Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2010.art08d
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Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression in der Schule: Pilotstudie zur Entwicklung und Validierung eines Fragebogens
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Leif Kruse
Franz Petermann
Eine angemessene Beschreibung aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter erfordert die Berücksichtigung spezifischer Subtypen. Eine bedeutsame Unterscheidung ist die zwischen reaktiver und proaktiver Aggression. Im Rahmen einer Pilotstudie wurden die faktorielle Struktur eines neuen deutschsprachigen Fragebogens zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression bei 11- bis 18-jährigen Schülern (N = 60) ermittelt und erste Aussagen zur Messqualität des Verfahrens abgeleitet. Der Fragebogen erfasst neben reaktiver und proaktiver Aggression unterschiedliche Facetten dieser beiden Subtypen: defensive Aggressionsattribution, Wut-Aggression, Macht/Dominanz-Ausübung und Ressourcen-Aneignung. Die internen Konsistenzen der Aggressionsskalen schwanken zwischen a = .63 und .76 und weisen signifikante Zusammenhänge mit externalisierendem Verhalten auf. Reaktive Aggression geht einher mit Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsproblemen und geringem prosozialem Verhalten. Macht-Dominanz-Ausübung steht in Zusammenhang mit geringen emotionalen Problemen.
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2010, 57, 107 - 118 DOI 10.2378/ peu2010.art08d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel n Tests und Programme Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression in der Schule: Pilotstudie zur Entwicklung und Validierung eines Fragebogens Leif Kruse, Franz Petermann Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation Universität Bremen Assessment of Reactive and Proactive Aggression in School: A Pilot-Study of a New Questionnaire Summary: A definition of aggressive behavior in children and youth needs to consider specific subtypes of aggression. A meaningful differentiation is that between reactive and proactive aggression. In this pilot-study a newly developed questionnaire to assess reactive and proactive aggression from 11 - 18 year-old students (N = 60) was evaluated. A sequential factor analysis supported the distinction between reactive and proactive aggression and its facets such as defensive attribution of aggression, angry-aggression, power/ domination-aggression and obtaining of resources. The internal consistencies of the aggression-scales ranged between a = .63 and .76 and showed significant correlations with conduct problems. Reactive aggression was related to hyperactivity/ inattention and decreased prosocial behavior. Power/ domination-aggression was associated with decreased emotional symptoms. Keywords: Reactive aggression, proactive aggression, childhood and youth, questionnaire, psychometric properties Zusammenfassung: Eine angemessene Beschreibung aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter erfordert die Berücksichtigung spezifischer Subtypen. Eine bedeutsame Unterscheidung ist die zwischen reaktiver und proaktiver Aggression. Im Rahmen einer Pilotstudie wurden die faktorielle Struktur eines neuen deutschsprachigen Fragebogens zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression bei 11bis 18-jährigen Schülern (N = 60) ermittelt und erste Aussagen zur Messqualität des Verfahrens abgeleitet. Der Fragebogen erfasst neben reaktiver und proaktiver Aggression unterschiedliche Facetten dieser beiden Subtypen: defensive Aggressionsattribution, Wut-Aggression, Macht/ Dominanz-Ausübung und Ressourcen-Aneignung. Die internen Konsistenzen der Aggressionsskalen schwanken zwischen a = .63 und .76 und weisen signifikante Zusammenhänge mit externalisierendem Verhalten auf. Reaktive Aggression geht einher mit Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsproblemen und geringem prosozialem Verhalten. Macht-Dominanz-Ausübung steht in Zusammenhang mit geringen emotionalen Problemen. Schlüsselbegriffe: Reaktive Aggression, proaktive Aggression, Kindes- und Jugendalter, Fragebogen, psychometrische Eigenschaften Aufgrund der Heterogenität aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter gibt es viele Bemühungen, Subtypen aggressiven Verhaltens zu identifizieren (siehe z. B. Vitiello & Stoff, 1997; zusammenfassend Petermann & Petermann, 2000). Die Unterscheidung verschiedener Subtypen bietet die Möglichkeit, Variabilitäten im Verhalten von Kindern und Jugendlichen besser zu verstehen. Eine bedeutsame Differenzierung besteht zwischen reaktiver und proaktiver Aggression (zum Überblick siehe Kempes, Matthys, de Vries & van Engeland, 2005). 