eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 56/1

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2009
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Probleme hochbegabter Kinder aus Sicht von Kindern, Eltern und Lehrern

11
2009
Letizia Gauck
Gisela Trommsdorff
Unter hochbegabten Kindern gibt es nicht mehr Verhaltensauffällige als unter durchschnittlich begabten Kindern. Weitgehend unbekannt ist allerdings, ob sich verhaltensauffällige hochbegabte Kinder im Ausmaß und in der Art ihrer Verhaltensauffälligkeiten von durchschnittlich begabten Kindern unterscheiden. In der vorliegenden Untersuchung1 wurden 30 hochbegabte Kinder Beratung suchender Eltern mit 24 durchschnittlich begabten Kindern verglichen, deren Eltern ebenfalls Beratung suchten. Als Kontrollgruppe wurden 31 durchschnittlich begabte Kinder einbezogen, deren Eltern aktuell keine Beratung suchten. Befragt wurden die Kinder, deren Eltern und die Klassenlehrer. Die hochbegabten Kinder unterschieden sich nicht im Ausmaß und in der Art ihrer Verhaltensauffälligkeiten von den durchschnittlich begabten Kindern Beratung suchender Eltern. Nur die Klassenlehrer schätzten die Schuleinstellung und die soziale Integration der hochbegabten Kinder als negativer ein im Vergleich zu den durchschnittlich begabten Kindern. Die Lehrer überschätzten dabei offenbar die soziale Integration und die Motivation der durchschnittlich begabten Kinder, zur Schule zu gehen.
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n Empirische Arbeit Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2009, 56, 27 - 37 © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Probleme hochbegabter Kinder aus Sicht von Kindern, Eltern und Lehrern Letizia Gauck, Gisela Trommsdorff Universität Konstanz Problems of Gifted Children from the Perspective of Children, Parents and Teachers Summary: Among gifted children there are no more behaviorally disturbed children than among children of average intelligence. It is unknown, however, whether gifted and non-gifted behaviorally disturbed children differ from each other with regard to the extent and the nature of their behavioral disturbances. This study compared 30 gifted children with 24 children of average intelligence. The parents of both groups requested counseling. Another 31 children whose parents did not at the time request counseling were included as a control group. We surveyed the child, the parents and the teacher. The gifted children did not differ from children of average intelligence in terms of the extent and the nature of their behavioral disturbances. Teachers judged the social integration and the attitude towards school of gifted children as less positive. The teachers seemed to overestimate the social integration and the motivation to go to school of children of average intelligence. Keywords: Giftedness, gifted, behavioral disturbances, counseling Zusammenfassung: Unter hochbegabten Kindern gibt es nicht mehr Verhaltensauffällige als unter durchschnittlich begabten Kindern. Weitgehend unbekannt ist allerdings, ob sich verhaltensauffällige hochbegabte Kinder im Ausmaß und in der Art ihrer Verhaltensauffälligkeiten von durchschnittlich begabten Kindern unterscheiden. In der vorliegenden Untersuchung 1 wurden 30 hochbegabte Kinder Beratung suchender Eltern mit 24 durchschnittlich begabten Kindern verglichen, deren Eltern ebenfalls Beratung suchten. Als Kontrollgruppe wurden 31 durchschnittlich begabte Kinder einbezogen, deren Eltern aktuell keine Beratung suchten. Befragt wurden die Kinder, deren Eltern und die Klassenlehrer. Die hochbegabten Kinder unterschieden sich nicht im Ausmaß und in der Art ihrer Verhaltensauffälligkeiten von den durchschnittlich begabten Kindern Beratung suchender Eltern. Nur die Klassenlehrer schätzten die Schuleinstellung und die soziale Integration der hochbegabten Kinder als negativer ein im Vergleich zu den durchschnittlich begabten Kindern. Die Lehrer überschätzten dabei offenbar die soziale Integration und die Motivation der durchschnittlich begabten Kinder, zur Schule zu gehen. Schlüsselbegriffe: Hochbegabung, hochbegabt, Verhaltensauffälligkeiten, Beratung Hochbegabte Kinder sind im Allgemeinen nicht verhaltensauffälliger als durchschnittlich begabte Kinder (Rost, 1993). Bei gleicher Verteilung von Verhaltensauffälligkeiten bei hoch- und durchschnittlich begabten Kindern müssten etwa 20 % der hochbegabten Kinder verhaltensauffällig sein (Heinrichs, Saßmann, Hahlweg & Perrez, 2002). Inwieweit sich diese Kinder im Ausmaß und der Art ihrer Auffälligkeiten von durchschnittlich begabten Kindern unterscheiden, ist empirisch wenig erforscht. Aus