Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2008
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Familiäre und individuelle Bedingungen des Textlernens
101
2008
Ellen Schaffner
Ulrich Schiefele
Diese Studie untersuchte die vermittelnden Prozesse, die den Effekten familiärer Strukturmerkmale (sozioökonomischer Status, Bildungsniveau, Migrationshintergrund) auf das Lernen eines Textes zugrunde liegen. Es wurde ein Pfadmodell getestet, das familiäre Prozessmerkmale (z.B. Besitz von Kulturgütern) und individuelle Faktoren (z.B. Lesemotivation) als Mediatoren berücksichtigt. Als Indikator für das Textlernen diente die mittels Verifikationstest erfasste situative Textrepräsentation. Das Modell wurde anhand einer Stichprobe von 414 15-jährigen Schülerinnen und Schülern überprüft und weitgehend bestätigt. Mit wenigen Ausnahmen waren die angenommenen Mediatoren an der Vermittlung familiärer Einflüsse auf das Textlernen beteiligt. Als besonders einflussreiche Mediatoren erwiesen sich der Besitz von Kulturgütern, die kognitive Grundfähigkeit, die intrinsische Lesemotivation, das Vorwissen und das metakognitive Strategiewissen.
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n Empirische Arbeit Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2008, 55, 238 - 252 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Familiäre und individuelle Bedingungen des Textlernens Ellen Schaffner, Ulrich Schiefele Universität Potsdam Familial and Individual Conditions of Text Learning Summary: This study examined mediating processes underlying the relation between structural features of family background (socio-economic status, level of education, migration status) and learning from text. A path model was tested that includes process-related family features (e. g., cultural possessions) as well as individual student characteristics (e. g., reading motivation) as mediators. As an indicator of text learning, the situational representation of text was measured by means of a verification test. The model was tested in a sample of 414 15-year-old students. The results confirmed the proposed model to a large degree. Most of the assumed mediators contributed to the mediation of the effects of family background on learning from text. The most influential mediators comprised cultural possessions, cognitive ability, intrinsic reading motivation, prior knowledge, and metacognitive strategy knowledge. Keywords: Text learning, family background, social and cultural capital, cognitive ability, reading motivation, prior knowledge, reading strategies Zusammenfassung: Diese Studie untersuchte die vermittelnden Prozesse, die den Effekten familiärer Strukturmerkmale (sozioökonomischer Status, Bildungsniveau, Migrationshintergrund) auf das Lernen eines Textes zugrunde liegen. Es wurde ein Pfadmodell getestet, das familiäre Prozessmerkmale (z.B. Besitz von Kulturgütern) und individuelle Faktoren (z.B. Lesemotivation) als Mediatoren berücksichtigt. Als Indikator für das Textlernen diente die mittels Verifikationstest erfasste situative Textrepräsentation. Das Modell wurde anhand einer Stichprobe von 414 15-jährigen Schülerinnen und Schülern überprüft und weitgehend bestätigt. Mit wenigen Ausnahmen waren die angenommenen Mediatoren an der Vermittlung familiärer Einflüsse auf das Textlernen beteiligt. Als besonders einflussreiche Mediatoren erwiesen sich der Besitz von Kulturgütern, die kognitive Grundfähigkeit, die intrinsische Lesemotivation, das Vorwissen und das metakognitive Strategiewissen. Schlüsselbegriffe: Textlernen, familiärer Hintergrund, soziales und kulturelles Kapital, kognitive Grundfähigkeit, Lesemotivation, Vorwissen, Lesestrategien Im Zuge der Rezeption der PISA-2000-Studie rückte in Deutschland insbesondere die starke Abhängigkeit der gemessenen Schülerkompetenzen von der sozialen Herkunft in den Mittelpunkt der Betrachtungen. So wurden in Deutschland beispielsweise 16 % der Varianz in den Leseleistungen durch den sozialen Status der Familie erklärt - in Finnland waren es demgegenüber nur 6 % (Baumert & Schümer, 2001). Auch in der PISA-2006-Erhebung fiel der durch den sozialen Status aufgeklärte Varianzanteil im Lesen für Deutschland mit 11 % immer noch sehr hoch aus (Ehmke & Baumert, 2007). Diese Befunde zeigen, dass die Chancen auf Bildung in unserer Gesellschaft ungleich verteilt sind und lassen daher eine größtmögliche Entkoppelung der Lesekompetenz von der sozialen Herkunft als erstrebenswert erscheinen. Der Versuch einer Entkoppelung setzt jedoch zunächst ein Verständnis darüber voraus, Familiäre und individuelle Bedingungen des Textlernens 239 welche konkreten Faktoren und Mechanismen die Effekte der sozialen Herkunft auf die Lesekompetenz vermitteln. Als vermittelnde Größen kommen sowohl familiäre als auch individuelle Faktoren in Betracht. 1 Nach Bourdieu (1982, 1983) ist ein hoher Sozialstatus nicht nur durch größere materielle Ressourcen, sondern auch durch ein größeres kulturelles und soziales Kapital gekennzeichnet. Demnach hat der Sozialstatus u. a. Auswirkungen auf den Besitz von Kulturgütern (z. B. Bücher, Lexika, Bilder), auf bildungsbezogene Aktivitäten (z. B. Museumsbesuch) und den sozialen Umgang (z. B. Kommunikationsformen) in einer Familie. Diese Aspekte des kulturellen und sozialen Kapitals können wiederum die Kompetenzentwicklung der Kinder beeinflussen (vgl. Baumert, Watermann & Schümer, 2003; Watermann & Baumert, 2006). Bezogen auf den Bereich Lesen ist zu vermuten, dass die genannten, prozessbezogenen Familienmerkmale die Lesekompetenz nicht direkt, sondern vermittelt über individuelle Voraussetzungen des Leseverstehens beeinflussen, z. B. über das Vorwissen oder die Lesemotivation (Schaffner, Schiefele & Schneider, 2004; s. a. Baumert et al., 2003). Während die Mediatorrolle der familiären Prozessmerkmale bereits wiederholt untersucht wurde (z. B. Turmo, 2004; Watermann & Baumert, 2006), sind die individualpsychologischen Mechanismen, die den Herkunftseffekten zugrunde liegen, bisher weitgehend ungeklärt. Auch ist bislang unklar, ob die soziale Herkunft nicht nur die allgemeine Lesekompetenz, sondern auch das Verständnis eines spezifischen Textes beeinflusst. Anders als bei der Lesekompetenz, die im Umgang mit sehr vielen und verschiedenartigen Texten erfasst wird, besteht bei der Auseinandersetzung mit einem spezifischen Text vermutlich eher die Möglichkeit, allgemeine Fähigkeitsdefizite z. B. durch hohes themenspezifisches Vorwissen oder Interesse zu kompensieren (vgl. Schneider, Körkel & Weinert, 1989). Mit der vorliegenden Studie sollten die Effekte sozialer Herkunftsbedingungen auf das Verständnis (bzw. die situative Repräsentation) eines spezifischen Textes möglichst umfassend untersucht werden, d. h. unter Berücksichtigung familien- und individuumsbezogener Mediatorvariablen. Zu diesem Zweck wurde ein Pfadmodell überprüft, in dem verschiedene strukturelle Merkmale der sozialen Herkunft (z. B. Bildungsniveau der Eltern) vermittelt über familiäre Prozessmerkmale (z. B. Lernunterstützung) und individuelle Faktoren (z. B. Lesemotivation) die situative Textrepräsentation (s. u.) beeinflussen. Die familiären Bedingungsfaktoren lassen sich dabei unterteilen in den sozioökonomischen Status (SÖS) sowie in Aspekte des kulturellen und sozialen Kapitals (Baumert et al., 2003). Der SÖS beschreibt die Position in einer sozialen Hierarchie, in der Auf- (bzw. Ab-)stiege mit dem Gewinn (bzw. Verlust) von finanziellen Mitteln, Macht und Prestige verbunden sind. Folglich entscheidet der SÖS einer Familie maßgeblich über die Verfügbarkeit kultureller und sozialer Ressourcen. Als Indikator für den SÖS wird gewöhnlich die Berufstätigkeit (der Eltern) verwendet (Baumert et al., 2003). Der SÖS gilt als bedeutsames Strukturmerkmal familiärer Lebensverhältnisse, das seinen Einfluss auf die Kompetenzentwicklung u. a. vermittelt über Prozessmerkmale des kulturellen und sozialen Kapitals entfaltet (vgl. Baumert et al. 2003; Watermann & Baumert, 2006). Wichtige Indikatoren für das kulturelle Kapital von Schülern sind nach Bourdieu (1983) das Bildungsniveau der Eltern, der Besitz von Kulturgütern (z. B. klassische Literatur) in der Familie und die Verfügbarkeit von Bildungsressourcen (z. B. Lexika). Einen weiteren Hinweis auf das kulturelle Kapital gibt der Migrationsstatus einer Familie. Während es sich beim elterlichen Bildungsniveau und dem Migrationsstatus um Strukturmerkmale der sozialen Herkunft handelt, sind die Bildungsressourcen und der Besitz von Kulturgütern den Prozessmerkmalen zuzuordnen (vgl. Watermann & Baumert, 2006). Vermittelt über die prozessbezogenen Merkmale entfalten die strukturellen Merkmale ihre Wirkung. Soziales Kapital basiert auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, in der der Einzelne z. B. 240 Ellen Schaffner, Ulrich Schiefele von den kognitiven, sozialen und materiellen Ressourcen der anderen Mitglieder profitieren kann (Bourdieu, 1983). Als Indikatoren für soziales Kapital können das akzeptierende Familienklima und die Lernunterstützung durch die Eltern angesehen werden. In beiden Fällen handelt es sich um Prozessmerkmale. Die empirische Forschung zu Lesekompetenz und Textverstehen hat eine Reihe von individuellen Einflussfaktoren identifiziert, die als potenzielle Mediatoren der Effekte des familiären Hintergrunds in Betracht kommen. Als wichtige kognitive Bedingungen des Textverstehens wurden v. a. die kognitive Grundfähigkeit (bzw. allgemeine Intelligenz), das thematische Vorwissen und das Wissen über Lese- und Lernstrategien empirisch belegt (z. B. Kintsch, 1998; Schaffner et al., 2004; Schlagmüller & Schneider, 2007). Grundfähigkeit und Vorwissen begünstigen u. a. Schlussfolgerungen beim Lesen, die Kohärenzbildung und den Aufbau einer elaborierten situativen Textrepräsentation. Das metakognitive Strategiewissen beinhaltet Kenntnisse über die effektive Steuerung von Lern- und Denkprozessen im Umgang mit Texten und ermöglicht z. B. einen wirksamen Umgang mit Verstehensproblemen. Als motivationale Bedingungen des Textlernens berücksichtigten wir die intrinsische Lesemotivation und das thematische Interesse. Beide Faktoren erwiesen sich in der Vergangenheit als substanzielle Prädiktoren von Lesekompetenz und Textlernen (z. B. Baker & Wigfield, 1999; Schiefele, 1996). Die intrinsische Lesemotivation ist durch das habituelle Auftreten von Leseabsichten definiert, die auf positive Erlebenszustände während des Lesens gerichtet sind (vgl. Schaffner & Schiefele, 2007). Ein intrinsisch motivierter Leser erlebt das Lesen z. B. als freudvolle, absorbierende oder stimulierende Tätigkeit. Das thematische Interesse kann als subjektive Wertschätzung eines bestimmten Themas definiert werden (vgl. Krapp, 2006; Schiefele, 1996). Diese Wertschätzung basiert auf der Assoziation eines Themas mit positiven Gefühlen und persönlicher Bedeutsamkeit. Als Textlernleistung wurde in der vorliegenden Studie die Ausprägung der situativen Textrepräsentation (STR) erhoben. Dieses Maß zeichnet sich gegenüber vielen anderen Indikatoren des Textlernens durch seine Fundierung in Theorien der Textverarbeitung aus und stellt darüber hinaus die anspruchsvollste bzw. tiefgehendste Verstehens- und Lernebene dar. Es besteht breiter Konsens, dass beim Lesen eines Textes multiple kognitive Repräsentationen gebildet werden (z. B. Graesser, Millis & Zwaan, 1997). Kintsch (1998) unterscheidet eine wörtliche, eine propositionale und eine situative Komponente der Textrepräsentation. Der genaue Wortlaut und die Bedeutung der Sätze eines Textes sind in der wörtlichen bzw. propositionalen Repräsentation enthalten („Textbasis“). Demgegenüber bildet die STR die im Text beschriebenen Situationen bzw. Sachverhalte im Sinne mentaler Modelle ab, d. h. weitgehend unabhängig von der konkreten (symbolischen) Form des Textes und z. B. auch in bildlich-räumlicher Form. Die STR enthält in hohem Maße auch Elaborationen und Schlussfolgerungen des Lesers. In unserem theoretischen Modell lassen sich fünf Ebenen unterscheiden (s. Abbildung 1). Während die distalen, familiären Bedingungsfaktoren auf Ebene 1 (Strukturmerkmale) und Ebene 2 (Prozessmerkmale) angesiedelt sind, befinden sich die vermittelnden Individualfaktoren auf Ebene 3 (grundlegende, ontogenetisch früh entwickelte Faktoren) und Ebene 4 (spezifische Faktoren, die sich vermutlich in Abhängigkeit von den Merkmalen der Ebene 3 entwickeln). Die STR bildet schließlich als zu prognostizierendes Kriterium die Ebene 5. Das Modell basiert grundsätzlich auf der Annahme, dass die Einflüsse der Bedingungsfaktoren einer Ebene auf die STR jeweils über alle Faktoren der sich anschließenden Ebenen vermittelt werden. Ausgehend von den Bedingungsfaktoren einer Ebene nahmen wir daher Pfade auf sämtliche Variablen der nächsten Ebene an. Von diesem generellen Vorgehen wichen wir in drei Fällen ab. So gingen wir in Anlehnung an frühere Befunde (Baumert et al., 2003) nicht davon aus, dass sich der Migrationsstatus vermit- Familiäre und individuelle