108 Leif Kruse, Franz Petermann • Reaktive Aggression ist eine Defensivreaktion, hervorgerufen durch die Wahrnehmung eines bedrohlichen sozialen Reizes. Die Wahrnehmung der Bedrohung und das Erleben von Ärger veranlassen das Individuum, aggressiv zu reagieren. Das Konzept der reaktiven Aggression basiert auf den Annahmen der Frustrations-Aggressions- Theorie (Berkowitz, 1993), wonach Aggression eine feindselige und ärgergeleitete Reaktion auf eine wahrgenommene Provokation, Frustration oder Bedrohung darstellt. • Im Mittelpunkt der proaktiven Aggression steht hingegen die Bewertung, dass aggressives Verhalten ein probates Mittel ist, positive Ergebnisse zu erreichen. Dieser Subtyp aggressiven Verhaltens kann durch die sozial-kognitive Lerntheorie erklärt werden (Bandura, 1986). Hiernach ist Aggression ein zielgerichtetes Verhalten, motiviert durch die Antizipation positiver Konsequenzen. Aggressives Verhalten wird dabei durch Verstärkungsprozesse erworben und konsolidiert. Bevor Kinder und Jugendliche Sozialverhalten zeigen, durchlaufen sie einen mehrstufigen kognitiven Prozess zur Verarbeitung sozialer Informationen: 1. Enkodierung und 2. Interpretation sozialer Informationen, 3. Zielklärung, 4. Reaktionsbildung, 5. Reaktionsbewertung und Reaktionsauswahl sowie 6. Verhaltensausführung (Crick & Dodge, 1994; Dodge & Schwartz, 1997). Dodge konnte zeigen, dass reaktiv und proaktiv aggressive Kinder verschiedene Defizite bei der Verarbeitung sozialer Informationen aufweisen. Reaktiv aggressive Kinder weisen insbesondere Defizite bei der Wahrnehmung und Interpretation sozialer Informationen auf. Sie haben Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung von Handlungsabsichten und neigen dazu, in uneindeutigen Situationen Verhalten von Gleichaltrigen als feindselig zu interpretieren (Crick & Dodge, 1996; Dodge & Coie, 1987; Dodge & Schwartz, 1997). Proaktiv aggressive Kinder hingegen weisen vor allem Defizite bei der Zielklärung und Reaktionsbewertung auf. So verfolgen proaktiv aggressive Kinder in ihren sozialen Interaktionen eher instrumentelle als beziehungsförderliche Ziele und bewerten aggressive Handlungen häufiger positiv als reaktiv aggressive Kinder (Crick & Dodge, 1996; Schwartz et al., 1998). Neben den verschiedenen Defiziten bei der Verarbeitung sozialer Informationen bestehen noch weitere Unterschiede zwischen reaktiver und proaktiver Aggression. Reaktive Aggression steht in Zusammenhang mit einer erhöhten Sensitivität für stressreiche Stimuli (Vitaro, Brendgen & Tremblay, 2002), Aufmerksamkeitsproblemen (Dodge, Lochman, Harnish & Bates, 1997; Vitaro et al., 2002), Impulsivität (Dodge et al., 1997), negativem Peer-Status (Dodge et al., 1997; Poulin & Boivin, 2000 a; Price & Dodge, 1989), sozialer Zurückweisung (Poulin & Boivin, 2000 a) und Viktimisierung durch Gleichaltrige (Poulin & Boivin, 2000 a; Schwartz et al., 1998). Reaktiv aggressive Kinder weisen im Vergleich zu proaktiv aggressiven Kindern häufiger einen Hintergrund von harschem Erziehungsverhalten und körperlichen Misshandlungen auf und zeigen einen früheren Beginn von Verhaltensproblemen (Dodge et al., 1997). Proaktive Aggression im Kindesalter geht vielfach mit einer Störung mit oppositionellem Trotzverhalten, einer Störung des Sozialverhaltens und delinquentem Verhalten im Jugendalter einher (Vitaro, Gendreau, Tremblay & Oligny, 1998) und steht im Zusammenhang mit Alkohol- und Substanzmissbrauch (Connor et al., 2004) sowie kriminellem Verhalten im Erwachsenenalter (Pulkkinen, 1996). Proaktiv aggressiven Kindern wird im Vergleich zu reaktiv aggressiven Kindern durch Gleichaltrige Führerschaft (Dodge & Coie, 1987) und ein Sinn für Humor zugesprochen (Dodge & Coie, 1987; Poulin & Boivin, 2000 a). Sie haben mehr Freunde als reaktiv aggressive Kinder, die wiederum selbst häufiger proaktive statt re- Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression in der Schule 109 aktive Aggression zeigen (Vitaro et al., 2002). Jüngere Kinder zeigen häufiger reaktive statt proaktive Aggression (Connor et al., 2004). In einer Stichprobe mit klinisch auffälligen Kindern und Jugendlichen fanden Connor, Steingard, Anderson und Melloni (2003) keine Geschlechtsunterschiede für reaktive und proaktive Aggression. Zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression liegen Fragebögen mit unterschiedlichem Entwicklungs- und Validierungsstand vor (Dodge & Coie, 1987; Brown, Atkins, Osborne & Milnamow, 1996; Kempes et al., 2006; Little, Jones, Henrich & Hawley, 2003; Raine et al., 2006). Das am häufigsten eingesetzte Verfahren ist die Lehrer-Rating-Skala von Dodge und Coie (1987). Der Fragebogen besteht aus sechs Aussagen zu aggressivem Verhalten, jeweils drei bilden die zwei Skalen reaktive Aggression (Cronbachs a = .90) und proaktive Aggression (Cronbachs a = .91). Brown et al. (1996) kritisierten an dem Fragebogen, dass Items mit hohen Ladungen auf