Gründen der Vergleichbarkeit mit bisherigen Studien wurde intellektuelle Hochbegabung in der vorliegenden Arbeit als extrem hoch ausgeprägte Intelligenz definiert (Heller, 2001; Holling & Kanning, 1999). Nach dieser Definition von Hochbega- 28 Letizia Gauck, Gisela Trommsdorf bung anhand des Intelligenzquotienten (IQ) gilt als hochbegabt, wer einen Wert in einem Intelligenztest erreicht, der mindestens zwei Standardabweichungen oberhalb des Mittelwertes liegt (IQ ≥ 130). Verhaltensauffälligkeiten werden in der Hochbegabungsliteratur sehr breit definiert (Wittmann, 2003) und umfassen internalisierende und externalisierende Auffälligkeiten, Probleme bei der Aufmerksamkeit sowie der sozialen Interaktion. In zwei empirischen Untersuchungen wurden die Verhaltensauffälligkeiten hochbegabter Kinder genauer beschrieben (Freeman, 1979; Wittmann, 2003). Freeman (1979) führte mit 70 Familien Interviews durch, die einem Verein für Eltern hochbegabter Kinder beigetreten waren. Die Autorin verglich diese Ergebnisse mit den Angaben von 70 Eltern hochbegabter Kinder, die nicht einem Verein für Eltern hochbegabter Kinder angehörten, sowie 70 Eltern durchschnittlich begabter Kinder. Die durchschnittlichen Intelligenzquotienten der drei Gruppen unterschieden sich erheblich (IQ = 147, 134, 119). Freeman (1979) stellte fest, dass die hochbegabten Kinder, deren Eltern einem Verein angehörten, mehr emotionale Auffälligkeiten (z. B. Wutanfälle) zeigten und weniger gleichaltrige Freunde hatten als die Kinder der Vergleichsgruppen. Sie führte dies allerdings darauf zurück, dass die hochbegabten Kinder, deren Eltern Vereinen angehörten, aus belasteteren Familienverhältnissen kamen und sich die Eltern weniger kompetent in der Erziehung ihrer Kinder fühlten. Wittmann (2003) befragte Eltern, die entweder dem Elternverein „Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind“ (DGhK e.V.) angehörten oder sich mit einem Beratungswunsch an diese Gesellschaft gewandt hatten. Erhoben wurden die Informationen auf drei Wegen: in Form von Protokollen der Telefongespräche zwischen DGhK-Mitgliedern (als Beraterinnen) und DGhK-Klienten, in Form von Fragebögen für DGhK-Klienten und schließlich in Form von Interviews von DGhK- Mitgliedern. Nachgewiesen hochbegabt waren in der ersten Gruppe zwischen 36 bzw. 46 % der Kinder (je nach Datenquelle, d. h. Protokoll telefonischer Beratungsgespräche oder zugesandte Fragebögen), in der zweiten Gruppe 78 %. Als Indikatoren für Auffälligkeiten zog Wittmann (2003) die Beratungsanlässe heran. Kinder mit Intelligenzquotienten von 130 oder höher waren aggressiver und sozial isolierter. Zudem kam es bei ihnen häufiger zu Konflikten zwischen den Eltern und den Lehrkräften. Nach Aussage der Eltern litten je nach Datenquelle zwischen 40 % und 90 % der hochbegabten Kinder unter Unterforderung in der Schule. Bei der Interpretation berücksichtigt werden müssen die teilweise sehr geringen Rücklaufquoten (von z. B. 35 % der Elternfragebögen). Die fehlende Kontrollgruppe durchschnittlich begabter Kinder, deren Eltern keine Hochbegabung vermuteten, schränkt die Aussagekraft der Ergebnisse ein. In der vorliegenden Arbeit wurden daher nicht nur Kinder mit ihren Eltern rekrutiert, die wegen einer vermuteten Hochbegabung Beratung wünschten, sondern auch durchschnittlich begabte Kinder, deren Eltern Beratung suchten, aber keine Hochbegabung vermuteten. Eine zweite Kontrollgruppe durchschnittlich begabter Kinder, deren Eltern weder eine Hochbegabung vermuteten noch Beratung wünschten, soll Anhaltspunkte über das Ausmaß der Verhaltensabweichung liefern. Es sollen keine Aussagen zu den Verhaltensauffälligkeiten hochbegabter Kinder im Allgemeinen gemacht werden, sondern Aussagen über Art und Ausmaß der Auffälligkeiten von hochbegabten Kindern Beratung suchender Eltern. Die Generalisierbarkeit wird eingeschränkt dadurch, dass die hochbegabten Kinder in der vorliegenden Stichprobe in einer einzigen Beratungsstelle rekrutiert wurden. Die Beratungsanlässe scheinen allerdings in anderen universitären Beratungsstellen und bei ehrenamtlichen Beratungen durch Vereine vergleichbar zu sein (Schilling, Graf, Hanses, Pruisken, Rost, Sparfeldt & Steinheider, 2002; Wittmann & Holling, 2001). Die Verhaltensauffälligkeiten werden möglichst breit, verhaltensnah sowie mit Hilfe verschiedener Quellen erhoben. Um ein- Probleme hochbegabter Kinder 29 schätzen zu können, in welchem Ausmaß die Kinder der Beratung suchenden Eltern Verhaltensauffälligkeiten zeigen, wurde eine Stichprobe von Schulklassenkindern einbezogen, deren Eltern aktuell keine Beratung suchen. Darüber hinaus standen folgende Fragestellungen im Mittelpunkt der Studie: 1. Sind die Verhaltensauffälligkeiten hochbegabter Kinder Beratung suchender Eltern insgesamt stärker ausgeprägt als die Verhaltensauffälligkeiten durchschnittlich begabter Kinder Beratung suchender Eltern? 