Bedingungen des Textlernens 241 telt über die hier berücksichtigten Prozessmerkmale familiärer Lebensverhältnisse auf die individuellen Bedingungsfaktoren auswirkt. Stattdessen postulierten wir - als Folge der oftmals unzureichenden Sprachpraxis in Migrantenfamilien (vgl. Stanat, 2003) - direkte negative Effekte des Migrationsstatus auf die kognitive Grundfähigkeit und die intrinsische Lesemotivation. Weiterhin berücksichtigten wir aufgrund bisheriger Befunde (vgl. Schiefele, 1996) keinen Pfad der kognitiven Grundfähigkeit auf das thematische Interesse. Schließlich nahmen wir ausgehend von den Variablen der Ebene 3 (Grundfähigkeit, Lesemotivation) nicht nur Effekte auf die Variablen der Ebene 4, sondern zusätzlich direkte Wirkungen auf die STR (Ebene 5) an. Im Falle der kognitiven Grundfähigkeit ist der direkte Effekt damit zu begründen, dass intelligentere Leser aufgrund einer höheren Effizienz beim Dekodieren des Textes mehr kognitive Ressourcen für Verstehensprozesse zur Verfügung haben und zudem besser in der Lage sind, schlussfolgernd zu denken. Da sich die intrinsische Lesemotivation ebenfalls günstig auf die Dekodierfähigkeit auswirkt (v. a. vermittelt über die Häufigkeit des Lesens in der Freizeit), ist auch in diesem Fall von einem direkten Effekt auszugehen (s. a. Schaffner & Schiefele, 2007). Wir haben die Rolle des Geschlechts aus Gründen der Übersichtlichkeit zwar nicht in Abbildung 1 dargestellt, sie aber dennoch in den vorliegenden Analysen berücksichtigt. In Übereinstimmung mit der bisherigen Forschung nahmen wir zum einen an, dass Mädchen über eine höhere intrinsische Lesemotivation und über größeres metakognitives Strategiewissen als Jungen verfügen (Schlagmüller & Schneider, 2007; Stanat & Kunter, 2001). Zum anderen war davon auszugehen, dass Jungen in höherem Ausmaß als Mädchen themenspezifisches mathematisches Vorwissen besitzen. Ein direkter Effekt des Geschlechts auf das Textlernen wurde nicht angenommen (vgl. Stanat & Kunter 2001). Das vorliegende Modell stellt die Weiterentwicklung eines früheren Modells dar, in dem bereits einige der postulierten Zusammenhänge anhand von PISA-2000-Daten bestätigt werden konnten (s. Schaffner et al., 2004). Gegenüber dem früheren Modell zeichnet sich das vorliegende zum einen dadurch aus, dass es die Merkmale des familiären Hintergrunds stärker in den Mittelpunkt rückt und differenzierter abbildet. Zum anderen wurden solche Individualfaktoren nun nicht mehr berücksichtigt, die sich als wenig bedeutsam erwiesen haben. Abbildung 1: Theoretisches Modell zur Vorhersage der situativen Textrepräsentation 242 Ellen Schaffner, Ulrich Schiefele Methode Stichprobe Die Stichprobe bestand aus einer Teilmenge der an PISA 2003 teilnehmenden 15-jährigen Schülerinnen und Schüler. Zunächst wurden die Schüler derjenigen Teilstichprobe ausgewählt, die den nationalen Ergänzungstest im Lesen bearbeitet hatte. Der Ergänzungstest untersuchte die kognitive Repräsentation bzgl. zweier Texte, wobei (bedingt durch Restriktionen des Erhebungsdesigns) nur für einen der beiden Texte weitgehend vollständige Daten vorlagen. Die entsprechende Stichprobe (n = 654) wurde infolge einer latenten Klassenanalyse, die für eine Gruppe von Schülern verstärktes Rateverhalten im Test der STR belegte (s. u.), noch einmal reduziert, sodass die Modellüberprüfung schließlich in einer Stichprobe mit 414 Schülern durchgeführt wurde (51 % weiblich, 49 % männlich; 46 % besuchten ein Gymnasium, 31 % eine Realschule, 13 % eine Hauptschule und 10 % eine integrierte Gesamtschule 2 ; 15 % wiesen einen Migrationshintergrund auf, 7 % machten dazu keine Angabe). Text PISA 2003 untersuchte als Schwerpunktgebiet die Mathematik. Daher wurden für den nationalen Ergänzungstest im Lesen Texte mit mathematischen Inhalten ausgewählt. Der Text, auf den sich die vorliegenden Analysen beziehen, behandelt die Entstehung und die Funktionsweise des arabischen Zahlensystems u. a. im Vergleich mit den römischen Zahlen. Er wurde einem populärwissenschaftlichen Sachbuch für Jugendliche entnommen und besteht aus 801 Wörtern. Situative Textrepräsentation Gewöhnlich wird die STR durch die Vorgabe richtiger und falscher Schlussfolgerungen zu den Textinhalten erfasst, die als „richtig“ oder „falsch“ beurteilt werden (vgl. Schaffner et al., 2004). Wir verwendeten dementsprechend einen Verifikationstest, der 7 richtige und 7 falsche textbezogene Schlussfolgerungen enthielt. Das Vermögen zur Unterscheidung von richtigen und falschen Sätzen kann nach Macmillan und Creelman (2005) als einfache Summe akzeptierter richtiger und abgelehnter falscher Sätze bestimmt werden (s.a. Schaffner & Schiefele, 2007). Zur Berechnung der STR wurden folglich alle akzeptierten richtigen und alle abgelehnten falschen Sätze mit 1 kodiert und aufsummiert. Der Test erwies sich jedoch als wenig reliabel (Cronbachs a = .45, 14 Items, n = 607; 47 Pbn mit fehlenden Werten). Da wir in einer früheren Studie (Schaffner & Schiefele, 2007) eine deutlich höhere Reliabilität für den nahezu identischen Test ermittelt hatten, vermuteten wir als mögliche Ursache der Reliabilitätsbeeinträchtigung ein verstärktes Rateverhalten, möglicherweise als Folge der hohen Testbelastung im Rahmen der PISA-Studie. Da sich richtige Antworten aufgrund des dichotomen Antwortformats mit einer 50-%-Wahrscheinlichkeit erraten ließen, hätte dies ein Absinken der Interitemkorrelationen und somit auch der internen Konsistenz zur Folge. Um das Ausmaß des Rateverhaltens in unserer Stichprobe empirisch zu prüfen, testeten wir mit dem Programm WINMIRA ein Mischverteilungsmodell (Mixed-Rasch-Modell [MRM]) mit zwei Personenklassen, wobei wir die Lösungswahrscheinlichkeiten sämtlicher Items in einer dieser Klassen auf p = .50 fixierten. Dieser Wert entspricht der Wahrscheinlichkeit, die Lösung eines dichotomen Items zufällig zu erraten. Die absolute Passung dieses Modells wurde anhand der Prüfgrößen Cressie-Read (CR) und Pearson c 2 überprüft, deren Nicht-Signifikanz die Gültigkeit eines Modells anzeigt (von Davier, 1997). Folglich werteten wir den nicht signifikanten CR-Wert (CR: p = .07; Pearson c 2 : p = .005) als Hinweis auf die Gültigkeit des MRM mit den fixierten Ratewahrscheinlichkeiten. 