eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 57/4

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2010
574

Online-Nachhilfe

101
2010
Ludwig Haag
Martin van Kessel
Die Erforschung von Nachhilfeunterricht wird in der pädagogisch-psychologischen Forschung weitgehend vernachlässigt. In der vorgestellten Studie soll verglichen werden, inwieweit die in früheren Studien identifizierten Wirkfaktoren auf Lehrerseite bei Präsenznachhilfe auch auf Online-Nachhilfe zutreffen. Fünf psychologische Konstrukte werden für die Qualität von Nachhilfeunterricht als erklärungsmächtig angesehen (Instruktionsquantität, individuelle Bezugsnormorientierung, Förderung selbstgesteuerten Lernens, Förderung von Vorwissen und Lernstrategien). Die hier mitgeteilten Ergebnisse zeigen, dass zwischen Präsenznachhilfe und Online-Nachhilfe keine großen Unterschiede im Lehrerhandeln bestehen.
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2010, 57, 313 - 315 DOI 10.2378/ peu2010.art22d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel n Forum Online-Nachhilfe Ludwig Haag Martin van Kessel Universität Bayreuth Hauptschule Lindenberg Online Tutoring Summary: Tutoring and private lessons have only rarely been addressed in educational research. The present study investigates instructional features which have proven effective in face-to-face tutoring and asks to which extent these are also given in online tutoring, a special and modern form of tutoring. These features of present tutoring are time on task, individual reference norm orientation, promoting self regulated learning and promoting prior knowledge and learning strategies. The results show that there are no important discrepancies between the two forms of tutoring. Keywords: Online tutoring, effective practice of online tutoring Zusammenfassung: Die Erforschung von Nachhilfeunterricht wird in der pädagogisch-psychologischen Forschung weitgehend vernachlässigt. In der vorgestellten Studie soll verglichen werden, inwieweit die in früheren Studien identifizierten Wirkfaktoren auf Lehrerseite bei Präsenznachhilfe auch auf Online-Nachhilfe zutreffen. Fünf psychologische Konstrukte werden für die Qualität von Nachhilfeunterricht als erklärungsmächtig angesehen (Instruktionsquantität, individuelle Bezugsnormorientierung, Förderung selbstgesteuerten Lernens, Förderung von Vorwissen und Lernstrategien). Die hier mitgeteilten Ergebnisse zeigen, dass zwischen Präsenznachhilfe und Online-Nachhilfe keine großen Unterschiede im Lehrerhandeln bestehen. Schlüsselbegriffe: Nachhilfe, Wirkfaktoren von Nachhilfeunterricht Neben dem öffentlichen und privaten Schulsystem ist Nachhilfeunterricht in Deutschland fest etabliert (Dohmen et al., 2008). Zum traditionellen Einzelunterricht durch einen Nachhilfelehrer und dem Gruppenunterricht kommt nun heute mit der Verbreitung des world wide web als dritte Variante ein PC-gesteuertes Nachhilfewesen hinzu, das im angelsächsischen Sprachraum bereits weit verbreitet ist. Die zentralen Vorteile liegen auf der Hand: keine Anfahrtszeiten, keine Wartezeiten für Lehrer und Schüler. Als eine besondere Form des Online- Nachhilfeunterrichts hat sich gerade im angelsächsischen Sprachraum über nationale Grenzen hinweg ein Offshore Tutoring rasant etabliert. Diese Form von Nachhilfe hat sich vor allem in den USA seit dem Jahre 2000 weit verbreitet. Führende Unternehmen sind Growing Stars und Tutor Vista. Mittlerweile wird angenommen, dass über 20000 amerikanische Schüler von Nachhilfekräften aus Übersee betreut werden (McDonald, 2007). Einer anderen Quelle zufolge sollen bereits 700000 amerikanische Schüler