beiden Faktoren (> 40) nicht ausgeschlossen wurden und der zweite Faktor (proaktive Aggression) einen Eigenwert von < 1 aufwies. Zudem stellten sie fest, dass sich die Items zur Erfassung proaktiver Aggression nur auf Dominieren und Einschüchtern anderer beziehen (feindselige proaktive Aggression), nicht aber auf aggressives Verhalten zur Aneignung begehrter Güter (instrumentelle proaktive Aggression). Brown et al. (1996) unterscheiden in einem eigenen Verfahren diese zwei Facetten proaktiver Aggression (jeweils fünf Items) und reaktive Aggression (sechs Items). Die internen Konsistenzen (Cronbachs a ) der Skalen schwanken zwischen .92 und .94. Die von Dodge und Coie (1987) entwickelte Lehrer-Rating-Skala wurde gelegentlich auch zur Erhebung von Elternurteilen eingesetzt (z. B. Poulin & Boivin, 2000 b). Vor Kurzem stellten Kempes et al. (2006) eine Eltern-Rating-Skala zur Erhebung der reaktiven und proaktiven Aggression vor, die Parent-Rating Scale for Reactive and Proactive Aggression (PRPA). Der Fragebogen besteht aus zwei Skalen mit insgesamt elf Aussagen, sechs zur Erhebung reaktiver Aggression (Cronbachs a = .91) und fünf zur Erfassung proaktiver Aggression (Cronbachs a = .81). Lange Zeit wurden reaktive und proaktive Aggression ausschließlich über Fremdeinschätzungen erfasst. Inzwischen liegen auch zwei Selbstberichtsfragebögen zur Erfassung dieser Subtypen aggressiven Verhaltens vor (Little et al., 2003; Raine et al., 2006). Der Fragebogen für Jugendliche von Raine et al. (2006) besteht aus zwei Skalen mit insgesamt 23 Aussagen (zwölf für proaktive und elf für reaktive Aggression). Die Autoren berichten über interne Konsistenzen (Cronbachs a ) von .84 für reaktive Aggression, .86 für proaktive Aggression und .90 für den Gesamtscore. Little et al. (2003) unterscheiden in ihrem Selbstberichtsfragebogen für Kinder und Jugendliche zwischen den Erscheinungsformen aggressiven Verhaltens (offene vs. relationale Aggression) und den Funktionen aggressiven Verhaltens (reaktive vs. proaktive Aggression). Die internen Konsistenzen (Cronbachs a ) der insgesamt sechs Skalen mit jeweils sechs Items schwanken zwischen .62 und .84. Die Unterscheidung zwischen reaktiver und proaktiver Aggression ist insbesondere für die Behandlung von großer Bedeutung. Bei der Behandlung von Kindern mit aggressivem Verhalten haben sich Programme als effektiv erwiesen, die unterschiedliche Ansätze (z. B. Verstärkung alternativer Verhaltensweisen, Modifizierung sozialer Kognitionen, Veränderung der Milieu-Kontingenzen) einbeziehen und kombinieren (z. B. Petermann et al., 2007, 2008). Solche Programme könnten in ihrer Effektivität gesteigert werden, wenn spezifische Subtypen aggressiven Verhaltens berücksichtigt würden. Reaktiv aggressive Kinder können vermutlich von einer Desensibilisierung für Bedrohungen, dem Training adäquater Wahrnehmung und Interpretation sozialer Informationen sowie der Vermittlung von Strategien zur Emotionsregulation profitieren (Merk, Orobio de Castro, Koops & Matthys, 2005). Proaktiv aggressive Kinder sollten lernen, die 110 Leif Kruse, Franz Petermann (langfristigen) Konsequenzen aggressiven Verhaltens besser einzuschätzen, wobei nicht-aggressives Alternativverhalten durch positive Konsequenzen verstärkt werden sollte. Elterliche Aufsicht ist als Bedingungsvariable vor allem für proaktiv aggressive Kinder relevant, Wärme und Fürsorge hingegen eher für reaktiv aggressive Heranwachsende (Brendgen, Vitaro, Tremblay & Lavoie, 2001). Bislang existiert kein deutschsprachiger Fragebogen zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression. Die wenigen deutschsprachigen Studien zu diesen Subtypen aggressiven Verhaltens begnügen sich zumeist mit einer freien Übersetzung des Lehrerfragebogens von Dodge und Coie (1987; z. B. Wendell, 2005) oder erfassen reaktive und proaktive Aggression indirekt (z. B. Bliesener, Lösel & Averbeck, 1999). Mit der vorliegenden Pilotstudie wurde das Ziel verfolgt, die faktorielle Struktur eines neuen deutschsprachigen Fragebogens zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression im Kindes- und Jugendalter zu ermitteln und erste Aussagen zur Messqualität des Instruments abzuleiten. Die Entwicklung des Fragebogens erfolgte auf der Grundlage der Ansätze von Dodge (Dodge, 1991; Dodge & Coie, 1987; Crick & Dodge, 1994, 1996) und unter Berücksichtigung der in der internationalen Forschungsliteratur berichteten Erhebungsinstrumente (Dodge & Coie, 1987; Brown et al., 1996; Kempes et al., 2006; Little et al., 2003; Raine et al., 2006). Von einer reinen Übersetzung eines der englischsprachigen Verfahren wurde abgesehen, um die Vorteile der unterschiedlichen Verfahren kombinieren zu können und einen Fragebogen zu entwickeln, der direkt an den deutschsprachigen Kulturraum angepasst ist. Zudem sollten mit dem