3 Aufgrund des MRMs wurden in unserer Stichprobe 190 Schüler identifiziert, die sich durch ein überwiegend zufälliges Antwortverhalten im Verifikationstest von den restlichen Pbn (n = 417) abhoben (für 47 Pbn konnte aufgrund fehlender Werte im Verifikationstest keine Klassenzugehörigkeit bestimmt werden). Auch die anschließende Reliabilitätsanalyse bestätigte unsere Annahmen und ergab nur für die nicht ratende Klasse (NRK) eine ausreichende Reliabilität (a = .64; 10 Items, n = 417), wohingegen a in der ratenden Klasse (RK) sogar negativ ausfiel (-.34, 10 Items, n = 190). Es erschien daher geboten, unser Modell nur für die NRK zu überprüfen, deren Umfang sich aufgrund fehlender Werte in der Variable Geschlecht von 417 auf 414 Personen reduzierte. Bedingungsfaktoren Aufgrund der Vorarbeiten des nationalen PISA-Konsortiums konnte für einen Großteil der berücksichtigten Skalen auf rasch-skalierte Personenparameter Familiäre und individuelle Bedingungen des Textlernens 243 (Weighted Likelihood Estimates [WLEs]) zurückgegriffen werden (Ramm et al., 2006). In allen anderen Fällen nahmen wir die Berechnung von WLEs mittels WINMIRA selbst vor. Lediglich für Indikatoren, die auf der Basis von Einzelitems gebildet wurden (Migrationsstatus, Bildungsniveau, SÖS), waren keine WLE-Schätzungen möglich. Auch für die STR wurden keine WLEs berechnet, da für diese Variable zwei Personenklassen vorlagen. Die im Folgenden berichteten Reliabilitäten beziehen sich in der Regel auf die Teilstichprobe der NRK (n = 414). Familiäre Faktoren Sozioökonomischer Status (SÖS). Der SÖS wurde über die Berufstätigkeit der Eltern erfasst. Die Berufsangaben wurden anhand der „International Standard Classification of Occupation“ (ISCO-88) kodiert und anschließend mit dem „International Socio-Economic Index“ (ISEI) in eine Rangfolge gebracht. Der ISEI hat einen Wertebereich von 16 (z.B. Reinigungskräfte) bis 90 (Richter). Wir verwendeten den jeweils höheren ISEI beider Elternteile als Indikator für den SÖS (s. a. Watermann & Baumert, 2006). Bildungsniveau der Eltern. Das elterliche Bildungsniveau wurde über den Schulabschluss und die berufliche Ausbildung der Eltern erfasst. Aus den entsprechenden Angaben wurde ein Gesamtwert zwischen 1 (ohne Lehre mit oder ohne Hauptschulabschluss) und 7 (wissenschaftlicher Hochschulabschluss) gebildet. Wir verwendeten den jeweils höheren Bildungsabschluss beider Elternteile als Indikator für das elterliche Bildungsniveau. Migrationsstatus. Die Schüler gaben an, in welchem Land sie und ihre Eltern geboren wurden. Basierend auf diesen Angaben ließen sich vier Gruppen von Jugendlichen unterscheiden: 1 = Eltern und Schüler in Deutschland geboren, 2 = ein Elternteil im Ausland geboren (nicht der Schüler), 3 = beide Eltern im Ausland geboren (nicht der Schüler), 4 = beide Eltern und der Schüler im Ausland geboren. Besitz von Kulturgütern. Der Besitz von Kulturgütern (a = .71, 3 Items, n = 407 4 ) wurde über die (a) Verfügbarkeit von klassischer Literatur sowie (b) von Büchern mit Gedichten und (c) von Kunstwerken im Elternhaus erfasst. Die Schüler beantworteten die entsprechenden Items mit Ja oder Nein. Bildungsressourcen. Hier gaben die Schüler an, ob sie zu Hause über (a) einen Schreibtisch zum Lernen, (b) einen ruhigen Platz zum Lernen, (c) einen eigenen Taschenrechner, (d) Bücher, die ihnen beim Arbeiten für die Schule helfen sowie (e) ein Wörterbuch verfügten. Die fünf Items (a = .57, n = 407) wurden mit Ja oder Nein beantwortet. Akzeptierendes Familienklima. Die Schüler beurteilten drei Aussagen (a = .69, n = 398) zum akzeptierenden Klima in ihrer Familie (z. B. „Wenn ich ein Problem habe, sind meine Eltern für mich da“) auf einer vierstufigen Antwortskala (von 1 = „trifft nicht zu“ bis 4 = „trifft zu“). Lernunterstützung. Mit vier Items (a = .87, n = 397) wurde das Ausmaß elterlicher Unterstützung im Fach Mathematik erfasst (z. B. „Wenn ich in Mathematik nicht mehr weiter weiß, helfen mir meine Eltern“). Die Items wurden von den Schülern ebenfalls auf einer vierstufigen Antwortskala (s. o.). beurteilt. Individuelle Faktoren Kognitive Grundfähigkeit. Zur Erfassung der kognitiven Grundfähigkeit kam der Subtest „Figurenanalogien“ (25 Items) aus dem Kognitiven Fähigkeits- Test KFT 5 - 12 + R (Heller & Perleth, 2000) zum Einsatz. Dieser Subtest prüft die Fähigkeit zum analogen Denken im Umgang mit geometrischen Figuren und indiziert somit den zentralen Intelligenzfaktor „reasoning“. Die WLEs für die Grundfähigkeit wurden in der nationalen PISA-Stichprobe auf einer Metrik mit einem Mittelwert von 50 und einer Standardabweichung von 10 verankert. Intrinsische Lesemotivation. Die intrinsische Lesemotivation (a = .87; n = 395) wurde mit drei Items erfasst, die sich auf den intrinsischen Anreiz des Lesens beziehen (z. B. „Weil mir das Lesen Spaß macht, würde ich es nicht gerne aufgeben“). Die Items wurden auf einer vierstufigen Antwortskala (s. o.) beurteilt. Metakognitives Wissen über Lese- und Lernstrategien. Zur Erfassung des metakognitiven Strategiewissens kam der Würzburger Lesestrategie-Wissenstest für die Klassenstufen 7 - 12 (WLST 7 - 12) zum Einsatz (Schlagmüller & Schneider, 2007). In Bezug auf sechs beschriebene Lernsituationen sind jeweils mehrere Strategien hinsichtlich ihrer Angemessenheit mit Schulnoten zu bewerten. Bei der Testauswertung werden jeweils zwei Strategien miteinander verglichen und es wird ein Punkt vergeben, wenn die relative Bewertung beider Strategien mit einem Expertenurteil übereinstimmt. Das Skalenhandbuch zu PISA 2003 (Ramm et al., 2006) berichtet eine Reliabilität (a) von .88 (n = 1239). 5 244 Ellen Schaffner, Ulrich Schiefele Textspezifisches Vorwissen. Der Vorwissenstest bestand aus sieben Fragen (z. B. „Nenne die größte fünfstellige Zahl, die genau eine 9 enthält! “), die auf die Funktionsweise unseres (d. h. des arabischen) und des römischen Zahlensystems bezogen waren (a = .54, n = 414). Fünf Fragen hatten ein offenes Antwortformat, zwei Items ein Multiple-Choice- Format mit je vier Antwortalternativen. Richtige Antworten wurden mit 1 bewertet, andere Antworten mit 0. Thematisches Interesse. Nach dem Vorwissenstest und vor der Lesephase erhielten die Schüler eine kurze Beschreibung des im Text behandelten Themas. Anschließend beurteilten sie ihr darauf bezogenes Interesse (a = .90, 6 Items, n = 414), unter Berücksichtigung gefühls- und wertbezogener Aspekte. Die Beantwortung erfolgte anhand einer vierstufigen Skala (s. o.). Fehlende Werte Fehlende Werte wurden auf Skalenebene nach der EM(Expectation and Maximization)-Methode imputiert (vgl. Schafer & Graham, 2002). Hierfür wurde das Programm NORM 2.03 eingesetzt, das die EM-Schätzungen unter der Annahme einer multivariaten Normalverteilung generiert. Aufgrund der Verteilungsannahme