online-gestützte Nachhilfe bekommen (Hoffman, 2008). Tutor Vista bietet Flatrate-Lernen an, d. h. 99 Dollar im Monat für beliebig viele Nachhilfestunden. Hier handelt es sich um Nachhilfeunterricht, der über das Internet mit synchronen Kommunikationsmitteln in virtuellen Klassenzimmern stattfindet. Instant Messaging bzw. ein Chatmodul und eine virtuelle Tafel ist die Basisausstattung. Die meisten Offshore-Tutoring-Umgebungen bieten die Möglichkeit sich 314 Ludwig Haag, Martin van Kessel per Voice over IP auch mündlich unterhalten zu können. Das Wort „Offshore“ geht auf die Besonderheit ein, dass Nachhilfelehrer und -schüler in der Regel über Kontinente hinweg voneinander örtlich getrennt sind. Da die Tutoren indischer Nachhilfeunternehmen ein doppelt so hohes Gehalt bekommen wie im Schuldienst, können hochqualifizierte Mitarbeiter angeworben werden. Über 80 Prozent der Online-Nachhilfelehrer aus Indien besitzen einen Universitätsabschluss, etliche haben promoviert. Das zentrale Argument für Offshore- Tutoring liegt in der Preisgestaltung, mit der inländische Unternehmen nicht konkurrieren können. Die Auswahl des hochqualifizierten Personals mag ein gewichtiger Grund sein, weshalb nach einer groß angelegten Studie von ca. 200 000 Nachhilfeschülern in den USA Online-Nachhilfe nicht schlechter abschneidet als Präsenznachhilfe (Winther- Olesen, 2008). In einer explorativen Studie untersuchten wir diese Variante von Online-Nachhilfeunterricht. Dabei interessierte, auf welche Faktoren Nachhilfelehrer dabei besonders achten. Neben den von Mischo und van Kessel (2005) sowie Thomas u. a. (2006) herausgearbeiteten Wirkfaktoren für herkömmlichen Nachhilfeunterricht (Kognitive Faktoren: Vorwissen und Lernstrategien; Instruktionsquantität; Individuelle Bezugsnormorientierung; Selbstkontrolliertes Lernen) sollen für Teletutoring typische Faktoren betrachtet werden. Keller (2009) hat Anforderungen an Teletutoren, die mit synchronen Werkzeugen hantieren, herausgearbeitet. Er nennt drei Faktoren, die Einfluss auf die Qualität von Teletutoring haben: - methodisch-didaktische Anforderungen: Für das eigenständige Erstellen von digitalen Lehr- und Begleitmaterialien bedarf es technischen Fachwissens. - kommunikative Anforderungen: Diese Anforderungen begründen sich auf Theorien computervermittelter Kommunikation. So können nonverbale, nonvokale Mitteilungen wie Mimik, Gestik oder motorische Verhaltensweisen mithilfe auditiver Verständigung nicht kommuniziert werden. Der Lehrende ist immer nur indirekt für die Lernenden da: Nämlich über die von ihm gestaltete Umgebung und über die mediale Kommunikation im virtuellen Raum. - technische Betreuung: Zu einem reibungslosen Arbeiten gehören technische Grundkompetenzen wie Nutzerdaten anlegen, Rechte vergeben, Lernmanagement betreiben, eine Videodatei auf einen Server spielen. Die Stichprobe bestand aus 8 männlichen Studenten (zwischen 20 und 23 Jahren) der technischen Fakultät der Universität Erlangen- Nürnberg. Die Nachhilfegruppe bildeten acht bayerische Hauptschüler, die jeweils drei Stunden Nachhilfe erhielten. Alle Nachhilfelehrer hatten ein Grafiktablett zur Verfügung. Als virtuelles Klassenzimmer wurde das System „Adobe Connect“ zur Verfügung gestellt. Hier sind die Einsatzmöglichkeiten des „Application Sharing“ und die Weiterbearbeitung von Bild- und Powerpointdateien über das „Virtual Whiteboard“ sehr flexibel. Sowohl mit den Tutoren als auch mit den Nachhilfeschülern wurde eine Einführung im Umgang mit den medientechnischen Möglichkeiten gegeben. Die Nachhilfestunden, bei denen Tutor, Schüler und Versuchsleiter gleichzeitig online waren, wurden