Fragebogen verschiedene Facetten reaktiver und proaktiver Aggression erfasst werden. So haben, wie oben schon angeführt, Brown und Mitarbeiter (1996) in ihrem Lehrerfragebogen zwischen feindseliger und instrumenteller proaktiver Aggression unterschieden. Auch der neue deutschsprachige Fragebogen soll unterscheiden zwischen • proaktiver Aggression, bei der die Ausübung von Macht und das Dominieren anderer im Vordergrund stehen, und • proaktiver Aggression zur Aneignung begehrter Ressourcen. Zudem werden zwei Facetten reaktiver Aggression unterschieden: • ein defensiver Attributionsstil für eigenes aggressives Verhalten sowie • aggressives Verhalten auf der Grundlage von Wutgefühlen. Durch die Pilotstudie soll geklärt werden, ob reaktive und proaktive Aggression sowie ihre unterschiedlichen Facetten spezifische Zusammenhänge mit soziodemografischen Merkmalen, spezifischen Problembereichen und prosozialem Verhalten von Schülern aufweisen. Methode Stichprobe An der Studie nahmen insgesamt N = 60 Realschüler einer sechsten (n = 21), einer achten (n = 20) und einer zehnten Klasse (n = 19) aus dem Kreis Aachen teil. Die Schüler waren durchschnittlich 14,3 Jahre alt (Altersrange: 11,6 - 18,6 Jahre) und zu 50 % (n = 30) männlichen Geschlechts. 47.5 % der befragten Schüler wiesen einen ein- oder zweiseitigen Migrationshintergrund auf. Die Befragung der Schüler erfolgte im Februar 2008 zur regulären Unterrichtszeit. Die Schüler füllten den Fragebogen zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression und die deutsche Fassung des Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ-Deu; Goodman, 1997; siehe auch Klasen, Woerner, Rothenberger & Goodman, 2003) in der Schülerversion aus. Zusätzlich wurden die Klassenlehrer der Schüler mittels des SDQ-Deu in der Lehrerversion befragt. Die Eltern haben schriftlich ihr Einverständnis mit der Befragung ihrer Kinder erklärt. Die Befragung der Schüler und Lehrer erfolgte freiwillig, die Anonymität der Angaben wurde gewährleistet. Erhebungsverfahren Der Fragebogen zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression bestand aus insgesamt 28 Items. Dabei sollten unterschiedliche Facetten reaktiver und proaktiver Aggression erfasst werden: Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression in der Schule 111 • defensive Aggressionsattribution (reaktive Aggression), • Wut-Aggression (reaktive Aggression), • aggressive Macht-Dominanz-Ausübung (proaktive Aggression) und • aggressive Ressourcen-Aneignung (proaktive Aggression). Die Schüler mussten angeben wie häufig sie das in der Frage formulierte Verhalten im letzten halben Jahr zeigten. Zur Auswahl hatten sie die Antwortmöglichkeiten „nie“, „selten“, häufiger“ und „oft“. Für die Auswertung wurden je nach Antwortverhalten unterschiedliche Rohwertpunkte vergeben (nie: 0; selten: 1; häufiger: 2; oft: 3). Zusätzlich wurden Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund (Geburtsland von Vater und Mutter) erhoben. Um die differentiellen Aussagemöglichkeiten der Aggressionsskalen zu bestimmen, wurde der SDQ- Deu (Goodman, 1997; Klasen et al., 2003) eingesetzt. Der SDQ-Deu ist ein Screening-Instrument zur Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten und prosozialem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen im Alter von vier bis 16 Jahren, der in komplementären Versionen als Selbst- und Fremdberichte (Eltern, Lehrer) vorliegt. Der SDQ-Deu enthält 25 Items. Jeweils fünf Items bilden eine Skala der vier Problembereiche emotionale Probleme (Ängstlichkeit, Depressivität), externalisierende Verhaltensauffälligkeiten, Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsprobleme und Probleme mit Gleichaltrigen, fünf Items erfassen prosoziales Verhalten. In zahlreichen Studien wurde die psychometrische Qualität des SDQ-Deu in Selbstberichtsform (Altendorfer-Kling, Thun-Hohenstein, Ardelt-Gattinger, 2007; Becker, Hagenberg et al., 2004; Klasen et al., 2003) und Fremdberichtsform (Becker, Woerner et al., 2004; Hintermair, 2006; Klasen et al., 2000, 2003; Koglin et al., 2007; Woerner et al., 2002) dokumentiert. Klasen et al. (2003) berichten zusammenfassend über interne Konsistenzen von .58 bis .82 für die fünf Skalen und den Gesamtproblemwert der Elternversion und über konvergente Validitäten mit der Youth Self Report Form (YSR), Child Behavior Checklist (CBCL 4-18) und der Teacher Report Form (TRF) (siehe Döpfner et al. 1994) von .59 bis .87 für Selbstbericht und Fremdberichtsversion des SDQ-Deu. Becker, Hagenberg et al. (2004) berichten über akzeptable Zusammenhänge zwischen Selbst-, Eltern- und Lehrerversion. Ergebnisse Skalenstruktur Auf der Basis von Itemkennwerten (Schwierigkeiten, Trennschärfen) und inhaltlicher Überlegungen wurden insgesamt 16 Items ausgewählt, jeweils vier erfassen eine von jeweils zwei