Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2011
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Soziale Disparitäten und Schutzfaktoren bei Schülerinnen und Schülern in der Primarstufe
101
2011
Imke Groeneveld
Michel Knigge
Alexander Robitzsch
Kinder aus einkommensschwachen Familien zeigen durchschnittlich niedrigere schulische Kompetenzen im Vergleich zu Gleichaltrigen aus besser gestellten Elternhäusern. Dieser Umstand wird auf einen primären Herkunftseffekt zurückgeführt, der sich durch Differenzen in der familialen Lernausstattung, der Förderung und Vermittlung motivationaler Aspekte des Lernens sowie allgemein im kulturellen Kapital äußert. Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie stehen Schülerinnen und Schüler, die höhere Kompetenzen aufweisen als es ihre soziale Herkunft erwarten ließe. Ausgehend von Befunden aus der Resilienz- und der Schulleistungsforschung werden potenzielle Schutzfaktoren definiert, von denen ein Disparitäten mindernder Effekt bezüglich der Lesekompetenz bei unterschiedlichen Sozialgruppen angenommen wird. Anhand von mehrebenenanalytischen Modellen mit Interaktionseffekten unter Verwendung der deutschen Stichprobe der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) 2001 (N = 7633) wurden die theoretisch definierten Schutzfaktoren einer empirischen Überprüfung unterzogen. Dabei erwiesen sich sowohl ein hohes akademisches Selbstkonzept als auch hohe kognitive Grundfähigkeiten als Schutzfaktoren auf der Individualebene. Auf der Klassenebene zeigte sich, dass ein hohes Kompetenz-niveau der Klasse einen protektiven Faktor bezüglich sozialer Disparitäten im Kompetenzerwerb darstellt.
3_058_2011_004_0268
n Empirische Arbeit Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2011, 58, 268 - 279 DOI 10.2378/ peu2011.art17d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Soziale Disparitäten und Schutzfaktoren bei Schülerinnen und Schülern in der Primarstufe Imke Groeneveld Michel Knigge Humboldt-Universität zu Berlin Universität Hamburg Alexander Robitzsch Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens, Salzburg Social Disparities and Protective Factors amongst Students at Primary School Summary: Students from low-income families show on average lower competencies than those from higher social classes. In Germany these so called social disparities are extremely high concerning international comparisons. The present study was carried out to analyse students that show higher competencies than their social background would anticipate. Based on results of resilience and psychological pedagogical research potential protective factors will be defined that can lower social disparities in reading achievement. By means of multilevel models with interaction effects using the German subsample (N = 7633) of PIRLS 2001 we empirically tested the theoretically defined protective factors. Thereby a high academic self-concept as well as high cognitive abilities proved to be protective on the individual level. At class level a high reading achievement level within the classes constitutes a protective factor concerning social disparities in regard to competence acquisition. Keywords: Social Origin, Reading Achievement, Academic Self-concept, Primary school Zusammenfassung: Kinder aus einkommensschwachen Familien zeigen durchschnittlich niedrigere schulische Kompetenzen im Vergleich zu Gleichaltrigen aus besser gestellten Elternhäusern. Dieser Umstand wird auf einen primären Herkunftseffekt zurückgeführt, der sich durch Differenzen in der familialen Lernausstattung, der Förderung und Vermittlung motivationaler Aspekte des Lernens sowie allgemein im kulturellen Kapital äußert. Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie stehen Schülerinnen und Schüler, die höhere Kompetenzen aufweisen als es ihre soziale Herkunft erwarten ließe. Ausgehend von Befunden aus der Resilienz- und der Schulleistungsforschung werden potenzielle Schutzfaktoren definiert, von denen ein Disparitäten mindernder Effekt bezüglich der Lesekompetenz bei unterschiedlichen Sozialgruppen angenommen wird. Anhand von mehrebenenanalytischen Modellen mit Interaktionseffekten unter Verwendung der deutschen Stichprobe der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) 2001 (N = 7633) wurden die theoretisch definierten Schutzfaktoren einer empirischen Überprüfung unterzogen. Dabei erwiesen sich sowohl ein hohes akademisches Selbstkonzept als auch hohe kognitive Grundfähigkeiten als Schutzfaktoren auf der Individualebene. Auf der Klassenebene zeigte sich, dass ein hohes Kompetenzniveau der Klasse einen protektiven Faktor bezüglich sozialer Disparitäten im Kompetenzerwerb darstellt. Schlüsselbegriffe: Soziale Herkunft, Lesekompetenz, Akademisches