eignet sich NORM allerdings nicht für die Schätzung dichotomer Variablenausprägungen, sodass eine Datenimputation in Bezug auf das Geschlecht (drei Fälle mit fehlenden Werten) und die Klassenzugehörigkeit (RK vs. NRK; 47 Fälle mit fehlenden Werten, s.o.) nicht möglich war. Die betreffenden Fälle mussten folglich aus den weiteren Analysen ausgeschlossen werden. Ergebnisse Mittelwerte und Standardabweichungen Erwartungsgemäß fiel der durchschnittliche Wert der STR für die Pbn der RK deutlich geringer aus als für die Pbn der NRK (s. Tabelle 1). Auch bei den Bedingungsfaktoren des Textlernens zeigten sich zugunsten der NRK einige signifikante Mittelwertsunterschiede, jedoch mit kleineren Effektstärken als im Falle der STR. Insgesamt bestand die RK somit überwiegend aus schwächeren Schülern mit eher ungünstigen Lernvoraussetzungen. Dies belegt auch der vergleichsweise hohe Anteil von Hauptschülern in der RK (35 %, NRK: 13 %). Nicht ratende Klasse Ratende Klasse Effektstärken für (NRK) (RK) signifikante Mittel- (n = 414) (n = 190) wertsunterschiede M SD M SD d Geschlecht 1 0.51 0.50 0.55 0.50 - Migrationsstatus 1.37 0.86 1.58 1.06 0.22 Sozioökonomischer Status 53.06 16.94 45.74 15.48 0.45 Elterliches Bildungsniveau 4.49 1.84 3.69 1.68 0.45 Besitz von Kulturgütern 2 0.27 1.61 -0.57 1.36 0.57 Bildungsressourcen 2 2.63 0.83 2.43 0.90 0.23 Akzeptierendes Familienklima 2 1.53 1.57 1.70 1.75 - Lernunterstützung 2 0.69 2.07 0.83 2.07 - Kognitive Grundfähigkeit 2 52.64 9.50 47.14 9.54 0.58 Intrinsische Lesemotivation 2 0.74 2.16 0.08 2.26 0.37 Metakognitives Strategiewissen 2 0.08 0.85 -0.38 0.86 0.54 Vorwissen 2 0.23 1.40 -0.64 1.17 0.68 Thematisches Interesse 2 -0.74 2.42 -0.86 2.45 - Situative Textrepräsentation 8.03 1.83 6.28 1.33 1.11 Tabelle 1: Mittelwerte und Standardabweichungen der Untersuchungsvariablen Anmerkungen: Effektstärken werden nur für signifikant voneinander abweichende Mittelwerte berichtet (p < .05, t-Test). 1 männlich = 0, weiblich = 1 2 Rasch-skalierte Personenkennwerte (WLEs: Weighted Likelihood Estimates). Familiäre und individuelle Bedingungen des Textlernens 245 Darüber hinaus unterschieden sich die Varianzen einzelner Variablen zwischen den Personenklassen bedeutsam (Levene-Test). Während die Varianzen des Migrationsstatus, der Bildungsressourcen und des Familienklimas in der RK signifikant höher waren als in der NRK (p < .05), verhielt es sich in Bezug auf das elterliche Bildungsniveau, den Kulturgüterbesitz, das Vorwissen und die STR umgekehrt. Dabei war die homogenere STR der RK u. a. eine Folge der auf p = .50 fixierten Itemlösungswahrscheinlichkeiten (s. o.). Variablenzusammenhänge In der NRK zeigten sich die höchsten Korrelationen zwischen STR und den kognitiven Individualfaktoren (Vorwissen: .42, Grundfähigkeit: .40, Strategiewissen: .39; s. Tabelle 2). Etwas geringer fielen die Zusammenhänge zwischen STR und intrinsischer Lesemotivation (.29), Besitz von Kulturgütern (.32), SÖS (.32) und Bildungsniveau (.30) aus. Nur niedrig korrelierte die STR mit den familiären Bildungsressourcen (.11). Entgegen unseren Erwartungen leisteten folgende Variablen keinen signifikanten Beitrag zur Vorhersage des Textlernens: thematisches Interesse, Familienklima, Lernunterstützung und Migrationsstatus. In der RK waren die meisten Bedingungsfaktoren allenfalls niedrig mit der STR korreliert (vgl. Tabelle 2). Das gilt auch für die Grundfähigkeit und das Vorwissen, für die mittlere bis hohe Effektstärken bei der Vorhersage der STR zu erwarten gewesen wären (vgl. Schaffner et al., 2004; Schaffner & Schiefele, 2007). Direkte Vergleiche zwischen den Korrelationen der NRK und der RK ergaben zudem signifikante Unterschiede (p < .05) zugunsten der NRK hinsichtlich der Vorhersagestärke folgender Prädiktoren: SÖS, Bildungsniveau, Lesemotivation, Grundfähigkeit sowie Strategie- und Vorwissen. Diese Befunde können als weitere Bestätigung für das überwiegend zufällige Antwortverhalten der RK-Schüler in dem Test zur Messung der STR gelten. Tabelle 2: Interkorrelationen der Untersuchungsvariablen Anmerkungen: Die Korrelationen der NRK (n = 414) befinden sich rechts oberhalb der Diagonalen, die Korrelationen der RK (n = 190) links unterhalb der Diagonalen. Korrelationen > .09 (NRK) bzw. Korrelationen > .14 (RK) sind signifikant (p < .05). 1 männlich = 0, weiblich = 1 RK/ NRK Geschl SÖS MigrS BildN BKult BRess AFKli LernU ILemo KogGF MetaS VorW ThInt STR Geschlecht 1 Geschl - -.04 .00 -.05 .08 .08 -.02 -.07 .35 .08 .21 -.06 .01 .10 Sozioökonomischer Status SÖS -.02 - -.28 .68 .49 .20 .01 .12 .26 .32 .19 .30 .05 .32 Migrationsstatus MigrS -.04 -.21 - -.31 -.15 -.07 .03 -.05 -.05 -.10 -.07 -.11 .06 -.05 Bildungsniveau BildN .08 .44 -.22 - .53 .26 .03 .16 .25 .36 .20 .33 .06 .30 Besitz von Kulturgütern BKult .12 .33 -.07 .23 - .33 .06 .13 .36 .28 .23 .27 .24 .32 Bildungsressourcen BRess .13 .15 .06 .07 .33 - .08 .04 .15 .21 .16 .16 .08 .11 Akzeptierendes Familienklima AFKli .18 .03 .05 -.09 .08 .07 - .44 .06 .02 .00 .06 .13 .00 Lernunterstützung LernU -.02 .05 .05 -.01 -.03 .02 .45 - .19 -.05 -.06 .02 .20 -.05 Intrinsische Lesemotivation ILemo .30 .07 -.01 .03 .34 .20 .03 .03 - .23 .15 .22 .22 .29 Kognitive Grundfähigkeit KogGF .18 -.02 -.02 .21 .25 .28 -.07 -.08 .32 - .38 .49 .02 .40 Metakognitives Strategiewissen MetaS .30 .00 -.10 .05 .15 .24 .11 -.14 .18 .35 - .32 .02 .39 Vorwissen VorW .13 .10 -.17 .14 .22 .26 -.03 -.17 .12 .43 .41 - .04 .42 Thematisches Interesse ThInt -.04 .00 .25 -.10 .05 -.06 .13 .30 .21 -.06 -.07 -.07 - .07 Situative Textrepräsentation STR .04 .12 -.06 .10 .23 -.02 -.07 -.19 .05 .16 .16 .26 -.07 - 246 Ellen Schaffner, Ulrich Schiefele Modelltest und -anpassung Das postulierte Pfadmodell wurde mit dem Programm MPLUS für die NRK überprüft. Im Ausgangsmodell nahmen wir neben den bereits erläuterten unidirektionalen Pfaden (s. Abbildung 1) bidirektionale Pfade zwischen Variablen derselben Ebene an, die theoretisch einem gemeinsamen Faktor zugeordnet werden können. Dies betraf die Variablen (a) Kulturgüterbesitz und Bildungsressourcen (kulturelles Kapital), (b) akzeptierendes Familienklima und Lernunterstützung (soziales Kapital) sowie (c) textspezifisches Vorwissen und metakognitives Strategiewissen (Wissen). Als Indikatoren für die Modellpassung verwendeten wir den „Comparative Fit Index“ (CFI), den „Tucker-Lewis Index“ (TLI) und den „Root Mean Square Error of Approximation“ (RMSEA) (vgl. Kline, 2005). Die Passung eines Modells gilt als akzeptabel, wenn CFI und TLI Werte