unterschiedlichen Facetten reaktiver bzw. proaktiver Aggression (siehe Tab. 1). Zur Überprüfung der faktoriellen Struktur des Fragebogens wurde eine mehrstufige Faktorenanalyse durchgeführt. Eine Hauptkomponentenanalyse mit Promax-Rotation ergab bei Verwendung des Eigenwertkriteriums als Extraktionsmethode eine fünffaktorielle Lösung. Die Ladungsstruktur legte eine Interpretation der drei Faktoren defensive Aggressionsattribution, Wut-Aggression und Ressourcen-Aneignung nahe. Jeweils zwei der Items zu Macht/ Dominanz-Ausübung bildeten den vierten und fünften Faktor, wiesen aber jeweils auch moderate Ladungen auf dem anderen Faktor auf. Aus diesem Grund wurde eine weitere Hauptkomponentenanalyse mit Promax-Rotation durchgeführt, deren Faktorenanzahl auf vier beschränkt wurde. In Tabelle 2 sind die Ladungsstruktur,dieEigenwerteunddieKommunalitäten wiedergegeben. Die Ladungsstruktur der vierfaktoriellen Lösung entspricht den inhaltlichen Vorannahmen. Alle Items können nach dem Kriterium von Fürntratt 1 (1969) dem Faktor zugeordnet werden, für den sie bestimmt waren. Demnach kann der erste Faktor als defensive Aggressionsattribution interpretiert werden, der zweite Faktor als Wut-Aggression, der dritte Faktor als Macht- Dominanz-Ausübung und der vierte Faktor als Ressourcen-Aneignung. Die Mittelwerte und Standardabweichungen der Items variieren zwischen M = .17 - 1.80 sowie SD = .38 - 1.05, die Trennschärfen zwischen .35 < r it < .69. Um die Frage zu klären, ob den unterschiedlichen Facetten für reaktive bzw. proaktive Aggression auch jeweils ein gemein- 1 a 2 / h 2 > .50. 112 Leif Kruse, Franz Petermann Wut-Aggression (reaktive Aggression) rea3 Wie oft hast du etwas kaputt gemacht, weil Du so wütend warst? rea4 Wie oft hast du jemanden angeschrien, wenn er dich geärgert hat? rea6 Wie oft hast du etwas durch die Gegend geschmissen, weil du so wütend warst? rea10 Wie oft bist du vor Wut aus der Haut gefahren? Defensive Aggressionsattribution (reaktive Aggression) rea7 Wie oft hast du jemanden nur deshalb geschlagen, um dich zu verteidigen? rea8 Wie oft hast du dich geprügelt, wobei jemand anderes angefangen hat? rea11 Wie oft hast du dich geprügelt, obwohl du nicht wolltest? rea12 Wie oft hast du dich gestritten, wobei jemand anderes angefangen hat? Macht/ Dominanz-Ausübung (proaktive Aggression) pro7 Wie oft hast du andere aufgefordert, jemanden zu ärgern? pro9 Wie oft hast du jemandem nur zum Spaß wehgetan? pro10 Wie oft hast du nur zum Spaß etwas kaputt gemacht? pro13 Wie oft hast du andere aufgefordert, jemandem etwas anzutun? Ressourcen-Aneignung (proaktive Aggression) pro2 Wie oft hast du jemandem geschadet, um einen Vorteil zu erhalten? pro4 Wie oft hast du jemand anderem etwas weggenommen, wenn du es haben wolltest? pro12 Wie oft hast du jemanden eingeschüchtert, damit er macht, was du wolltest? pro15 Wie oft hast du jemanden getäuscht, um ihm zu schaden? Tabelle 1: Items und Skalen des Fragebogens zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression im Kindes- und Jugendalter. Items Faktor 1 Faktor 2 Faktor 3 Faktor 4 h 2 pro2 .67 .56 pro4 .60 .43 pro12 .72 .56 pro15 .66 .56 pro7 .77 .66 pro9 .72 .56 pro10 .69 .50 pro13 .63 .43 rea7 .77 .62 rea8 .83 .73 rea11 .76 .66 rea12 .68 .62 rea3 .74 .57 rea4 .76 .60 rea6 .87 .78 rea10 .58 .52 Eigenwerte 2.75 2.66 2.43 2.30 10.14 Anmerkungen: Die Hauptkomponentenanalyse wurde auf vier Faktoren begrenzt; es sind nur Faktorladungen > .40 aufgeführt. Aufgrund der obliquen Rotation sind Angaben zur Varianzaufklärung der einzelnen Faktoren nicht möglich. Tabelle 2: Faktorladungen, Eigenwerte und Kommunalitäten (h 2 ) der Faktorenanalyse 1. Ordnung. Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression in der Schule 113 samer Faktor zugeordnet werden kann, wurden die Faktorwerte der vier extrahierten Faktoren einer Faktorenanalyse 2. Ordnung unterzogen. Eine Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation ergab mit dem Eigenwertkriterium als Extraktionsmethode eine zweifaktorielle Lösung (siehe Tab. 3). Der erste Faktor (Eigenwert: 1.23; 31.9 % Varianzaufklärung) kann nach dem Fürntratt- Kriterium als reaktive Aggression interpretiert werden, der zweite Faktor (Eigenwert: 1.16; 29.0 % Varianzaufklärung) als proaktive Aggression. Zusammenhänge und interne Konsistenzen der Aggressionsskalen Tabelle 4 gibt die Korrelationen zwischen den Skalen und Unterskalen des Fragebogens wieder. Die Unterskalen defensive Aggressionsattribution und Wut-Aggression weisen einen signifikanten positiven Zusammenhang auf, ebenso die Skalen Macht/ Dominanz-Ausübung und Ressourcen-Aneignung. Defensive Aggressionsattribution und Wut-Aggression korrelieren signifikant positiv mit dem übergeordneten Faktor reaktive Aggression. Macht/ Dominanz- Ausübung und Ressourcen-Aneignung weisen einen signifikanten positiven