2. Zeigen hochbegabte Kinder Beratung suchender Eltern andere Verhaltensauffälligkeiten als durchschnittlich begabte Kinder Beratung suchender Eltern? 3. Sind hochbegabte Kinder Beratung suchender Eltern stärker sozial isoliert als durchschnittlich begabte Kinder Beratung suchender Eltern? 4. Zeigen hochbegabte Kinder Beratung suchender Eltern eine negativere Schuleinstellung als durchschnittlich begabte Kinder Beratung suchender Eltern? Methodik Stichprobe Alle Beratung suchenden Eltern von Kindern im Grundschulalter wurden beim telefonischen Erstkontakt von den jeweiligen Beratungsstellen über die Studie informiert und um ihre Teilnahme gebeten. Die Eltern der Schulklassenkinder wurden brieflich kontaktiert. An der Begabungspsychologischen Beratungsstelle der LMU München konnten 30 hochbegabte Kinder (IQ ≥ 130) und ihre Eltern in die Studie eingeschlossen werden, was einer Rücklaufquote von 86 % entsprach. An der staatlichen Schulberatungsstelle München stimmten 83 % der Eltern der Studienteilnahme zu, und acht durchschnittlich begabte Kinder (85 ≤ IQ ≤ 115) mit ihren Eltern konnten für die Studie rekrutiert werden. An einer Familienberatungsstelle in München betrug der Rücklauf 88 % und die Anzahl aufgenommener durchschnittlich begabter Kinder sechs. Bei einer Beratungslehrkraft in Baden-Württemberg stimmten 86 % der Eltern der Studienteilnahme zu, und zehn durchschnittlich begabte Kinder konnten mit ihren Eltern in die Studie aufgenommen werden. Insgesamt umfasste die Kontrollgruppe durchschnittlich begabter Kinder Beratung suchender Eltern also 24 Kinder. Zur Rekrutierung einer zweiten Gruppe durchschnittlich begabter Kinder, deren Eltern keine Beratung suchten, wurden die Eltern von zwei dritten Klassen aus Ravensburg um ihre Studienteilnahme gebeten. Die Rücklaufquote der Fragebögen betrug 74 %, und diese zweite Kontrollgruppe setzte sich aus 31 durchschnittlich begabten Kindern zusammen. Von den Elternfragebögen wurden insgesamt 80 (94 %) von den Müttern ausgefüllt und fünf (6 %) von den Vätern (zwei Väter hochbegabter Kinder, drei Väter von Kindern aus den Schulklassen). Mütter und Väter unterschieden sich in den Einschätzungen der kindlichen Verhaltensauffälligkeit und sozialen Integration nicht, weshalb die Daten für beide Elternteile zusammengefasst wurden. Für die hochbegabten Kinder lagen 17 Fragebögen der Klassenlehrkräfte vor, für die durchschnittlich begabten Kinder Beratung suchender Eltern 19 und für die durchschnittlich begabten Schulklassenkinder 31. Während die Eltern die Fragebögen vor Bekanntgabe des Testergebnisses ausfüllten, kann bei den Lehrkräften nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sie über die Begabung des Kindes nicht bereits von den Eltern informiert worden waren. Die durchschnittlichen IQ spiegeln die Stichprobenselektion wider 2 : M HB = 137.4 (SD HB = 6.7), M DB = 101.3 (SD DB = 8.9) und M DS = 101.3 (SD DS = 7.8). Der Wertebereich bei den durchschnittlich begabten Kindern lag zwischen IQ = 85 - 115. Die hochbegabten Kinder waren mit 8.3 Jahren (SD HB = 1.1, Range HB = 4.1) signifikant jünger als die durchschnittlich begabten Kinder aus Beratungsstellen (M DB = 8.6; SD DB = 1.4; Range DB = 4.1) und aus den Schulklassen (M DS = 9.1 Jahren; SD DS = 0.4; Range DS = 1.5). Unter den Hochbegabten befanden sich 13 % Mädchen und damit signifikant weniger im Vergleich zu 29 % Mädchen in der Gruppe durchschnittlich begabter Kinder Beratung suchender Eltern und 39 % bei den Schulklassenkindern ( c 2 = 17.89, p < .01). Die Eltern der hochbegabten Kinder verfügten über ein signifikant höheres Bildungsniveau sowohl bei den Müttern ( c 2 = 29.47, p < .01) als auch bei den Vätern ( c 2 = 40.54, p < .01). Auf die Frage nach dem höchsten Schulabschluss konnten die Eltern wählen zwischen kein Schulabschluss, Hauptschulabschluss, mittlere Reife, Fachhochschulreife, Abitur und Hochschulabschluss (in Anlehnung an Schwarz et al., 2001). Weitere Details zu den Stichproben sind bei Gauck (2007) dargestellt. 