zwischen .90 und .95 annehmen und RMSEA (bzw. die obere Grenze des zugehörigen Konfidenzintervalls) zwischen .06 und .08 liegt. Übersteigen CFI und TLI den Wert von .95 und liegt RMSEA unter .06, lässt dies auf eine gute Modellpassung schließen. Die genannten Kriterien sprachen zunächst gegen eine akzeptable Passung des Ausgangsmodells (c 2 (54) = 144.57, p < .001, CFI = .90, TLI = .85, RMSEA = .064 [.051 - .076]). Darüber hinaus ergaben sich mehrere nicht signifikante Pfadkoeffizienten. Dies betraf die postulierten Effekte 6 des SÖS auf die Bildungsressourcen, das Familienklima und die Lernunterstützung sowie den Effekt des Bildungsniveaus auf das Familienklima. Ebenfalls nicht signifikant waren die Effekte des Migrationsstatus und des Familienklimas auf die kognitive Grundfähigkeit und die intrinsische Lesemotivation, der Effekt der Bildungsressourcen auf die Lesemotivation, der Effekt der Lesemotivation auf das Strategiewissen sowie der Effekt des thematischen Interesses auf die STR. Die nicht signifikanten Pfade wurden in einem ersten Schritt aus dem Modell entfernt, woraufhin die Fitindikatoren des Modells, mit Ausnahme des TLI, eine akzeptable Passung mit den Daten anzeigten (c 2 (64) = 149.02, p < .001, CFI = .91, TLI = .88, RMSEA = .057 [.045 - .069]). Aufgrund des niedrigen TLI schien es geboten, die Aufnahme zusätzlicher Pfade auf der Basis von Modifikationsindizes (MI > 10) und theoretischer Überlegungen zu Abbildung 2: Angepasstes Modell zur Vorhersage der situativen Textrepräsentation (n = 414; für alle Pfadkoeffizienten gilt: p < .05) Familiäre und individuelle Bedingungen des Textlernens 247 prüfen (vgl. Kline, 2005). Insgesamt zwei gerichtete Pfade wurden in Betracht gezogen, nämlich vom Bildungsniveau auf die kognitive Grundfähigkeit (MI = 27.9) und vom Kulturgüterbesitz auf das thematische Interesse (MI = 12.9). Schließlich ergänzten wir das Modell noch um einen bidirektionalen Pfad zwischen Lesemotivation und kognitiver Grundfähigkeit (MI = 7.6). Zwar erreichte der MI für diesen Pfad nicht die geforderte Höhe, jedoch belegen die MIs für die gerichteten Pfade der Grundfähigkeit auf die Lesemotivation bzw. der Lesemotivation auf die Grundfähigkeit (MI = 10.3 bzw. 9.8) die Substanz des Zusammenhangs zwischen beiden Variablen. Als Erklärung dieses Zusammenhangs kommen sowohl wechselseitige Einflüsse als auch die Wirkung einer Drittvariable (z. B. eines hier nicht berücksichtigten Aspekts des familiären Hintergrunds) infrage. Infolge des beschriebenen Anpassungsprozesses zeichnete sich das Modell (s. Abbildung 2) durch eine gute Passung aus (c 2 (62) = 98.82, p = .002, CFI = .96, TLI = .95, RMSEA = .038 [.023 - .051]). Es bestätigte sich die Hypothese, dass die familiären Indikatoren - sofern sie signifikant mit der STR assoziiert sind - ihren Einfluss vermittelt über die individuellen Bedingungsfaktoren entfalten. Von den familiären Merkmalen übte das Bildungsniveau der Eltern den insgesamt stärksten (indirekten) Effekt auf die STR aus (Summe indirekter Effekte: b sum = .145, p < .01). Diesem Effekt liegen 16 indirekte Einzeleffekte zugrunde, die zwar größtenteils sehr klein (b < .01), in ihrer Summe, jedoch nicht unerheblich sind. 7 Ein nennenswertes Ausmaß erreichten v. a. die Pfade, die sich vom elterlichen Bildungsniveau direkt auf die kognitive Grundfähigkeit richten und von dort aus entweder direkt (b = .045) oder vermittelt über das Strategiebzw. Vorwissen (b = .029 bzw. .023) zur STR führen (ps < .01). Zusätzlich ergaben sich mittlere Effekte des Bildungsniveaus auf die familiären Prozessmerkmale Kulturgüterbesitz und Bildungsressourcen, wobei nur die über den Kulturgüterbesitz vermittelten Effekte des Bildungsniveaus auf die STR bedeutsam waren (b sum = .039, p < .01), nicht aber die über Bildungsressourcen vermittelten Effekte (b sum = .009, ns). Der SÖS übte im Gegensatz zum Bildungsniveau lediglich auf den Kulturgüterbesitz einen direkten Effekt aus, so dass der indirekte Gesamteffekt des SÖS auf die STR (b sum = .024, p < .01) verglichen mit dem Gesamteffekt des Bildungsniveaus (b sum = .145) deutlich schwächer ausgeprägt war. Bei der Bewertung dieses Unterschieds (s. Diskussion) ist jedoch zu berücksichtigen, dass der SÖS und das Bildungsniveau hoch miteinander korrelierten und zudem vergleichbar hohe Korrelationen mit den anderen Variablen des Modells aufwiesen (s. Tabelle 2). Von den familiären Prozessmerkmalen wirkte sich der Besitz von Kulturgütern am stärksten auf die STR aus (b sum = .105, p < .01). Dies erklärt die Bedeutsamkeit dieser Variable als Mediator für die Effekte der familiären Strukturmerkmale (s. o.). Der Effekt des Kulturgüterbesitzes auf die STR wurde v. a. über die intrinsische Lesemotivation (b sum = .063, p < .01) und daneben auch über die Grundfähigkeit vermittelt (b sum = .042, p < .05). Die Bildungsressourcen übten einen eher kleinen positiven Effekt auf die STR aus (b sum = .036, p < .05). Der Effekt wurde ausschließlich über die Grundfähigkeit (und infolgedessen auch über das Strategie- und Vorwissen) vermittelt, d. h. die intrinsische Lesemotivation spielte als Mediator in diesem Fall keine Rolle. Die Effekte der elterlichen Lernunterstützung auf die STR waren teilweise positiv und teilweise negativ und neutralisierten sich gegenseitig (b sum = -.005, ns). Vermittelt über die Lesemotivation wirkte sich die Lernunterstützung positiv auf die STR aus (b sum = .035, p < .05), vermittelt über die Grundfähigkeit hatte sie einen unerwarteten negativen Effekt (b sum = -.041, p < .05). Da die Lernunterstützung mit der Grundfähigkeit zwar negativ (-.05), aber nicht signifikant korrelierte, liegt ein geringfügiger Suppressionseffekt vor: befreit von der mit anderen familiären Merkmalen geteilten Varianz stieg der negative Zusammenhang 248 Ellen Schaffner, Ulrich Schiefele zwischen Lernunterstützung und Fähigkeit an (s. Diskussion). Von den individuellen Bedingungsfaktoren übte die kognitive Grundfähigkeit erwartungsgemäß den insgesamt stärksten Effekt auf die STR aus (b sum = .352), wobei der Einfluss teils direkt (b = .161) und teils über das Strategie- und Vorwissen vermittelt war (b sum = .190, ps < .01). Demgegenüber wirkte sich die intrinsische Lesemotivation überwiegend direkt auf die STR aus (b = .170); eine zusätzliche indirekte Wirkung war ausschließlich vermittelt über das Vorwissen nachweisbar (b = .036, ps < .01). Hinsichtlich seiner Stärke war der Gesamteffekt der intrinsischen Lesemotivation auf die STR (b sum = .206) mit den