mediieren. Die Beiträge von Judith Gerber und Elke Wild sowie von Barbara Otto, Franziska Perels und Bernhard Schmitz thematisieren nicht Schülerleistungen, sondern epistemologische Überzeugungen und selbstreguliertes Lernen von Kindern. Gerber und Wild zeigen, dass epistemologische Überzeugungen von Kindern zwar vom Bildungsniveau der Eltern, aber nur teilweise von der elterlichen Hilfe abhängen. Der Beitrag von Otto, Perels und Schmitz arbeitet heraus, dass nicht primär das Elternvorbild, sondern die Beziehungsqualität von Eltern und ihren Kindern das selbstregulierte Lernen im Unterricht beeinflusst. Die verschiedenen Forschungsbeiträge bilden eine vielfältige Palette, die den Zusammenhang von familiären Sozialisationsprozessen und den schulischen Lernprozessen und Schülerleistungen illustriert. Wir hoffen, dass sie nicht nur die Entwicklung der Forschung unterstützen, sondern auch die Schulqualitätsdebatten und Elternbildung befruchten. Literatur Downey, D. B. (2002). Parental and family involvement in education. In A. Molnar (Ed.), School reform proposals: the research evidence (pp. 6.1 - 6.27). Tempe, AZ: Education Policy Unit, College of Education. Arizona State University. Neuenschwander, M. P., Balmer, T., Gasser, A., Goltz, S., Hirt, U., Ryser, H., et al. (2005). Schule und Familie - was sie zum Schulerfolg beitragen. Bern: Haupt. Tina Hascher Universität Salzburg Markus P. Neuenschwander Universität Zürich