Selbstkonzept, Grundschule Soziale Disparitäten und Schutzfaktoren in der Primarstufe 269 Ein noch immer ungelöstes Problem sowohl des deutschen als auch anderer Bildungssysteme stellt das Ungleichgewicht im Kompetenzerwerb zwischen den verschiedenen Sozialschichten dar. Kinder aus sozial schlechter gestellten Elternhäusern zeigen durchschnittlich niedrigere schulische Leistungen im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern aus finanziell besser gestellten Familien (Baumert et al., 2001; Bos et al., 2004). Bei genauer Betrachtung des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und schulischen Kompetenzen lassen sich jedoch Kinder identifizieren, die bessere Leistungen erzielen als es ihre soziale Herkunft erwarten ließe. Eine weitgehend offene Frage in diesem Zusammenhang bleibt allerdings, wie es ihnen trotz für sie ungünstiger sozialer Lebensumstände gelingt, durchschnittliche bis hohe schulische Kompetenzen zu erreichen. Da sie durch ihre soziale Herkunft einem Risikofaktor in Bezug auf die eigene Schullaufbahn ausgesetzt sind, nehmen wir an, dass Faktoren wirksam werden, die sich als protektiv und dadurch Disparitäten mindernd erweisen. Der Bestimmung dieser Faktoren wollen wir in der vorliegenden Arbeit nachgehen. Determinanten der Schulleistung Verschiedene Modelle zur Erklärung schulischer Leistungen und ihren zugrundeliegenden Bedingungsfaktoren wurden bisher theoretisch und empirisch begründet. Helmke und Weinert (1997) beispielsweise gehen in ihrem Modell der Schulleistungsdeterminanten von einer Verknüpfung verschiedener Faktoren auf familiärer, individueller sowie schulischer Ebene aus, die einen Einfluss auf die Schulleistung ausüben. Dabei werden auf individueller Ebene sowohl kognitive als auch motivationale Faktoren als Einflussgrößen der schulischen Leistung angesehen. So liegt der Zusammenhang zwischen kognitiven Grundfähigkeiten und Schulleistung im Mittel zwischen r = .50 und r = .60 (Helmke & Schrader, 2006). Dieser Zusammenhang wird damit erklärt, dass Lernende, die über hohe kognitive Fähigkeiten verfügen, schneller lösungsrelevante Regeln erkennen und diese auch zur Akkumulation weiteren Wissens effektiv anwenden können. Darüber hinaus verfügen sie über die Fähigkeit, erfolgreiche Problemlösungsstrategien einzusetzen und sich generell auf neue Aufgaben einzustellen (Helmke & Weinert, 1997). Neben kognitiven Fähigkeiten spielen auch motivationale Faktoren, wie das Fähigkeitsselbstkonzept, eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit schulischen Lernprozessen. Personen, die über ein hohes Fähigkeitsselbstkonzept verfügen, sind eher in der Lage, leistungsbezogene Handlungen eigenständig zu initiieren und diese auch bei auftretenden Störreizen und Schwierigkeiten aufrechtzuerhalten (Helmke & Weinert, 1997). Dieser Umstand ist gerade dann bedeutsam, wenn die Lernumgebung wenig anregend und ein hohes Maß an eigenständigem Handeln erforderlich ist. Soziale Disparitäten im Kompetenzerwerb Zur Erklärung sozialer Disparitäten im Bereich des schulischen Kompetenzerwerbes stehen verschiedene theoretische Ansätze zur Verfügung. Der französische Soziologe Raymond Boudon (1974) geht davon aus, dass Leistungsunterschiede zwischen den einzelnen Sozialgruppen auf ungleiche familiäre Bedingungen der Schülerinnen und Schüler zurückzuführen sind. Eine günstige häusliche Lernumgebung sowie gezielte Förderung und Erziehung sind in Familien der Unterschicht seltener anzutreffen als in Familien der Mittelbzw. Oberschicht. Daher fehlt Kindern und Jugendlichen aus sozial schlechter gestellten Elternhäusern bereits vor Beginn der Schulzeit ein spezifisches, kulturelles Wissen, das für einen späteren schulischen Lernerfolg wichtig ist (Boudon, 1974). Dieser Unterschied zwischen den Sozialgruppen wird von Becker und Lauterbach (2004) in der „Vermittlung von Sprachkultur, in der Lern- und Bildungsmotivation hin zum selbst regulierten Handeln und Lernen sowie in den habitualisierten Lerngewohnheiten“ begründet beschrie- 270 Imke Groeneveld, Michel Knigge, Alexander Robitzsch ben. In den oberen Sozialschichten wird Kindern frühzeitig eine Umwelt angeboten, die kognitiv besonders anregend und dadurch sowohl lernförderlich als auch motivierend ist. So wird kulturell bedeutsames Wissen, das von zentraler Bedeutung für einen späteren Schulerfolg ist, systematisch gefördert. Risiko- und Schutzfaktoren Das Konzept der Resilienz stammt ursprünglich aus der Entwicklungspsychopathologie und beschäftigt sich mit Personen, die trotz widriger Lebensumstände, wie beispielsweise dem Aufwachsen in Armut, nicht oder zumindest weniger stark in ihrer Entwicklung beeinträchtigt sind (Rutter, 1990). Dabei wird von Schutzfaktoren ausgegangen, die die Wirkung von Risikofaktoren