Effekten des Vorwissens (b = .228) und des Strategiewissens (b = .228) vergleichbar. Schließlich ist noch festzuhalten, dass sich die für das Geschlecht erwarteten indirekten Effekte auf die STR zeigten (s. Abbildung 2). Direkte Auswirkungen des Geschlechts waren auf das metakognitive Strategiewissen (zugunsten der Mädchen), die intrinsische Lesemotivation (zugunsten der Mädchen) und das textspezifische Vorwissen (zugunsten der Jungen) nachweisbar. Insgesamt überwogen die Vorteile der Mädchen den Vorwissensvorsprung der Jungen, sodass die Mädchen insgesamt höhere Werte in der STR erzielten als die Jungen (r Geschlecht; STR = .10; vgl. Tabelle 2). Diskussion Das überprüfte Modell sollte zu einer Klärung der Wirkmechanismen beitragen, die dem Zusammenhang zwischen Strukturmerkmalen familiärer Lebensverhältnisse und dem Verstehen bzw. Lernen eines Textes zugrunde liegen. Bedeutsame Mediatoren wurden auf familien- und individuumsbezogener Ebene postuliert. Übereinstimmend mit früheren Befunden erwiesen sich der Besitz von Kulturgütern und die Bildungsressourcen als familiäre Merkmale mit substanzieller Vermittlungsfunktion (vgl. Ehmke, Hohensee, Siegle & Prenzel, 2006; Turmo, 2004; Watermann & Baumert, 2006). Weiterhin konnten wir über bisherige Befunde hinausgehend zeigen, dass die Effekte des familiären Hintergrunds auf das Textlernen über die angenommenen individuellen Merkmale (mit Ausnahme des thematischen Interesses) vermittelt werden. In den betreffenden Mediationsprozessen nehmen die Grundfähigkeit und die Lesemotivation jeweils eine Schüsselposition ein, denn sie vermitteln die Effekte der familiären Bedingungen auf die proximalen individuellen Bedingungsfaktoren bzw. direkt auf das Textlernen. Die vorliegenden Ergebnisse stehen im Einklang mit der Annahme Bourdieus (1982, 1983), dass kulturelles Kapital mit gesellschaftlich angesehenen „Vorlieben“ (z. B. Einstellungen, motivationalen Orientierungen) verbunden ist. So wirkte sich der Kulturgüterbesitz in der Familie positiv auf die „Vorliebe“ der Jugendlichen für das Lesen bzw. ihre intrinsische Lesemotivation aus. Bildungsressourcen scheinen demgegenüber eher kognitive Effekte zu begünstigen und somit den Fähigkeitszuwachs zu fördern. Die differenziellen Auswirkungen des Kulturgüterbesitzes und der Bildungsressourcen weisen auf die Notwendigkeit einer Differenzierung unterschiedlicher Formen kulturellen Kapitals hin. Wenngleich es sich bei der Sprache nach Bourdieu (1982) um ein Kernelement des kulturellen Kapitals handelt, hatte der Migrationsstatus keine Auswirkungen auf die STR. Zwar wurden an anderer Stelle wiederholt negative Effekte eines Einwanderungshintergrundes auf die Lesekompetenz nachgewiesen (Baumert & Schümer, 2001; Stanat, 2003), im Unterschied zu den betreffenden Studien untersuchten wir jedoch das Verständnis eines spezifischen Textes und nicht die allgemeine Lesekompetenz im Umgang mit einer breiten Vielfalt verschiedener Texte. Möglicherweise schnitten Schüler mit Migrationshintergrund im vorliegenden Fall auch deshalb vergleichsweise gut ab, weil Sachtexte, wie der von uns verwendete Mathematik-Text, in geringerem Ausmaß die Kenntnis kulturspezifischer Bedeutungskonnotationen erfordern als literarische Texte. Familiäre und individuelle Bedingungen des Textlernens 249 Im Unterschied zum Kulturkapital wirkten sich die hier untersuchten Aspekte des sozialen Kapitals - das akzeptierende Familienklima und die elterliche Lernunterstützung - nicht bedeutsam auf die STR aus. Bereits andere Autoren kamen zu dem Schluss, dass das Kulturkapital die Kompetenzentwicklung maßgeblicher beeinflusst als das soziale Kapital (Turmo, 2004; Watermann & Baumert, 2006). Von verschiedenen Formen sozialen Kapitals scheint v. a. die (hier nicht berücksichtigte) Kommunikation in der Familie die Lesekompetenz geringfügig positiv zu beeinflussen (Baumert et al., 2003; Schaffner et al., 2004). Die Rolle der elterlichen Lernunterstützung lässt sich auf der Grundlage des vorliegenden Modells nur unter Vorbehalt einschätzen. Der unerwartet negative Effekt der Lernunterstützung auf die kognitive Grundfähigkeit ist vermutlich die Folge davon, dass die Grundfähigkeit - entgegen unserer Annahme - v. a. eine Determinante der Lernunterstützung darstellt: Schüler mit geringer Grundfähigkeit (und entsprechend schwächeren Schulleistungen) werden von ihren Eltern stärker unterstützt als Schüler mit großer Fähigkeit (s. a. Ehmke et al., 2006; Jungbauer-Gans, 2004). Für künftige Studien ergibt sich somit die Aufgabe, die Rolle der Lernunterstützung im Rahmen eines Modells zu untersuchen, das die frühere Grundfähigkeit (oder Leistung) als Determinante der Lernunterstützung einschließt. Unabhängig davon weisen unsere Befunde jedoch auf eine günstige motivationale Wirkung der elterlichen Lernunterstützung hin, die in dem positiven Effekt auf die intrinsische Lesemotivation deutlich wird. Im Ergebnisteil wurde bereits auf die hohe Korrelation zwischen SÖS und Bildungsniveau und auf die sehr ähnlichen Zusammenhänge dieser beiden Variablen mit anderen Modellkomponenten hingewiesen. Wenngleich sich beide Variablen stark überlappen, deuten die Ergebnisse unseres Modelltests darauf hin, dass das Bildungsniveau für die Kompetenzentwicklung womöglich entscheidend ist. Dass der SÖS hinsichtlich des Kulturgüterbesitzes noch zusätzliche Varianz erklären kann, bestätigt die Annahme Bourdieus (1982), dass die Anschaffung von Kulturgütern nicht nur ein gewisses Maß an kultureller Bildung voraussetzt, sondern auch das berufliche Prestige und ökonomische Kapital repräsentiert. In unserem Modell wurden die Effekte der sozialen Herkunft auf die STR vollständig über die kognitive Grundfähigkeit und die intrinsische Lesemotivation vermittelt. Die Lesemotivation wurde dabei etwas stärker durch die familiären Merkmale beeinflusst als die Grundfähigkeit (24 % vs. 16 % Varianzaufklärung). Während die Lesemotivation v. a. einem Einfluss durch den Kulturgüterbesitz - einem Prozessmerkmal - unterlag, wurde die kognitive Grundfähigkeit am stärksten direkt durch das elterliche Bildungsniveau beeinflusst. Dem Effekt des elterlichen Bildungsniveaus auf die Grundfähigkeit können einerseits genetische Einflüsse zugrunde liegen (elterliches Bildungsniveau und Grundfähigkeit der Kinder sind mit der Intelligenz der Eltern konfundiert). Andererseits kann der Effekt auf nicht berücksichtigte Mediatoren, sowohl auf Ebene des familiären Kapitals (z. B. Kommunikation in der Familie) als auch auf institutioneller Ebene (z. B. die besuchte Schulform), hinweisen. So repräsentieren Schulformen unterschiedliche Entwicklungsmilieus, die die Leistungsentwicklung von Schülern differenziell beeinflussen (Baumert et al., 2003). Da die Chance eines Gymnasialbesuchs für sozial benachteiligte Kinder (auch bei Kontrolle der Schulleistung) nachweislich reduziert ist, profitieren sie von diesem positiven Milieueffekt seltener als andere Kinder (Ditton & Krüsken, 2006). Die Chancenungleichheit in Bezug auf den Gymnasialbesuch ist dabei u. a. eine Folge ungleicher Bildungsaspirationen und Kenntnisse der Eltern (z.B. über juristische Rahmenbedingungen beim Schulübertritt) sowie sozial benachteiligender Übertrittsempfehlungen durch das Lehrpersonal (Ditton & Krüsken, 2006). Alle genannten Faktoren hängen vermutlich mit dem elterlichen Bildungsniveau zusammen und könnten dessen Effekt auf die Grundfähigkeit somit vermitteln. 