30 Letizia Gauck, Gisela Trommsdorf Untersuchungsmaterialien Weil den Bedürfnissen der Einzelfälle Rechnung getragen werden musste, konnte in den Beratungsstellen kein einheitlicher Intelligenztest eingesetzt werden. In der Begabungspsychologischen Beratungsstelle wurden zwölf Kinder mit dem Hamburg- Wechsler-Intelligenztest für Kinder (HAWIK-III; Tewes, Rossmann & Schallberger, 2001) oder dem Adaptiven Intelligenzdiagnostikum (AID-2; Kubinger & Wurst, 2000) getestet, 13 Kinder mit dem Culture Fair Intelligence Test 1 (CFT1; Weiß & Osterland, 1997) oder dem Culture Fair Intelligence Test 20 (CFT20; Weiß, 1987) und fünf Kinder mit dem Snijders-Oomen-Nonverbalen Intelligenztest (Snijders, Tellegen & Laros, 1998). In den Beratungsstellen, in denen durchschnittlich begabte Kontrollgruppenkinder rekrutiert wurden, wurden in 14 Fällen das AID 2 oder der HAWIK-III eingesetzt, in neun Fällen der CFT 1 oder der CFT 20 und bei einem Kind der Standardmatrizentest (SPM; Kratzmeier & Horn, 1987). Für die Gruppentestung der durchschnittlich begabten Schulklassenkinder wurde der CFT1 eingesetzt. Zur Auswertung wurde jeweils der Gesamtwert herangezogen. Da sich keine Unterschiede hinsichtlich der Verhaltensauffälligkeit und der sozialen Integration zwischen den Kindern zeigten, die einbzw. mehrdimensionale Tests absolviert hatten, wurden alle Kinder in die Auswertungen einbezogen. Zur Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten wurden die Kinder, die Eltern und die Klassenlehrerkräfte befragt. Der Elternfragebogen zur Erfassung des Verhaltens von Kindern und Jugendlichen im Alter von vier bis 18 Jahren (CBCL/ 4-18; Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 1998) ist die deutsche Fassung der CBCL (Achenbach, 1991 a). Es ist das weltweit am häufigsten eingesetzte verhaltensnahe Verfahren zur Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten aus Elternsicht und, mit der parallelen Teachers’ Report Form (TRF; Achenbach, 1991 b; Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 1993) aus Lehrersicht. In Tabelle 1 sind die Summen- und die Einzelskalen mit Beispielitems, der Anzahl der Items und der internen Konsistenz angegeben. Die Retest-Reliabilität der CBCL für den Gesamtwert beträgt r tt’ = .81 (Döpfner, Schmeck, Berner, Lehmkuhl & Poustka, 1994). Die internen Konsistenzen der Skalen der TRF sind in der Normstichprobe gut ( a > .80) oder zufriedenstellend bei den Skalen Sozialer Rückzug, Körperliche Beschwerden und Delinquenz ( a > .70). In der vorliegenden Stichprobe betrug die interne Konsistenz für die Skala Sozialer Rückzug a = .49, für die Körperlichen Beschwerden a = .36 , für Angst/ Depressivität a = .77, für Soziale Probleme a = .79, für Aufmerksamkeitsprobleme a = .81, für Delinquentes Verhalten a = .39 und für Aggressivität a = .90. Für die Summenskala internalisierende Auffälligkeiten ergab sich eine interne Konsistenz von a = .81, für die ex- Summenskala Einzelskala Beispiel Anzahl Items a* a** Internalisierende Auffälligkeiten Sozialer Rückzug Körperliche Beschwerden Angst/ Depressivität „Ist lieber allein als mit anderen zusammen.“ „Ist immer müde.“ „Glaubt, perfekt sein zu müssen.“ 9 9 14 .72 .72 .81 .71 .65 .86 Gemischte Auffälligkeiten Soziale Probleme Aufmerksamkeitsprobleme „Wird viel gehänselt.“ „Kann sich nicht konzentrieren, kann nicht lange aufpassen.“ 8 11 .73 .76 .65 .74 Externalisierende Auffälligkeiten Delinquentes Verhalten Aggressivität „Scheint sich nicht schuldig zu fühlen, wenn er/ sie sich schlecht benommen hat.“ „Streitet oder widerspricht viel.“ 13 20 .80 92 .63 .90 Tabelle 1: Beschreibung der Summenbzw. der Einzelskalen der Child Behavior Checklist * Klinische Stichprobe ** Vorliegende Stichprobe (Gesamtwert: a = .94) Probleme hochbegabter Kinder 31 ternalisierenden Auffälligkeiten von a = .89 und für den Gesamtwert von a = .96. Darüber hinaus wurde der Fragebogen zur Erfassung der emotionalen und sozialen Schulerfahrungen von Grundschulkindern erster und zweiter Klassen (FEESS 1-2; Rauer & Schuck, 2004) und dritter und vierter Klassen (FEESS 3 - 4; Rauer & Schuck, 2003) eingesetzt. Ein Beispiel der Skala Soziale Integration lautete: „Ich komme mit den anderen Kindern in meiner Klasse gut aus“ (insgesamt 11 Items). Die Schuleinstellung wurde erhoben mit Sätzen wie z. B. „Ich gehe gern zur Schule“ (14 Items). Die Skala Gefühl des Angenommenseins durch den Lehrers wurde gebildet aus Items wie „Meine Lehrer mögen mich“ (13 Items). Für den Elternbzw. Lehrerfragebogen wurden die Items geringfügig umformuliert, z. B. „Mein Kind geht gern zur Schule“ oder „Wir Lehrer mögen das Kind“. Die internen Konsistenzen betrugen in der vorliegenden Stichprobe für die Soziale Integration bei den Kindern a = .81, bei den Eltern a = .83 und bei den Lehrern a = .80, für die Schuleinstellung bei den Kindern a = .92, bei den Eltern a = .91, bei den Lehrern a = .90 und für das Gefühl des Angenommenseins durch den Lehrer bei den Kindern a = .85, bei den Eltern a = .88 und bei den Lehrern a = .67. Die Reliabilitäten variieren beim FEESS 1 - 2 in