moderieren können (Garmezy, Masten & Tellegen, 1984). Garmezy (1985) schlägt eine Einordnung derartiger Faktoren in die Bereiche Individuum, familiäres Umfeld sowie unterstützende Umweltbedingungen vor. In der vorliegenden Arbeit wird dieses Konzept mit Fokus auf schulische Entwicklungsprozesse aufgegriffen. In verschiedenen Studien zur Entwicklung sozial benachteiligter Kinder konnte gezeigt werden, dass durchschnittliche bis hohe kognitive Fähigkeiten sowie ein positives akademisches Selbstkonzept den Einfluss ungünstiger Lebensbedingungen verringern können (Garmezy, Masten & Tellegen, 1984; Gordon, 1995; Radke-Yarrow & Sherman, 1990; Waxman & L., 1996; Werner & Smith, 1982). In einkommensschwachen Familien zeigt sich ein dennoch gutes Unterstützungsverhalten der Eltern als schützender Faktor in der schulischen Kompetenzentwicklung der Kinder. So führt beispielsweise die gezielte Hilfestellung beim Lesenlernen zu einer Verbesserung der schulischen Kompetenzen der Kinder (Clark, 1983; Laucht, Esser & Schmidt, 1998; Osborn, 1990; Rutter, 1985; Werner & Smith, 1982). Neben den oben genannten individuellen sowie familiären Faktoren hat auch die Art der Zusammensetzung von Schulklassen einen Einfluss auf den Kompetenzerwerb Lernender aus einkommensschwachen Elternhäusern. Dies zeigten sowohl Baumert, Stanat und Watermann (2006) als auch Schümer (2004) in ihren weiterführenden Analysen der PISA- 2000-Daten, die deutlich machten, dass durch eine erhöhte Konzentration von Jugendlichen aus ungünstigen Familienverhältnissen an Schulen die individuelle Leistung im Lesen signifikant vermindert wurde. Dies wird unter anderem auf eine Unterrichtskultur zurückgeführt, die wenig lernförderlich ist, was sich gerade bei Lernenden aus einkommensschwachen Familien negativ auswirkt, da die familiären Ressourcen fehlen, um einen derartig ungünstigen Unterricht auszugleichen. Um also den Benachteiligungsprozess aufgrund der sozialen Herkunft zu verstehen, sollten neben individuellen und familiären auch schulische Faktoren, wie etwa der Anteil an Lernenden aus ungünstigen sozialen Bedingungen innerhalb einer Klasse, berücksichtigt werden (Opdenakker & van Damme, 2001; Schümer, 2004). In den bisher beschriebenen Studien wurden die Stichproben einseitig aus sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen gezogen. Dadurch ist die Abschätzung eines Interaktionseffektes zwischen dem Sozialstatus und einem potenziellen Schutzfaktor nicht gegeben. Derartige Studien untersuchen lediglich Haupteffekte, die sich auf alle Schülerinnen und Schüler unabhängig von deren sozialer Herkunft beziehen. Um dieses Problem zu vermeiden, bilden wir Interaktionsterme und nutzen eine Stichprobe, die sich aus allen sozialen Schichten zusammensetzt. Fragestellungen und Hypothesen Wir untersuchen Schutzfaktoren aus den Bereichen Individuum, Familie und Schule, von denen wir annehmen, dass sie eine Benachteiligung im Kompetenzerwerb aufgrund der sozialen Herkunft verringern können. Soziale Disparitäten und Schutzfaktoren in der Primarstufe 271 Hypothese 1 Ein hohes akademisches Selbstkonzept führt bei Lernenden aus einkommensschwachen Familien im Vergleich zu Lernenden aus finanziell besser gestellten Elternhäusern zu einer höheren Lesekompetenz. Eine hohe Einschätzung der eigenen Fähigkeiten führt zu einer Persistenz des Lernprozesses auch bei auftretenden Schwierigkeiten, die bei Lernenden aus finanzschwachen Elternhäusern in der Schule häufiger zu erwarten sind. Hypothese 2 Lernende aus niedrigen sozialen Schichten, die über hohe kognitive Grundfähigkeiten verfügen, profitieren stärker davon als Lernende aus höheren sozialen Schichten. Wegen der geringeren vorschulischen Erfahrung im Umgang mit Lernaufgaben, wie sie in der Schule anzutreffen sind, ist das schulische Lernen für Kinder aus niedrigeren sozialen Schichten mit größerer Unsicherheit behaftet. Höhere kognitive Grundfähigkeiten wirken sich bei ihnen daher stärker auf die Kompetenzentwicklung aus als bei Kindern aus sozial besser gestellten Familien, da sie sich in größerem Umfang an neuartige Situationen anpassen müssen. Hypothese 3 Elterliches Unterstützungsverhalten beim Lesenlernen sowie gemeinsame kulturelle Aktivitäten wirken sich bei Lernenden aus niedrigen sozialen Schichten positiver auf die Entwicklung der Lesekompetenz aus als bei Lernenden aus höheren Sozialschichten. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass es nicht die soziale Stellung der Familie per se, sondern eher der damit verbundene Habitus ist, der zu niedrigeren Kompetenzständen führt. Durch eine gezielte Förderung des Lernprozesses durch die Eltern können Kinder und Jugendliche aus niedrigen Sozialschichten, die ansonsten nicht über eine lernförderliche Umgebung verfügen, dennoch hohe Kompetenzen im Lesen erreichen. Hypothese 4 Sowohl sozioökonomisch ungünstig zusammengesetzte als auch Klassen mit hohem Migrantenanteil wirken sich nachteilig auf die Lesekompetenz von Lernenden aus. Dies gilt für Schülerinnen und Schüler aus niedrigen Sozialschichten in größerem Maße, da kaum familiäre Ressourcen vorhanden sind, um im Unterricht fehlende Lerninhalte aufzuholen, während Lernende aus höheren Sozialschichten keine Benachteiligung erfahren. Klassen mit einem hohen Niveau an kognitiven Grundfähigkeiten und einer hohen Lesekompetenz hingegen wirken bei Lernenden aus niedrigen Sozialschichten protektiv, während sie wiederum bei Lernenden aus höheren Sozialschichten einen geringeren Einfluss auf die Kompetenz ausüben. Hier nehmen wir an, dass in hoch leistenden Klassen ein anregendes und lernförderliches Arbeitsklima vorherrscht, das sich positiv auf die Lesekompetenz Lernender aus unteren Sozialschichten auswirkt. Methode Stichprobe Als Datengrundlage für die vorliegende Studie diente die represäntative deutsche Stichprobe der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) aus dem Jahr 2001 (Bos et al., 2003) 1 . Dabei wurden 7633 Viertklässler in 393 Klassen in allen sechzehn Bundesländern untersucht. Die gewählte Stichprobe ist in Bezug auf die soziale Herkunft unselektiert und ermöglicht dadurch neben der Prüfung von Haupteffekten auch die Analyse vorhandener Interaktionseffekte, die den Kern dieser Studie darstellen. Instrumente Als abhängige Variable (AV) definierten wir die Lesekompetenz, die in IGLU 2001 anhand von zwei Kurztexten und dazugehörigen Testaufgaben erfasst 1 Unter Federführung von Prof. Dr. Wilfried Bos am IfS Dortmund; Datensatz wurde vom Forschungsdatenzentrum am Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (Humboldt-Universität zu Berlin) bereitgestellt. 272 Imke Groeneveld, Michel Knigge, Alexander Robitzsch wurde. Dabei wurden sowohl literarische als auch Sachtexte verwendet, zu denen Fragen im Multiple Choice bzw. freien Antwortformat bearbeitet wurden (Bos et al., 2005). Aus den Einzelantworten wurde dann mittels Skalierung nach der Item Response Theorie (Baker & Kim, 2004) ein Gesamtscore (in Form eines MLE) gebildet, den wir als AV verwendeten. Die kognitiven Grundfähigkeiten wurden anhand des verbalen Subtests Wortanalogien und des nonverbalen Subtests Figurenanalogien der revidierten Fassung des Kognitiven Fähigkeitstests 4 - 12+ nach Heller und Perleth (2000) erfasst. Damit werden die Konstrukte Reasoning und Verbal Comprehension aus Thurstones Intelligenzmodell der Primärfaktoren (Thurstone, 1938) erfasst. Beide Untertests wurden zu einem Gesamtscore verrechnet (Cronbachs-Alpha =.93). Das akademische Selbstkonzept der Schülerinnen und Schüler im Lesen wurde anhand von drei Items erhoben (Martin, Mullis & Kennedy, 2003) wie z. B. „Lesen fällt mir sehr leicht“ (Cronbachs- Alpha = .61) mit den Antwortmöglichkeiten „stimme stark zu“ (1); „stimme einigermaßen zu“ (2); „stimme kaum zu“ (3) und „stimme überhaupt nicht zu“ (4). Die Antworten wurden so umkodiert, dass ein hoher Wert einem hohen akademischen Selbstkonzept entspricht. Die elterliche Unterstützung wurde anhand der Frage „Wie häufig kommt es vor, dass Sie …? “ und sechs dazugehörenden Items wie z. B. „… ihrem Kind beim Vorlesen zuhören“ erhoben (Martin et al., 2003) (Cronbachs-Alpha = .74). Die dazugehörigen Antwortalternativen lauten: „jeden Tag oder fast jeden Tag“ (1); „einbis zweimal pro Woche“ (2); „einbis zweimal im Monat“ (3) und „nie oder fast nie“ (4). Die Antworten wurden wieder so umkodiert, dass ein hoher Wert einer hohen elterlichen Unterstützung entspricht. Anhand der Frage nach den gemeinsamen Aktivitäten innerhalb der Familie (vgl. Kunter et al., 2002) konnte ermittelt werden, wie häufig die Schülerinnen und Schüler mit ihren Eltern beispielsweise über Bücher oder Ähnliches sprechen (Antwortalternativen: „mehrmals in der Woche“ (1); „mehrmals im Monat“ (2); „etwa einmal im Monat“ (3) und „nie oder fast nie“ (4); Cronbachs- Alpha = .54). Auch hier wurden die Antworten so umkodiert, dass ein hoher Wert einer hohen Frequenz an gemeinsamen Aktivitäten entspricht. Aus den Angaben zum Beruf der Eltern (Elternfragebogen) wurde der intervallskalierte International Socio-Economic Index of Occupational Status nach Ganzeboom und Treiman (1996), kurz ISEI, für Mütter und Väter getrennt gebildet. In der vorliegenden Untersuchung wurde der jeweils höhere der beiden ISEI-Werte als Indikator für den sozioökonomischen Hintergrund des Kindes verwendet und wird im Folgenden als HISEI bezeichnet. Dabei stehen hohe Werte für einen hohen sozioökonomischen Status. Der Migrationsstatus wurde anhand der Angabe der Schülerinnen und Schüler ermittelt, ob