250 Ellen Schaffner, Ulrich Schiefele Erklärungsbedürftig ist der ausgebliebene Effekt des thematischen Interesses, das sich in der Vergangenheit als bedeutsamer Prädiktor des Textlernens erwiesen hat (vgl. Schiefele, 1996). Da bereits die einfache Korrelation zwischen Interesse und STR nahe Null lag (vgl. Tabelle 2), kann für den ausbleibenden Effekt auch nicht die Kontrolle weiterer Bedingungsfaktoren verantwortlich gemacht werden. Möglicherweise war daher die von uns gewählte Art der Verstehensmessung für den Nachweis von Interesseneffekten wenig geeignet. So ermittelten wir bereits in einer früheren Studie anhand eines herkömmlichen Verstehenstests - bestehend aus offenen und Multiple-Choice- Fragen - signifikante Interesseneffekte, nicht jedoch bei der gleichzeitig erhobenen STR (Schaffner et al., 2004). Denkbar ist daneben auch, dass die stark external regulierte Teilnahme an der PISA-Studie (z. B. Durchführung durch externe Testleiter, Anstrengungsaufforderungen durch Lehrkräfte) das Autonomieerleben der Schüler beeinträchtigt und die Wirkung des thematischen Interesses verhindert hat (vgl. Ryan & Deci, 2000). Abschließend ist auf kritische Punkte der vorliegenden Studie hinzuweisen. Der erste Punkt betrifft die Messung der STR mit Hilfe eines Verifikationstests. Dieses Maß hat sich - zumindest in der von uns verwendeten PISA- Stichprobe - als rateanfällig erwiesen. Es ist daher in Erwägung zu ziehen, die Messung tiefergehenden Verstehens nicht bzw. nicht nur auf dichotome Items zu beziehen, sondern Aufgaben mit offener Antwortmöglichkeit oder Items mit Mehrfachwahlantworten einzubeziehen. Gleichwohl ist zu bedenken, dass das hohe Ausmaß des Rateverhaltens in unserem Fall wahrscheinlich auf die außergewöhnlich hohe Testbelastung im Rahmen von PISA zurückzuführen und in anderen Stichproben nicht mit gleicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Damit stellt sich zweitens die Frage nach der Generalisierbarkeit unserer Befunde. So zeichneten sich die Schüler der NRK gegenüber denen der RK durch höhere Motivations- und Kompetenzwerte, sozial besser gestellte Familien und mehr familiäres Kapital aus. Inwiefern das Modell auch für Schüler mit eher ungünstigen Lernvoraussetzungen Gültigkeit beanspruchen kann, bleibt daher im Rahmen zukünftiger Studien (unter Verwendung eines verbesserten Verstehensbzw. Lernindikators) zu prüfen. Im vorliegenden Fall wäre eine weitere Differenzierung der NRK nach Schulformen wegen des (für solche Vergleiche) zu geringen Stichprobenumfangs nicht sinnvoll gewesen. Das Modell macht insgesamt deutlich, dass den Effekten der sozialen Herkunft auf das Textverstehen vielfältige Vermittlungsprozesse zugrunde liegen. Um die Abhängigkeit des Textverstehens bzw. der Lesekompetenz von der sozialen Herkunft zu reduzieren, reicht es daher vermutlich nicht aus, einzelne Größen innerhalb des Wirkungsgefüges zu verändern. Vielmehr sollten Fördermaßnahmen für leseschwache Schüler (die überproportional häufig aus sozial schwachen Familien stammen) an mehreren Faktoren gleichzeitig ansetzen. Vielversprechend erscheint dabei insbesondere die Förderung der intrinsischen Lesemotivation, des Vorwissens und des metakognitiven Strategiewissens. Die genannten Größen spielen neben der Grundfähigkeit die zentrale Rolle bei der Vermittlung der Effekte der sozialen Herkunft, sie können innerhalb kürzerer Zeiträume verändert werden und beeinflussen das Textlernen relativ unmittelbar. Aber auch eine Veränderung des kulturellen Kapitals lässt sich durch geeignete Fördermaßnahmen erzielen. So gelang es im Rahmen des Berliner Eltern-Kind- Leseprogramms (McElvany, 2008), neben kognitiven Fertigkeiten auch das kulturelle Kapital in den Familien (z. B. lesebezogenes Vorbildverhalten und Bildungsverantwortung der Eltern) zu steigern. Anmerkungen 1 Daneben spielen auch institutionelle Faktoren für die Vermittlung der Herkunftseffekte eine Rolle (z. B. der Besuch unterschiedlicher Schulformen; vgl. Ditton & Krüsken, 2006). Der Einfluss dieser Faktoren kann jedoch nur in längsschnittlichen Studien angemessen untersucht werden. Familiäre und individuelle Bedingungen des Textlernens 251 2 Schüler aus Schulen mit mehreren Bildungsgängen wurden der Schulform entsprechend ihres Bildungsganges zugeordnet. Für 1 % der Schüler lag keine Angabe zum Bildungsgang vor. 3 Für die Gültigkeit des MRM sprach auch der Vergleich mit einem einfachen Rasch-Modell (RM), das keine Personenklassen unterschied. Die für die Beurteilung entscheidenden Informationskriterien BIC und CAIC (vgl. Rost, 2004) waren für das MRM niedriger als für das RM. 4 Abweichungen von der maximalen Größe der NRK- Stichprobe (n = 417) sind hier wie im Folgenden durch fehlende Werte bedingt. 5 Für unsere Stichprobe konnte in diesem Fall keine Reliabilität bestimmt werden, da der vom PISA-Konsortium zur Verfügung gestellte Datensatz nicht die zugehörigen Items enthielt. 6 Es sind hier und im Folgenden Regressionseffekte innerhalb des Modells gemeint, deren Kausalität aufgrund des korrelativen Designs der Studie offen bleiben muss. 7 Nach Kline (2005) kann ein b < .10 als kleiner Effekt, ein b um .30 als mittlerer Effekt und ein b um .50 als großer Effekt gelten. Literatur Baker, L. & Wigfield, A. (1999). Dimensions of children’s motivation for reading and their relations to reading activity and reading achievement. Reading Research Quarterly, 34, 452 - 477. Baumert, J. & Schümer, G. (2001). Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb. In J. Baumert et al. 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