aufgezeichnet. Folgende Variablen wurden mit je einem Item auf einer Skala von 1 bis 5 erfasst: „Sichern von Vorwissen“, „Vermitteln von Lernstrategien“, „time on task“, „sich Orientieren an der individuellen Bezugsnorm“, „Fördern selbstkontrollierten Lernens“, „time on technologie“ (Dieses Item bezieht sich auf technikbedingte Schwierigkeiten, die zeitliche Ressourcen erfordern und vom eigentlichen Unterricht abhalten.), „Instruktionsqualität“ (Hier wird eingeschätzt, inwieweit die Arbeitsanweisungen präzise gegeben werden und Sacherklärungen schülergerecht verlaufen.), „Medieneinsatz“ (Mit diesem Item wird erfasst, inwieweit das Whiteboard übersichtlich und lesbar eingesetzt wurde.). Alle fünf Minuten Online-Nachhilfe 315 wurden die Aufzeichnungen angehalten und ein Wert von zwei unabhängigen Ratern vergeben. Die Raterübereinstimmung beträgt .90 (kappa). Der Wert „time on task“ fällt sehr hoch aus (4.6), d. h. diese Form von Nachhilfe bietet wohl wenig Ablenkung bzw. Nebenengagement. Gleichsam spiegelbildlich gering fällt der Wert „time on technologie“ aus (1.3), d. h. es gab kaum technikbedingte Beeinträchtigungen in der Interaktion. Auch der Wert der individuellen Bezugsnorm fällt hoch aus (3.8). Die Werte für selbstkontrolliertes Lernen und Vorwissen sichern liegen im mittleren Bereich (3.2; 3.1). Der Wert für das Vermitteln von Lernstrategien ist der niedrigste (2.2). Instruktionsqualität wird leicht überdurchschnittlich bewertet (3.4). Ein mittlerer Wert wird für die Aufbereitung und mediengerechte Darstellung der Lerninhalte vergeben (3.2). Die Ergebnisse versprechen ein hohes Potential an Effektivität: Durch das typisch für virtuelle Lernszenarien geringe Maß an sozialer Präsenz ist eine starke Konzentration auf die Sache („time on task“) und das Feedback („ind. Bezugsnorm“) beobachtbar. Wenn es im Nachhilfeunterricht auf die starke Position des Nachhilfelehrers ankommt, was obige Studien über die Wirkfaktoren durchaus nahe legen, dann dürfte Online-Nachhilfe eine gute Alternative zum herkömmlichen Nachhilfeunterricht sein. Dies freilich müssten Wirkungsstudien erst bestätigen. Literatur Dohmen, D., Erbes, A., Fuchs, K. & Günzel, J. (2008). Was wissen wir über Nachhilfe? - Sachstand und Auswertung der Forschungsliteratur zu Angebot, Nachfrage und Wirkungen. Berlin: Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie. Hoffman, Melanie (2008) „Wenn der Nachhilfelehrer 5000 Kilometer weg ist“. http: / / www.netzeitung.de/ internet/ 988177.html (letzter Zugriff: 9.6.2009). Keller, J. (2009). Live E-Learning im Virtuellen Klassenzimmer. In G. Reinman (Hrsg.), Wissen und Lernen in Organisationen, Bd. 6. Krovac: Hamburg. McDonald, S. (2007). Offshore Tutoring and Exam Preparation. http: / / next.eller.arizona.edu/ courses/ student_ papers/ Spring%2007%20MAP489/ papers/ offshore. pdf (letzter Zugriff 9.6.2009). Mischo, C. & Kessel, M. van (2005). Wie wirkt Nachhilfe? Mögliche Wirkfaktoren im Wissen der Nachhilfelehrer. Empirische Pädagogik 19 (1), 28 - 46. Thomas, J., Kessel, M. van, Lohrmann K.& Haag, L. (2006). Wirkfaktoren im Wissen und Handeln der Nachhilfelehrer - Einzelfallbetrachtungen. Psychologie in Erziehungund Unterricht, 2006, 53, 35 - 43. Winther-Olesen, K. (2008). „Face-to-Face and Online Tutoring Equally Effective, TutorVista.com’s President Says“ http: / / www.reuters.com/ article/ pressRelease/ idUS210936+22-Apr-2008+BW20080422 (letzter Zugriff: 9.6.2009). Prof. Dr. Ludwig Haag Lehrstuhl für Schulpädagogik Universitätsstraße 30 95440 Bayreuth E-Mail: lghaag@gmx.de Dr. Martin van Kessel Marktplatz 3 D-88131 Lindau E-Mail: martinvankessel@gmx.de