Mutter und Vater in Deutschland geboren wurden. Daraus wurden dann die Dummyvariablen „Ein Elternteil im Ausland geboren“ und „Beide Elternteile im Ausland geboren“ gebildet. Die Referenzkategorie stellt die Gruppe derjenigen dar, bei denen kein Elternteil im Ausland geboren wurde. Die Zusammensetzung der Schülerschaft ermittelten wir klassenweise. Dazu wurden die mittlere Leseleistung (MLE), die mittleren kognitiven Grundfähigkeiten (KFT) sowie der mittlere sozioökonomische Status (HISEI) einer Klasse berechnet. Außerdem wurde der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund pro Klasse berechnet. Dabei wurde berücksichtigt, ob ein Elternteil oder aber beide Elternteile im Ausland geboren wurden. Statistische Analysen Da es sich beim vorliegenden Datensatz um eine Klumpenstichprobe mit hierarchischer Struktur handelt, bei der Schulen und Klassen anstatt Personen zufällig gezogen wurden, würde eine konventionelle Regressionsanalyse fehlerhafte Ergebnisse liefern (Raudenbush & Bryk, 2002). Die hierarchische Struktur der Daten wird dann nicht berücksichtigt und die Standardfehler werden systematisch unterschätzt, da Schülerinnen und Schüler einer Klasse/ Schule sich ähnlicher sind als zwischen Klassen bzw. Schulen. Die Anwendung einer Mehrebenenanalyse löst dieses Problem dadurch, dass hier die Gesamtvarianz in den beobachteten Merkmalen in eine Varianz zwischen und eine Varianz innerhalb der höheren Ebenen (in diesem Fall der Schulklassen) zerlegt wird. Auf diese Weise können nicht nur die Standardfehler korrekt geschätzt, sondern auch simultan Prädiktoren auf der Individualsowie Klassenebene berücksichtigt werden. Die durchgeführten Analysen wurden in Mplus (Muthén & Soziale Disparitäten und Schutzfaktoren in der Primarstufe 273 Muthén, 2007) als Zweiebenen-Modelle (Klasse und Person) spezifiziert. Außer dem Migrationsstatus und dem Geschlecht wurden alle unabhängigen Variablen auf der Individualebene sowie die Testleistung z-standardisiert (M = 0; SD = 1). Um Aussagen über die Schutzfaktoren in Abhängigkeit vom Sozialstatus machen zu können, wurden auf der Individualebene Interaktionsterme zwischen allen Einzelprädiktoren und dem Sozialstatus (HISEI) berechnet (Cohen, Cohen, West & Aiken, 2003). Zur Verhinderung essenzieller Multikollinearität wurden der HISEI und der jeweilige Prädiktor vor der Bildung des Interaktionsterms zentriert. So wurde beispielsweise die Interaktion KFT*HISEI gebildet, um den Einfluss der kognitiven Grundfähigkeiten in Abhängigkeit vom Sozialstatus auf die Lesekompetenz zu ermitteln. Zusätzlich nahmen wir die Prädiktoren KFT und HISEI einzeln in die Analysen mit auf, um Haupteffekte abschätzen zu können. Analog wurden auf der Klassenebene Modelle geschätzt, in denen die Variation der Enge des Zusammenhangs zwischen HISEI und der Lesekompetenz über die Klassen hinweg durch Prädiktoren auf der Klassenebene erklärt werden sollte (Random Slope Modelle) (Raudenbush & Bryk, 2002). Umgang mit fehlenden Werten In der vorliegenden Studie wurden fehlende Werte mit dem Programm MICE (Multivariate Imputation by Chained Equations) in R (R Development Core Team, 2009) multipel imputiert (Van Buuren & Oudshoorn, 2009). MICE berücksichtigt die geschachtelte Datenstruktur und schätzt in multiplen Imputationen mehrere vollständige Datensätze. Neben der Überlegenheit dieses Verfahrens gegenüber anderen Methoden beim Umgang mit fehlenden Werten (Lüdtke et al., 2007) haben wir das Programm MICE auch dazu genutzt, um die zu untersuchenden Interaktionen zwischen den Variablen im Imputationsprozess zu berücksichtigen. Nach Prüfung von Konvergenz im MICE-Algorithmus generierten wir 10 vollständige Datensätze, die in den Mehrebenenanalysen verwendet und zu einem Gesamtergebnis verrechnet wurden (Rubin, 1987). Die deskriptiven Statistiken sowie die Interkorrelationen der einzelnen Untersuchungsvariablen wurden anhand des Ursprungsdatensatzes mit paarweiser Löschung bestimmt. N M SD ICC 1 2 3 4 5 6 7 8 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Lesekompetenz # Sozioökonomischer Status (HISEI) Geschlecht Ein Elternteil im Ausland geboren Beide Elternteile im Ausland geboren Kognitive Grundfähigkeiten (KFT) Selbstkonzept im Lesen Unterstützungsverhalten der Eltern Gemeinsame Aktivitäten Eltern & Kind 7614 5624 7631 6799 6799 7595 7492 6668 6109 504.56 48.70 0.50 0.08 0.14 48.47 3.00 2.57 4.01 97.35 16.19 0.50 0.27 0.35 7.91 0.76 0.62 0.79 .141 .099 .001 .031 .199 .111 .030 .018 .013 .291** .085** -.068** -.247** .491** .311** -.098** .098** -.025 -.016 -.184** .218** .141** -.038** .035* -.002 -.011 .079** .071** .022 .039** -.120** -.062** -.035** .023 -.007 -.168** -.067** .045** .031* .175** -.105** .030* -.009 .026* .128** Tabelle 1: Deskriptive Befunde: Mittelwerte, Standardabweichungen, Intraklassenkorrelationen und Korrelationen Anmerkungen: ** Korrelationen sind statistisch signifikant bei p < .01; * Korrelationen sind statistisch signifikant bei p < .05; # MLE mit abweichender Skalierung von der Internationalen Stichprobe 274 Imke Groeneveld, Michel Knigge, Alexander Robitzsch Ergebnisse Deskriptive Befunde In Tabelle 1 werden die Mittelwerte, Standardabweichungen sowie die Interkorrelationen zwischen den verwendeten Untersuchungsvariablen berichtet. Erwartungsgemäß zeigte sich ein hoher Zusammenhang zwischen der Lesekompetenz und den kognitiven Grundfähigkeiten (r = .491). Mittlere Zusammenhänge ließen sich zwischen dem HISEI und der Leseleistung (r = .291) sowie dem akademischen Selbstkonzept und der Lesekompetenz (r = .311) Individualebene b (SE) Sozioökonomischer Status (HISEI) Geschlecht Ein Elternteil im Ausland geboren Beide Elternteile im Ausland geboren Kognitive Grundfähigkeiten (KFT) Interaktion HISEI und KFT Akademisches Selbstkonzept im Lesen Interaktion HISEI und Selbstkonzept Lesen Unterstützung durch die Eltern Interaktion Unterstützung durch Eltern und HISEI Gemeinsame Aktivitäten Eltern und Kind Interaktion HISEI und Aktivitäten Eltern/ Kind R 2 Individualebene .343 (.100)** .095 (.018)*** -.132 (.044)** -.266 (.034)*** .438 (.035)*** -.217 (.077)** .280 (.033)*** -.122 (.056)* -.100 (.032)** .078 (.051) .077 (.035)* .019 (.072) .32 Klassenebene (Haupteffekte) Anteil an Schülern mit einem Elternteil im Ausland geboren Anteil an Schülern mit zwei Elternteilen im Ausland geboren Mittlerer sozioökonomischer Status Mittlere kognitive Grundfähigkeiten .004 (.018) -.024 (.021) .122 (.017)*** .209 (.017)*** Klassenebene (Random Slopes) # Anteil an Schülern mit einem Elternteil im Ausland geboren Anteil an Schülern mit zwei Elternteilen im Ausland geboren Mittlerer sozioökonomischer Status Mittlere kognitive Grundfähigkeiten R 2 Intercept Klassenebene R 2 Random Slope SES Klassenebene .032 (.013)* .006 (.015) -.019 (.012) -.012 (.014) .69 .20 Residuale Kovarianz von Gradient (Slope) und mittlerer Leseleistung (Intercept) Slope und Lesekompetenz -.010** (.003) Anmerkungen: Alle Ergebnisse basieren auf Mplus Berechnungen, bei denen 10 imputierte Datensätze verwendet wurden, N = 7633; b, Mplus Regressionsgewicht; SE, Standard Fehler von b; R 2 , Anteil erklärter Varianz. *** p < .001, ** p < .01, * p < .05. Berechnungen wurden als Type = Twolevel Random durchgeführt. # Variation des Zusammenhangs zwischen Lesekompetenz und HISEI über Klassen hinweg Tabelle 2: Befunde der Mehrebenenanalysen zur Vorhersage der Leseleistung finden. Ein weiterer Zusammenhang mittlerer Größe zeigte sich zwischen dem Migrationsstatus und der Leseleistung. Der Zusammenhang war negativ und lag bei r = -.247, wenn beide Elternteile im Ausland geboren wurden. Des Weiteren zeigte sich eine Korrelation zwischen dem HISEI und den kognitiven Grundfähigkeiten in moderater Größe (r = .218). Regressionsmodelle Wie oben beschrieben spezifizierten wir Mehrebenenregressionsmodelle mit Interaktionseffekten auf der Individual- und auf der Soziale Disparitäten und Schutzfaktoren in der Primarstufe 275 Klassenebene, um die Wirkung möglicher Schutzfaktoren auf den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Lesekompetenz zu untersuchen. Die Ergebnisse, die im Folgenden dargestellt werden, sind Tabelle 2 zu entnehmen. Wie erwartet, zeigte das akademische Selbstkonzept eine statistisch signifikante Interaktion mit dem HISEI (b = -0.122). Ebenfalls erwartungskonform war die statistisch signifikante Interaktion zwischen dem KFT und dem HISEI (b = -0.217). Diese Befunde zeigen, dass das akademische Selbstkonzept und die kognitive Grundfähigkeit einen nach Sozialschichtzugehörigkeit unterschiedlichen Zusammenhang mit der Lesekompetenz haben. In Abbildung 1 ist zu sehen, dass die Lesekompetenz bei Schülerinnen und Schülern mit einer hohen Ausprägung des akademischen Selbstkonzeptes weniger von der sozialen Herkunft abhängt als bei Lernenden mit einem niedrigen akademischen Selbstkonzept. Anders ausgedrückt zeigt das Viertel der Lernenden aus den untersten Sozialschichten einen durchgehenden Anstieg der Kompetenz bei Zunahme des akademischen Selbstkonzeptes, während dies für die anderen sozialen Schichten nicht zutrifft. Dies kann als Hinweis gewertet werden, dass Kinder aus niedrigen sozialen Schichten stärker von einem positiven Selbstkonzept profitieren als Gleichaltrige aus privilegierten Elternhäusern. In Abbildung 2 wird der Interaktionseffekt KFT*HISEI grafisch veranschaulicht. Die statistisch signifikante Interaktion wird hier dadurch qualifiziert, dass Kompetenzunterschiede zwischen den sozialen Gruppen bei Schülerinnen und Schülern mit hohen