Zusammenhang mit dem übergeordneten Faktor proaktive Aggression auf. Die Skalen reaktive Aggression und proaktive Aggression weisen keinen signifikanten Zusammenhang auf. Alle vier Unterskalen und die Skalen reaktive Aggression und proaktive Aggression weisen einen signifikanten Zusammenhang mit der Skala Gesamt-Aggression auf. Cronbachs a beträgt für die Skalen reaktive Aggression und Gesamt-Aggression .76, für die Skala proaktive Aggression .73. Die internen Konsistenzen (Cronbachs a ) der Unterskalen variieren zwischen a = .63 und .76 (siehe Tab. 4). Faktoren 1. Ordnung Faktor 1 Faktor 2 h 2 Defensive Aggressionsattribution .76 .14 .60 Wut-Aggression .82 .00 .68 Macht/ Dominanz-Ausübung .00 .80 .65 Ressourcen-Aneignung .12 .70 .51 Eigenwert 1.28 1.16 2.44 Varianzaufklärung in % 31.86 28.97 60.83 Tabelle 3: Faktorladungen, Eigenwerte, prozentuale Varianzaufklärung sowie Kommunalitäten (h 2 ) der Faktorenanalyse 2. Ordnung. Unterskala/ Skala DA WA MD RS RA PA GA a Defensive Attribution 1 - - - - - - .76 Wut-Aggression .32* 1 - - - - - .75 Macht/ Dominanz-Ausübung .23 .06 1 - - - - .70 Ressourcen-Aneignung .01 .17 .34** 1 - - - .63 Reaktive Aggression .82** .80** .18 .11 1 - - .76 Proaktive Aggression .16 .13 .86** .77** .18 1 - .73 Gesamt-Aggression .72** .72** .58** .48** .86** .65** 1 .76 Anmerkungen: N = 60; * p < .05, ** p < .01. DA = defensive Aggressionsattribution, WA = Wut-Aggression, MD = Macht/ Dominanz-Ausübung, RS = Ressourcen-Aneignung, RA = reaktive Aggression, PA = proaktive Aggression, GA = Gesamt- Aggression. Tabelle 4: Korrelationen und interne Konsistenzen (Cronbachs a ) der Aggressionsskalen. 114 Leif Kruse, Franz Petermann Zusammenhänge mit soziodemografischen Merkmalen Tabelle 5 gibt Mittelwertsvergleiche für aggressives Verhalten zwischen Jungen und Mädchen sowie den Zusammenhang mit dem Alter wieder. Signifikante Geschlechtsunterschiede 2 ergeben sich für defensive Aggressionsattribution (t (df = 51) 3 = 3.85, p < .001), reaktive Aggression (t (df = 58) = 2.65, p = .010) und Gesamt-Aggression (t (df = 58) = 2.99, p = .004). Es bestehen keine statistisch bedeutsamen Unterschiede zwischen den Gruppen mit (n = 28) und ohne (n = 31) Migrationshintergrund. Das Alter weist einen signifikanten negativen Zusammenhang mit der Skala defensive Aggressionsattribution auf. Zusammenhänge mit Problembereichen und prosozialem Verhalten Von besonderem Interesse ist die Frage, ob die Unterscheidung zwischen reaktiver und proaktiver Aggression differentielle Aussagen im Hinblick auf verschiedene Problembereiche bzw. prosoziales Verhalten (SDQ-Deu) gestattet. Der Problembereich externaliserende Verhaltensstörungen des SDQ-Deu weist signifikante positive Korrelationen mit der Skala zur reaktiven Aggression, proaktiven Aggression und Gesamt-Aggression auf (siehe Tab. 6). Nur die Lehrerurteile für externalisierendes Verhalten korrelieren nicht signifikant mit der Skala proaktive Aggression. Die Skalen zur reaktiven Aggression und Gesamt-Aggression korrelieren signifikant positiv mit dem Problembereich Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsprobleme für die Schülerurteile. Ein signifikant negativer Zusammenhang besteht zwischen der Skala zur proaktiven Aggression und dem Problembereich emotionale Probleme sowie zwischen den Skalen zur reaktiven Aggression und Gesamt-Aggression und prosozialem Verhalten, wenn man die Lehrerurteile heranzieht. Keine signifikanten Zusammenhänge ergeben sich zwischen den Aggressionsskalen und der Skala Probleme mit Gleichaltrigen des SDQ-Deu für Schülersowie Lehrerurteile. Ein differenzierteres Bild ergibt sich, wenn man die Zusammenhänge zwischen den Unterskalen für reaktive und proaktive Aggression und den Problembereichen sowie prosozialem Verhalten in Augenschein nimmt. Auf der Basis der Schülerurteile ergeben sich signifikante positive Korrelationen zwischen Wut-Aggression sowie Ressourcen-Aneignung und externalisie- 2 Für die statistischen Mittelwertsvergleiche wurde ein Signifikanzniveau von a = 5 % gewählt. 3 Freiheitsgradkorrektur aufgrund ungleicher Varianzen. Jungen (n = 30) Mädchen (n = 30) Alter Skala M (SD) M (SD) t (df = 58) r DA 4.63 (2.82) 2.23 (1.92) 3.85*** a -.29* WA 4.00 (2.77) 3.63 (2.34) .55 .08 MD 2.17 (1.91) 1.23 (1.83) .1.93 .21 RS 1.43 (1.57) 1.13 (1.50) .76 .04 RA 8.63 (4.54) 5.87 (3.49) 2.65** -.13 PA 3.60 (2.82) 2.37 (2.74) 1.72 .16 GA 12.23 (5.20) 8.23 (5.16) 2.99** -.02 Anmerkungen: DA = defensive Aggressionsattribution, WA = Wut-Aggression, MD = Macht/ Dominanz-Ausübung, RS = Ressourcen-Aneignung, RA = reaktive Aggression, PA = proaktive Aggression, GA = Gesamt-Aggression; * p < .05, ** p ≤ .01, *** p < .001; a Korrektur der Freiheitsgrade aufgrund ungleicher Varianzen (df = 51). Tabelle 5: Mittelwertsvergleiche für aggressives Verhalten zwischen Jungen und Mädchen sowie Zusammenhänge mit dem Alter. Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression in der Schule 115 renden Verhaltensauffälligkeiten. Die Skalen defensive Aggressionsattribution sowie Macht/ Dominanz-Ausübung korrelieren tendenziell positiv mit diesem Problembereich. Zudem ergeben sich signifikante Korrelationen zwischen der Skala Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsprobleme des SDQ-Deu und Wut-Aggression sowie defensiver Aggressionsattribution. Ein tendenziell negativer Zusammenhang besteht zwischen Macht/ Dominanz-Ausübung und der Skala emotionale Probleme. Es bestehen keine signifikanten Zusammenhänge zwischen den Unterskalen für reaktive und proaktive Aggression und den Skalen Probleme mit Gleichaltrigen und prosoziales Verhalten des SDQ- Deu. Zieht man die Lehrerurteile für die Ausprägungen der Problembereiche und das prosoziale Verhalten heran, korreliert von den proaktiv aggressiven Unterskalen lediglich die Macht/ Dominanz-Ausübung signifikant negativ mit dem Problembereich emotionale Probleme. Die Ressourcen-Aneignung hängt zudem tendenziell negativ mit diesem Problembereich zusammen. Alle anderen Zusammenhänge zwischen den Unterskalen für proaktive Aggression und den Problembereichen und prosozialem Verhalten sind gering. Im Hinblick auf die reaktiv aggressiven Unterskalen besteht eine signifikante positive Korrelation zwischen der Skala defensive Aggressionsattribution und dem Problembereich externalisierende Verhaltensauffälligkeiten. Zudem hängt prosoziales Verhalten signifikant negativ mit Wut-Agression und defensiver Aggressionsattribution zusammen. Der Problembereich Hyperaktivitäts-/ Aufmerksamkeitsprobleme weist keine nennenswerten Zusammenhänge mit den Unterskalen auf. Ein tendenziell positiver Zusammenhang besteht zwischen dem Problembereich Probleme mit Gleichaltrigen und defensiver Aggressionsattribution. Diskussion Mit der vorliegenden Pilotstudie wurde das Ziel verfolgt, die faktorielle Struktur eines neuen deutschsprachigen Fragebogens zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression im Kindes- und Jugendalter zu ermitteln und erste Aussagen zur Qualität des Instruments abzuleiten. Die faktorielle Struktur des Fragebogens unterstützt die Unterscheidung zwischen den Subtypen reaktive und proaktive Aggression und ihrer Facetten SDQ-Deu reaktiv proaktiv Selbstbericht DA WA RA MD RS PA GA Emotionale Probleme .00 .13 .08 -.25 .00 -.17 -.03 Externalisierende Verhaltensauffälligkeiten .24 .34** .36** .21 .32* .32* .44** Hyperaktivitäts-/ Aufmerksamkeitsprobleme .26* .29* .34** .20 .12 .20 .36* Probleme mit Gleichaltrigen -.00 -.12 -.07 -.09 -.09 -.11 -.11 Prosoziales Verhalten -.12 -.06 -.11 -.11 .02 -.06 -.11 Fremdbericht DA WA RA MD RS PA GA Emotionale Probleme .10 -.14 -.02 -.34* -.25 -.36* -.21 Externalisierende Verhaltensauffälligkeiten .41** .12 .34* .01 .07 .04 .28* Hyperaktivitäts-/ Aufmerksamkeitsprobleme .20 -.02 .11 .12 .03 .09 .13 Probleme mit Gleichaltrigen .21 -.02 .12 -.08 -.03 -.07 .06 Prosoziales Verhalten -.34** -.27* -.38** -.06 -.09 -.08 -.33* Tabelle 6: Korrelationen zwischen den Aggressionsskalen und einzelnen Problembereichen sowie prosozialem Verhalten. Anmerkungen: n = 56 - 60; * p < .05, ** p < .01; DA = defensive Aggressionsattribution, WA = Wut-Aggression, MD = Macht/ Dominanz-Ausübung, RS = Ressourcen-Aneignung, RA = reaktive Aggression, PA = proaktive Aggression, GA = Gesamt-Aggression. 116 Leif Kruse, Franz Petermann • defensive Aggressionsattribution (reaktive Aggression), • Wut-Aggression (reaktive Aggression), • Macht/ Dominanz-Ausübung (proaktive Aggression) und • Ressourcen-Aneignung (proaktive Aggression). Das Zusammenhangsmuster der Subtypen und Facetten wird insbesondere durch die Korrelationen der Unterskalen untereinander und mit den übergeordneten Faktoren deutlich. Bemerkenswerterweise wurde im Gegensatz zu anderen Forschungsbefunden (Dodge & Coie, 1987; Brown, et al., 1996; Kempes et al., 2006; Raine et al., 2006) kein signifikanter Zusammenhang zwischen reaktiver und proaktiver Aggression nachgewiesen, was für eine relative Unabhängigkeit von reaktiver und proaktiver Aggression spricht. Die ermittelten Aggressionsskalen verfügen trotz geringer Aufgabenanzahl über zufriedenstellende interne Konsistenzen. Jungen neigen stärker als Mädchen dazu, eigenes aggressives Verhalten defensiv zu erklären; sie sind reaktiv (und insgesamt) aggressiver als Mädchen. Jungen und Mädchen unterscheiden sich jedoch nicht in ihrer Wut-Aggression. Es bestehen auch keine Geschlechtsunterschiede hinsichtlich Macht/ Dominanz-Ausübung, aggressiver Ressourcen-Aneignung und proaktiver Aggression insgesamt. Je jünger die Kinder bzw. Jugendlichen sind, desto eher neigen sie zu einer defensiven Attribution eigenen aggressiven Verhaltens. Die Alters- und