den Normstichproben zwischen r tt = .34 - .53 und beim FEESS 3 - 4 zwischen r tt = .62 - .80 (4 Wochen) und r tt = .46 - .68 (1 Schuljahr). Es liegen vielfältige Daten vor, die die Inhalts-, Konstrukt- und Kriteriumsvalidität belegen (Rauer & Schuck, 2003, 2004). Weil weniger Kontrollgruppenkinder rekrutiert werden konnten als geplant, wurde die optimale Stichprobengröße unterschritten. Es werden hier Effektstärken berichtet (Eta, d als Mittelwertsdifferenz relativiert an der gepoolten Streuung). Es wurden uni- und multivariate Kovarianzanalysen gerechnet bzw. bei Verletzung der Voraussetzungen non-parametrische Verfahren. Zur Prüfung der Varianzhomogenität in den einzelnen Gruppen wurde der Levene-Test eingesetzt. War die Voraussetzung der Varianzhomogenität bei Kovarianzanalysen verletzt, wurden die Rohdaten wurzeltransformiert, um Verzerrungen auszuschließen (Winer, 1970). Alle Post-hoc-Tests wurden Bonferroni-korrigiert. Zum Vergleich der Einschätzungen von Eltern und Lehrpersonen wurden multivariate Varianzanalysen mit Messwiederholung gerechnet, da von einer faktischen Abhängigkeit der Daten (Beurteilung desselben Kindes) ausgegangen werden muss. Ergebnisse Im Ergebnisteil wird zunächst dargestellt, inwieweit sich hoch- und durchschnittlich begabte Kinder Beratung suchender Eltern im Ausmaß (Fragestellung 1) und in der Art ihrer Verhaltensauffälligkeiten (Fragestellung 2) unterscheiden. Anschließend wird berichtet, ob sich diese beiden Gruppen hinsichtlich ihrer sozialen Integration (Fragestellung 3) und ihrer Schuleinstellung (Fragestellung 4) unterscheiden. Es wurden jeweils erst die Einschätzungen der Eltern und dann die Einschätzungen der Lehrkräfte bzw. der Kinder auf Unterschiede überprüft. Verhaltensauffälligkeit: Ein erster Vergleich der Mittelwerte (siehe Tabelle 2) zeigte, dass die Beratung suchenden Eltern hoch- und durchschnittlich begabter Kinder ihre Kinder ähnlich verhaltensauffällig einschätzten. Dagegen hielten die Eltern, die aktuell keine Beratung aufsuchten, ihre Kinder für deutlich weniger auffällig. Um zu prüfen, ob sich die Kinder der drei Stichprobengruppen im Ausmaß ihrer Verhaltensauffälligkeit signifikant unterschieden, wurde eine Varianzanalyse mit der Stichprobengruppe als erstem, dreistufigem Faktor, dem Bildungsstand als zweitem, vierstufigem Faktor (Haupt- oder Realschulabschluss, Abitur, Universitätsbzw. Fachhochschulabschluss) und dem Gesamtwert der CBCL als abhängiger Variable gerechnet. Zwischen den Kindern mit Eltern verschiedener Bildungsniveaus zeigten sich keine Unterschiede in den Verhaltensauffälligkeiten. Dennoch wurde das Bildungsniveau in die Berechnungen aufgenommen, da sich die Eltern der Stichprobengruppen in ihrem Bildungsniveau signifikant unterschieden (siehe Stichprobe). Die Varianzanalyse ergab einen signifikanten Unterschied für den Faktor Stichprobengruppe: F(3, 82) = 3.45, p = .02, Eta = .12. Post-hoc-Tests zeigten aber, dass sich der gefundene Effekt darauf zurückführen lässt, dass die Schulklassenkinder weniger verhaltensauffällig waren als die hoch- und die durchschnittlich begabten Kinder Beratung suchen- 32 Letizia Gauck, Gisela Trommsdorf der Eltern. Hochbegabte Kinder Beratung suchender Eltern waren - nach Aussage ihrer Eltern - nicht verhaltensauffälliger als durchschnittlich begabte Kinder Beratung suchender Eltern. Gemäß der Mittelwerte schätzten die Klassenlehrkräfte dagegen die hochbegabten Kinder deutlich auffälliger ein als die durchschnittlich begabten Kinder (siehe Tabelle 3). Min = Minimum, Max = Maximum Tabelle 2: Mittelwerte, Standardabweichungen und Ranges der Skalen der Child Behavior Checklist (CBCL) Verhaltensbereich (Skala der Child Behavior Checklist) Hochbegabte Beratungsstellenkinder Durchschnittlich begabte Beratungsstellenkinder Durchschnittlich begabte Schulklassenkinder M SD Min Max M SD Min Max M SD Min Max Sozialer Rückzug 3.5 2.9 0 10 2.5 3.1 0 12 1.9 2.3 0 8 Körperliche Beschwerden 1.5 1.9 0 8 1.6 1.4 0 5 1.2 2.5 0 13 Angst/ Depressivität 5.6 5.5 0 20 4.1 3.5 0 11 2.4 3.3 0 15 Soziale Probleme 2.4 2.1 0 7 2.0 2.1 0 9 1.1 1.9 0 8 Aufmerksamkeitsprobleme 4.3 3.7 0 12 4.5 2.9 0 11 1.9 2.2 0 8 Delinquenz 2.1 2.5 0 10 2.2 1.9 0 6 1.4 1.6 0 5 Aggressivität 9.9 8.4 0 30 8.6 5.6 0 18 6.5 6.3 0 26 Gesamtwert 34.9 25.0 1 106 29.5 17.9 5 67 18.9 17.6 1 73 Verhaltensbereich (Skala der Teacher Report Form) Hochbegabte Beratungsstellenkinder Durchschnittlich begabte Beratungsstellenkinder Durchschnittlich begabte Schulklassenkinder M SD Min Max M SD Min Max M SD Min Max Sozialer Rückzug 5.1 3.7 0 13 2.3 2.2 0 8 1.3 1.6 0 6 Körperliche Beschwerden 0.8 1.1 0 3 0.3 0.5 0 1 0.1 0.4 0 2 Angst/ Depressivität 3.4 3.2 0 10 2.4 2.7 0 11 1.1 1.2 0 4 Soziale Probleme 3.6 4.0 0 13 2.3 3.0 0 10 0.6 1.2 0 6 Aufmerksamkeitsprobleme 6.8 5.2 0 14 4.7 5.3 0 20 1.7 2.1 0 7 Delinquenz 3.5 3.3 0 10 1.4 1.7 0 5 0.3 0.9 0 3 Aggressivität 9.2 9.3 0 33 6.0 7,5 0 28 3.1 5.2 0 22 Gesamtwert 45.0 31.9 3 106 27.4 24.2 0 85 12.3 13.4 0 52 Min = Minimum, Max = Maximum Tabelle 3: Mittelwerte, Standardabweichungen und Ranges der Skalen der Teacher Report Form (TRF) Probleme hochbegabter Kinder 33 Aufgrund der unterschiedlichen Zellbesetzungen wurden non-parametrische Verfahren gerechnet, um die Mittelwertsunterschiede auf Signifikanz zu prüfen. Es zeigte sich ein sehr signifikanter Stichprobeneffekt (Kruskal Wallis c 2 = 16.63, p < .001), der sich wiederum darauf zurückführen ließ, dass die Schulklassenkinder von ihren Lehrkräften als weniger verhaltensauffällig eingeschätzt wurden als die Kinder Beratung suchender Eltern. Auch nach Einschätzung der Lehrkräfte waren die hochbegabten Kinder nicht verhaltensauffälliger als die durchschnittlich begabten Kinder Beratung suchender Eltern: c 2 = 3.62, p = .06; d = .60. Fragestellung 1 kann somit beantwortet werden: Hoch- und durchschnittlich begabte Kinder Beratung suchender Eltern unterschieden sich nicht signifikant im Ausmaß ihrer Verhaltensauffälligkeit, weder nach Aussage der Eltern noch nach Meinung der Lehrkräfte. Um die Frage zu beantworten, ob es zwischen hoch- und durchschnittlich begabten Kindern Unterschiede in der Art der Verhaltensauffälligkeiten gibt (Fragestellung 2), wurde eine multivariate Varianzanalyse gerechnet mit der Stichprobe als erstem Faktor, dem Bildungsstand der Eltern als zweitem Faktor und den Einzelskalen der CBCL als abhängigen Variablen. Das Gesamtmodell war nicht signifikant (Wilks’ Lambda = .742, p = .15, Eta = .14). Nach Aussage ihrer Beratung suchenden Eltern unterscheiden sich demnach hoch- und durchschnittlich begabte Kinder nicht im Muster der Auffälligkeiten. Bei den Lehrkräften wurde auf die Berechnung einer multivariaten Varianzanalyse verzichtet, da die internen Konsistenzen der Einzelskalen der TRF in der vorliegenden Stichprobe unbefriedigend waren und die Mittelwerte in den Einzelskalen nicht auf unterschiedliche Muster hindeuteten. Auch Frage- Tabelle 4: Mittelwerte der Einschätzungen der Skalen Soziale Integration, Schuleinstellung und Gefühl des Angenommenseins durch den Lehrer (FEESS; mit Standardfehlern und Ranges) durch Kinder, Eltern und Klassenlehrkräfte Hochbegabte Kinder in Beratungsstellen Durchschnittlich begabte Kinder in Beratungsstellen Durchschnittlich begabte Schulklassenkinder Soziale Integration M SE Min Max M SE Min Max M SE Min Max Kinder 8.3 3.0 0 11 7.8 3.2 0 11 9.0 2.3 1 11 Eltern 8.0 3.4 1 11 9.8 1.2 7 11 10.1 1.5 6 11 Lehrerinnen 8.0 3.0 0 11 9.8 1.6 7 11 10.3 1.3 7 11 Schuleinstellung M SE Min Max M SE Min Max M SE Min Max Kinder 8.7 4.7 0 14 9.5 4.0 1 14 10.8 3.6 2 14 Eltern 9.1 4.9 0 14 11.4 2.9 4 14 12.6 1.6 8 14 Lehrerinnen 9.0 5.0 0 14 12.4 1.7 7 14 12.1 2.4 6 14 Gefühl des Angenommenseins durch Lehrer M SE Min Max M SE Min Max M SE Min Max Kinder 10.7 2.4 5 13 9.4 3.8 1 13 11.7 2.0 6 13 Eltern 10.2 3.7 1 13 11.1 2.3 5 13 12.2 1.2 8 13 Lehrerinnen 11.5 1.8 7 13 11.7 1.5 8 13 12.2 1.4 8 13 Min = Minimum, Max = Maximum 34 Letizia Gauck, Gisela Trommsdorf stellung 2 kann somit beantwortet werden: Hoch- und durchschnittlich begabte Kinder Beratung suchender Eltern unterschieden sich nicht in der Art ihrer Auffälligkeiten. Soziale Integration, Schuleinstellung, Gefühl des Angenommenseins durch den Lehrer: Die Mittelwerte, Standardabweichungen und Ranges für alle Stichprobengruppen in den Skalen der FEESS sind in Tabelle 4 abgebildet. Aufgrund signifikanter Verletzungen der Forderung auf Varianzhomogenität, auch nach Wurzeltransformation der Daten, wurden die Unterschiede zwischen hoch- und durchschnittlich begabten Kindern Beratung suchender Eltern getrennt für Kinder-, Eltern- und Lehrkrafteinschätzungen anhand non-parametrischer Verfahren auf Signifikanz geprüft. Mann-Whitney-U-Tests zeigten keine signifikanten Unterschiede bis auf die Lehrereinschätzung der sozialen Integration (Mann Whitney U = 81.5, p = .04) und der Schuleinstellung (U = 81.5, p = .04). Hoch- und durchschnittlich begabte Kinder und ihre Beratung suchenden Eltern schätzten die Schuleinstellung, die soziale Integration und das Gefühl des Angenommenseins durch die Lehrer vergleichbar hoch ein. Nur die Lehrkräfte hielten die hochbegabten Kinder für sozial isolierter und für weniger motiviert, zur Schule zu gehen. Einschränkend muss darauf hingewiesen werden, dass die Geschlechtszugehörigkeit des Kindes