Geschlechtsunterschiede stützen die vorgenommene Unterscheidung zwischen reaktiver und proaktiver Aggression und ihrer verschiedenen Facetten. Die signifikanten positiven Zusammenhänge zwischen externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten und den Skalen zu reaktiver Aggression, proaktiver Aggression und Gesamt-Aggression sprechen für die Validität der neuen Skalen. Die Null-Korrelation zwischen selbstberichteter proaktiver Aggression und Lehrereinschätzungen für externalisierende Verhaltensauffälligkeiten ist durch die Tatsache begründbar, dass proaktiv aggressives Verhalten von Schülern häufig nicht vor den Augen von Lehrern, sondern im Verborgenen stattfindet, da die aggressiven Schüler sonst für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden würden (vgl. auch Loeber & Schmaling, 1985). Dieser Umstand unterstreicht die Notwendigkeit von Selbstberichten bei der Erfassung proaktiver Aggression. In der Forschungsliteratur berichtete Zusammenhänge zwischen reaktiver Aggression und Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsproblemen (Dodge et al., 1997; Vitaro et al., 2002) konnten auf der Basis von Schülerurteilen bestätigt werden und stützen die Validität der Skala reaktive Aggression. Zieht man die Lehrerurteile heran, geht proaktive Aggression einher mit geringen emotionalen Problemen. Vor dem Hintergrund der Befunde zu reaktiver Aggression und negativem Peer-Status (Dodge et al., 1997; Poulin & Boivin, 2000 a; Price & Dodge, 1989), sozialer Zurückweisung (Poulin & Boivin, 2000 a) und Viktimisierung durch Gleichaltrige (Poulin & Boivin, 2000 a; Schwartz et al., 1998) wäre ein Zusammenhang zwischen reaktiver Aggression und emotionalen Problemen und Problemen mit Gleichaltrigen zu erwarten gewesen. Die Skala reaktive Aggression weist aber keinen statistisch bedeutsamen Zusammenhang mit emotionalen Problemen und Problemen mit Gleichaltrigen auf. Lediglich auf der Basis von Lehrerurteilen steht reaktive Aggression (und Aggression insgesamt) in Verbindung mit geringem prosozialem Verhalten, was indirekt auf Schwierigkeiten in den Beziehungen zu Gleichaltrigen verweist. Wut-Aggression und Ressourcen-Aneignung geht auf der Basis von Selbsturteilen einher mit externalisierenden Verhaltensstörungen, was die Validität der beiden Unterskalen stützt. Auch die tendenziellen Zusammenhänge zwischen externalisierendem Verhalten und defensiver Aggressionsattribution sowie Macht/ Dominanz- Ausübung belegt die Validität der Unterskalen. Zieht man die Lehrerurteile heran, steht lediglich ein defensiver Attributionsstil aggressiven Verhaltens in Verbindung mit externalisierendem Verhalten; abermals ein Hinweis darauf, dass spezifische Subtypen und Facetten aggres- Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression in der Schule 117 siven Verhaltens schwierig über Fremdurteile zu erfassen sind. Für die differentielle Aussagekraft der verschiedenen Facetten reaktiver bzw. proaktiver Aggression spräche, wenn diese unterschiedliche Zusammenhänge mit den Problembereichen aufweisen würden. Bemerkenswert ist, dass aggressive Macht/ Dominanz-Ausübung tendenziell mit geringen emotionalen Problemen wie Ängstlichkeit bzw. Depressivität in Zusammenhang steht, nicht aber die aggressive Ressourcen-Aneignung. Dies spricht dafür, die beiden Facetten proaktiver Aggression zu unterscheiden und getrennt zu erfassen. Die Pilotstudie erscheint vielversprechend, sie beinhaltet aber auch einige Einschränkungen. Die Ergebnisse der Zusammenhangsanalysen können nur eingeschränkt interpretiert werden, da der SDQ-Deu nur für Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre geeignet ist, in die vorliegende Studie aber auch ältere Jugendliche (bis 18,6 Jahre) eingeschlossen wurden. Der Fragebogen sollte an einer größeren und repräsentativen Stichprobe überprüft werden. Die Aussagemöglichkeiten zu den psychometrischen Eigenschaften der Aggressionsskalen könnten durch eine angemessen große Konstruktionsstichprobe verbessert werden. Zudem fehlt die Überprüfung des Fragebogens an einer klinischen Stichprobe. Durch die Aufnahme weiterer inhaltlich relevanter Items für reaktive und proaktive Aggression ließe sich das Aussagespektrum des Fragebogens auf bislang unberücksichtigte aggressive Verhaltensweisen erweitern. Es sind weitere Studien notwendig, um Entwicklungsverläufe reaktiver und proaktiver Aggression zu identifizieren und altersangepasste Präventions- und Interventionsmaßnahmen abzuleiten (vgl. Schlack, Hölling & Petermann, 2009). Literatur Altendorfer-Kling, U., Thun-Hohenstein, L. & Ardelt- Gatinger, E. (2007). Der Selbstbeurteilungsbogen des SDQ anhand einer österreichischen Feldstichprobe. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 35, 265 - 271. Bandura, A. (1986). 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