einen signifikanten Einfluss auf die Einschätzung der sozialen Integration durch die Lehrkraft hatte (F(1, 63) = 5.51, p = .02). Die Geschlechtszugehörigkeit hatte dagegen keinen Einfluss auf die Einschätzung der Schuleinstellung durch die Lehrkraft. Zur Beantwortung der Frage, warum die Lehrkräfte die hochbegabten Kinder für sozial isolierter und unmotivierter hielten, in die Schule zu gehen, fiel bei der Betrachtung der Mittelwerte auf, dass die Kinder generell ihre soziale Integration und ihre Schuleinstellung geringer einschätzten als Eltern und Lehrer (siehe Tabelle 4). Lässt sich der referierte Unterschied in der Lehrereinschätzung von hoch- und durchschnittlich begabten Kindern möglicherweise darauf zurückführen, dass die Lehrkräfte die soziale Integration und die Schulmotivation der durchschnittlich begabten Kinder überschätzten? Non-parametrische Tests für abhängige Stichproben ergaben signifikante Unterschiede in der Kinder-, Eltern- und Lehrkrafteinschätzung sowohl hinsichtlich der sozialen Integration (Kendalls W = .112, p = .001) als auch hinsichtlich der Schuleinstellung (Kendalls W = .068, p = .01). Während sich die Einschätzungen der sozialen Integration von Kindern und Lehrkräften bei den durchschnittlich begabten Kindern Beratung suchender Eltern (Z DB = -2.30 =, p = .02) und der Schulklassenkinder (Z DS = -3.44 =, p = .001) in Wilcoxon Signed Rank Tests signifikant unterschieden, galt dies nicht für die Einschätzungen der hochbegabten Kinder und ihrer Lehrkräfte (Z HB = -.39 =, p = .70). Ein vergleichbares Bild zeigte sich bei der Schuleinstellung: Hochbegabte Kinder und ihre Lehrpersonen waren sich im (negativen) Urteil einig (Z HB = -.08 =, p = .94), während die Lehrer von durchschnittlich begabten Kindern Beratung suchender Eltern (Z DB = -2.18 =, p = .03) und von Schulklassenkindern die Schuleinstellung positiver einschätzten als die Kinder selbst (Z DS = -2.71 =, p = .007). Wie lässt sich erklären, dass Lehrkräfte die Integration und die Schuleinstellung hochbegabter Kinder besser einschätzen konnten? Eine mögliche Antwort wäre, dass hochbegabten Kindern ihre Schulsituation wichtiger ist und sie auf Schulunlust und soziale Isolation in der Schule stärker mit Verhaltensauffälligkeiten reagieren. Betrachtet man den Zusammenhang zwischen von den Lehrkräften eingeschätzter Schuleinstellung und internalisierenden und externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten, zeigte sich ein stärkerer Zusammenhang bei den hochbegabten Kindern als bei den durchschnittlich begabten Kindern Beratung suchender Eltern (Spearmans r HB = -.71 vs. r DB = -.23, z = .2.24, p = .01 für die externalisierenden Auffälligkeiten und r HB = -.60 vs. r DB = .14, z = 2.87, p = .002 für die internalisierenden Auffälligkeiten). Der Zusammenhang bei den hochbegabten Kindern war auch signifikant stärker als Probleme hochbegabter Kinder 35 bei den Schulklassenkindern, sowohl zwischen Schuleinstellung und externalisierenden Auffälligkeiten (r HB = -.71 vs. r DS = -.25, z = 2.34, p = .01) als auch zwischen Schuleinstellung und internalisierenden Auffälligkeiten (r HB = -.60 vs r DS = -.05, z = 2.38, p = .01). Zusammenfassend schätzten die Klassenlehrkräfte die soziale Integration und die Schuleinstellung der hochbegabten Kinder im Vergleich mit den durchschnittlich begabten Kindern Beratung suchender Eltern negativer ein (siehe Fragestellungen 3 und 4). Dabei scheint es sich allerdings um eine realistische Einschätzung zu halten. Bei den hochbegabten Kindern Beratung suchender Eltern hingen Schuleinstellung und soziale Integration stärker mit Verhaltensauffälligkeiten zusammen als bei den durchschnittlich begabten Kindern Beratung suchender Eltern. Diskussion In der vorliegenden Studie wurde untersucht, inwiefern sich hoch- und durchschnittlich begabte Kinder Beratung suchender Eltern im Ausmaß und in der Art ihrer Verhaltensauffälligkeiten unterscheiden. Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse, dass hochbegabte Kinder nach eigener Aussage und nach Einschätzung ihrer Eltern und Lehrer vergleichbar verhaltensauffällig sind wie durchschnittlich begabte Kinder Beratung suchender Eltern. Dieses Ergebnis bestätigt die Feststellung von Rost (2000): „Hochbegabte Grundschüler sind zuerst einmal und vor allem Kinder wie alle anderen Kinder auch, mit ähnlichen Vorlieben, mit ähnlichen Abneigungen, mit ähnlichen Schwierigkeiten, mit ähnlichen Vorzügen“ (S. 5). Das Ergebnis lehrt, vorsichtig mit zu starken Verallgemeinerungen in Ratgebern umzugehen, die die Besonderheiten hochbegabter, verhaltensauffälliger Kinder betonen (Simchen, 2005). Bei der Analyse der sozialen und emotionalen Schulsituation wird in der vorliegenden Studie differenziert zwischen der Schuleinstellung, der sozialen Integration und dem Gefühl des Angenommenseins durch den Lehrer. Gemäß Einschätzung der Kinder und der Eltern ist die emotionale und soziale Schulsituation für hoch- und durchschnittlich begabte Kinder Beratung suchender Kinder vergleichbar. Lediglich die Lehrkräfte schätzen die soziale Integration und die Schuleinstellung der hochbegabten Kinder negativer ein als die Situation der durchschnittlich begabten Kinder - sowohl der Kinder Beratung suchender Eltern als auch der Schulklassenkinder. Bei genauerer Betrachtung erweist sich der Sachverhalt allerdings als komplizierter: Während sich hochbegabte Kinder, ihre Eltern und Lehrer weitgehend einig in ihren Einschätzungen sind, überschätzen die Lehrkräfte die soziale Integration und die Motivation der durchschnittlich begabten Kinder, zur Schule zu gehen - gemessen an den Aussagen der Kinder. Die Vermutung liegt nahe, dass die hochbegabten Kinder ihre negative Schuleinstellung und ihre geringe Einbindung stärker zeigen. Tatsächlich hängen die negative Schuleinstellung und die soziale Integration auf der einen Seite und die Verhaltensauffälligkeiten auf der anderen Seite bei den hochbegabten Kindern stärker miteinander zusammen als bei den durchschnittlich begabten Kindern Beratung suchender Eltern und als bei den Schulklassenkindern. Hochbegabte Kinder Beratung suchender Eltern gehen genauso ungern in die Schule und sind genauso wenig sozial integriert wie durchschnittlich begabte Kinder Beratung suchender Eltern, aber sie scheinen darunter stärker zu leiden. Einige methodische Einschränkungen sind zu nennen. Aus einer Korrelation darf nicht auf Kausalität geschlossen werden: Es ist nicht möglich zu entscheiden, ob die Verhaltensauffälligkeiten der hochbegabten Kinder ursächlich mit der negativen Schuleinstellung und der sozialen Isolation zusammenhängen. Bei der Interpretation der Lehrereinschätzungen muss zudem berücksichtigt werden, dass die Rücklaufquote bei den hochbegabten Kindern mit 57 % deutlich niedriger war als bei den durchschnittlich begabten Kindern Beratung suchender Eltern (79 %) und bei den Schulklassen- 36 Letizia Gauck, Gisela Trommsdorf kindern (100 %). Ein Selektionseffekt ist daher nicht auszuschließen. Zudem wird die Einschätzung der sozialen Integration durch die Lehrkraft vom Geschlecht des Kindes beeinflusst, und in der Gruppe hochbegabter Kinder überwiegen die Jungen deutlicher als in den beiden anderen Stichprobengruppen. Schließlich können aufgrund der Stichprobenwahl die Ergebnisse nur auf hochbegabte Kinder übertragen werden, deren Eltern eine spezifische Beratung für Hochbegabte aufsuchen. Dennoch ermöglicht die vorliegende Studie differenzierte und empirisch begründete Aussagen über die Verhaltensauffälligkeiten von hochbegabten Kindern Beratung suchender Eltern im deutschsprachigen Raum anhand multipler Indikatoren und unter Einbezug mehrerer Informationsquellen. Die Ergebnisse zeigen, wie wichtig es ist, nicht nur adäquate Kontrollgruppen in die Studie aufzunehmen, sondern auch mehrere Informationsquellen zu berücksichtigen. Wenn Unterschiede zwischen hoch- und durchschnittlich begabten Kindern Beratung suchender Eltern bestehen, zeigen sich diese in unterschiedlichen Zusammenhängen von z. B. negativer Schuleinstellung und Verhaltensauffälligkeiten. In weiteren Studien sollte untersucht werden, welche Bedeutung die Schule für hochbegabte Kinder hat und ob hoch- und durchschnittlich begabte Kinder die Schule nach denselben Kriterien beurteilen. Kulturvergleichende Studien wären sinnvoll, da die Bewertung von Leistung, die Regulation leistungsbezogenen Verhaltens und leistungsbezogene Emotionen je nach subjektiven Werthaltungen, die sich kulturell unterscheiden können, variieren (Trommsdorff, in press). Daher sind kulturelle Unterschiede hinsichtlich der Tendenz von Lehrern und Eltern zu erwarten, Leistungen der Schüler zu überbzw. zu unterschätzen. Anmerkungen 1 Die vorliegende Veröffentlichung basiert auf der in der Dissertation „Hochbegabte Kinder aus der Sicht ihrer Eltern“ (Gauck, 2007) veröffentlichten Studie. Die Autoren danken den anonymen Gutachtern für ihre äußerst wertvollen Hinweise. 2 Um die Orientierung zu erleichtern werden statistische Angaben mit einem Kürzel für die Untersuchungsgruppe versehen (HB = hochbegabte Kinder Beratung suchender Eltern, DB = durchschnittlich begabte Kinder Beratung suchender Eltern, DS = Durchschnittlich begabte Kinder aus Schulklassen). Literatur Achenbach, T. M. (1991 a). 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