kognitiven Grundfähigkeiten weniger stark ausgeprägt sind. Anders ausgedrückt variiert die Lesekompetenz zwischen unterschiedlich intelligenten Kindern bei sozial schwachen Lernenden stärker. Zusätzlich zeigt sich beim niedrigsten Quartil des HISEI der steilste Anstieg der Leistung bei zunehmenden kognitiven Grundfähigkeiten. Schülerinnen und Schüler aus niedrigen Sozialschichten, die über hohe kognitive Fähigkeiten verfügen, sind demnach weniger durch ihre soziale Herkunft benachteiligt als Schülerinnen und Schüler mit vergleichbarem Sozialstatus und niedrigen kognitiven Fähigkeiten. Abbildung 1: Interaktionseffekt des Akademischen Selbstkonzeptes im Lesen auf den Zusammenhang zwischen Sozialstatus und individueller Lesekompetenz 600,00 575,00 550,00 525,00 500,00 475,00 450,00 425,00 400,00 individuelle Lesekompetenz 1. Quartil 2. Quartil 3. Quartil 4. Quartil Selbstkonzept (Gruppiert) 1. Quartil 3. Quartil 2. Quartil 4. Quartil HISEI (Gruppiert) Interaktion HISEI und akademisches Selbstkonzept Abbildung 2: Interaktionseffekt der individuellen kognitiven Grundfähigkeiten auf den Zusammenhang zwischen Sozialstatus und individueller Lesekompetenz 600,00 575,00 550,00 525,00 500,00 475,00 450,00 425,00 400,00 individuelle Lesekompetenz 1. Quartil 2. Quartil 3. Quartil 4. Quartil Kognitive Grundfähigkeiten (Gruppiert) 1. Quartil 3. Quartil 2. Quartil 4. Quartil HISEI (Gruppiert) Interaktion HISEI und Kognitive Grundfähigkeiten 276 Imke Groeneveld, Michel Knigge, Alexander Robitzsch Entgegen unserer Annahmen zeigten die familiären Prädiktoren „Unterstützung beim Lesenlernen“ sowie „Gemeinsame kulturelle Aktivitäten“ keinen Effekt (b = 0.078, n.s.; b = 0.019, n.s.) auf den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz. Um den Einfluss von Klassenmerkmalen auf den Zusammenhang zwischen Sozialstatus und Lesekompetenz zu schätzen, nutzten wir Random-Slope-Modelle. Wir spezifizierten den Zusammenhang zwischen Lesekompetenz und HISEI sowohl auf Individualals auch auf Klassenebene. Zusätzlich setzten wir die aggregierten Merkmale auf Klassenebene als Prädiktoren für die Enge des Zusammenhangs zwischen Lesekompetenz und HISEI über die Klassen hinweg ein. Zur Schätzung des Einflusses der mittleren Lesekompetenz der Klasse auf den Zusammenhang von HISEI und Lesekompetenz nahmen wir dabei keine klassische Random- Slope-Modellierung vor, um die Gefahr eines Zirkelschlusses bei gleichzeitiger Verwendung der Lesekompetenz als abhängige und unabhängige Variable zu vermeiden. Dieser Effekt wurde als separate Schätzung der Kovarianz von dem Zusammenhang der Lesekompetenz mit dem HISEI und der mittleren Lesekompetenz der Klasse operationalisiert. Mit beiden Methoden wird der Einfluss von Kontextmerkmalen auf die Enge des Zusammenhangs zwischen individueller Lesekompetenz und sozialer Herkunft über die Klassen hinweg geschätzt. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Steigerung der mittleren Lesekompetenz einer Klasse mit einer Verringerung des Zusammenhangs zwischen sozialer Herkunft und individueller Lesekompetenz einhergeht (-0.010). In Abbildung 3 wird dieser Effekt grafisch verdeutlicht. Lernende aus niedrigen sozialen Schichten haben einen geringeren Abstand in der Lesekompetenz zu sozial besser gestellten Peers, wenn sie Klassen mit einem hohen Kompetenzniveau besuchen. Des Weiteren zeigte sich der Anteil an Lernenden, bei denen ein Elternteil im Ausland geboren wurde, als statistisch signifikant (b=.032). Dies kann als ein zusätzlicher Risikofaktor für Schülerinnen und Schüler aus sozial niedrigeren Schichten gesehen werden, da mit einem zunehmenden Anteil an Lernenden mit Migrationshintergrund in einer Klasse der Zusammenhang zwischen Sozialstatus und Lesekompetenz steigt (siehe Abbildung 4). Abbildung 3: Random Slope auf den Zusammenhang zwischen Sozialstatus und individueller Lesekompetenz 600,00 575,00 550,00 525,00 500,00 475,00 450,00 425,00 400,00 individuelle Lesekompetenz 1. Quartil 2. Quartil 3. Quartil 4. Quartil Mittlere Lesekompetenz (Gruppiert) 1. Quartil 3. Quartil 2. Quartil 4. Quartil HISEI (Gruppiert) Interaktion HISEI und mittlere Lesekompetenz Abbildung 4: Random Slope auf den Zusammenhang zwischen Sozialstatus und „Anteil an Eltern im Ausland geboren“ 600,00 575,00 550,00 525,00 500,00 475,00 450,00 425,00 400,00 individuelle Lesekompetenz 1. Quartil 2. Quartil 3. Quartil 4. Quartil Anteil „Ein Elternteil im Ausland geboren“ (Gruppiert) 1. Quartil 3. Quartil 2. Quartil 4. Quartil HISEI (Gruppiert) Interaktion HISEI und Anteil „Ein Elternteil im Ausland geboren“ Soziale Disparitäten und Schutzfaktoren in der Primarstufe 277 Diskussion In der vorliegenden Studie wurden Faktoren untersucht, die den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz bei Viertklässlern moderieren bzw. verringern können. Unter Verwendung der IGLU 2001-Stichprobe wurde der Frage nachgegangen, welche Schutzfaktoren speziell bei Lernenden aus niedrigen Sozialschichten wirksam werden. Ein Schutzfaktor zeichnet sich nach unserem Verständnis dadurch aus, dass bei Vorhandensein des entsprechenden Faktors negative Herkunftseffekte weniger stark wirksam werden. Entsprechend glauben wir, dass die Identifikation solcher moderierenden Schutzfaktoren nützlich sein kann, um Schülerinnen und Schüler aus niedrigen sozialen Schichten beim Erwerb einer hohen Lesekompetenz zu unterstützen. Hypothesenkonform zeigte sich das akademische Selbstkonzept als ein wirksamer individueller Schutzfaktor. Schülerinnen und Schüler aus niedrigen Sozialschichten profitieren anscheinend stärker von dieser motivationalen Komponente als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler aus höheren Sozialschichten. Wir nehmen an, dass die positive Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten hilft, den Lernprozess auch bei auftretenden Schwierigkeiten, beispielsweise in der häuslichen Umgebung, weiter fortzuführen (Helmke & Weinert, 1997). Für Lernende aus privilegierten Familien scheint ein hohes Selbstvertrauen hingegen weniger essenziell zu sein. Sie finden durch ihre familiäre Herkunft bereits bessere Lernbedingungen und ein anregenderes Lernumfeld vor. Dadurch sind sie weniger schulischen Problemen ausgesetzt, bei denen Persistenz besonders wichtig ist, sodass auch bei geringer subjektiver Erfolgserwartung gute Leistungen erzielt werden können. Des Weiteren stellten sich hohe kognitive Grundfähigkeiten hypothesenkonform als protektiver Faktor dar. Dies äußerte sich in einem weniger stark ausgeprägten Zusammenhang zwischen Sozialstatus und Lesekompetenz bei denjenigen Kindern, die über hohe kognitive Fähigkeiten verfügen (siehe Abbildung 1). Während Kinder aus Familien mit hohem Sozialstatus durch ihre bildungsnahe Sozialisation meist günstigere Bedingungen zum Kompetenzerwerb schon in die Schule mitbringen, können hohe kognitive Grundfähigkeiten für sozial benachteiligte Kinder eine wichtige Eigenschaft sein, um fehlende habituelle Bildungsaffinität zu kompensieren. Sie profitieren von einer schnellen Auffassungsgabe und der Eigenschaft, Informationen sinnvoll verknüpfen zu können, auch und gerade wenn diese aufgrund ihres fehlenden kulturellen Wissens völlig neu und unbekannt sind. Somit fällt sozial benachteiligten Kindern mit höheren kognitiven Grundfähigkeiten die Anpassung an den schulischen Alltag leichter als sozial benachteiligten Kindern mit weniger gut ausgebildeten kognitiven Fähigkeiten. Dass kognitive Grundfähigkeiten sich prinzipiell positiv auf die Kompetenzentwicklung auswirken, ist trivial. Das Bemerkenswerte an unserem Befund ist jedoch, dass er zeigt, dass kognitive Grundfähigkeiten für Lernende aus niedrigen sozialen Schichten bedeutsamer sind als für Schülerinnen und Schüler aus besser gestellten Elternhäusern. Es bleibt jedoch offen, inwiefern eine gezielte Förderung der kognitiven Fähigkeiten zu einer Verringerung sozialer Disparitäten beitragen kann. Dieser Frage müsste in weiteren Untersuchungen nachgegangen werden, in denen gezielt fluide von kristallinen Intelligenzkomponenten zu trennen wäre. Schließlich wird angenommen, dass primär die kristalline Intelligenz modifizierbar ist. Der KFT misst aber vor allem fluide Intelligenz, die als relativ stark genetisch determiniert und damit als wenig trainierbar gilt (Cattell, 1987). Die Klassenzusammensetzung zeigte sich ebenfalls als zentraler Faktor zur Reduzierung sozialer Disparitäten. Unsere Befunde deuten in die Richtung, dass in sehr leistungsstarken Klassen die Benachteiligung aufgrund eines niedrigen Sozialstatus geringer ausgeprägt ist. Es ist anzunehmen, dass in leistungsstarken Klassen ein positives Lernklima und eine gegenseitige Unterstützung durch die Lernenden vorherrschen, von denen diejenigen aus sozial niedrigeren Schichten besonders profitieren, da sie dort das fehlende habituelle Wissen besser 278 Imke Groeneveld, Michel Knigge, Alexander Robitzsch kompensieren können. Trotzdem bleiben Schülerinnen und Schüler aus sozial schwachen Schichten auch in hoch leistenden Klassen in ihrer Lesekompetenz deutlich unter den Leistungen der Mitschülerinnen und Mitschüler aus höheren sozialen Schichten zurück. Eine systematische Mischung der Schülerschaft könnte angezeigt sein, wenn dadurch eine Benachteiligung sozial schlechter gestellter Schülerinnen und Schüler vermieden werden kann. Allerdings bedarf es noch weiterer Studien zur Absicherung der hier vorgelegten Befunde. Derartige Versuche wurden bereits in den USA vorgenommen und in verschiedenen Studien untersucht (Ikpa, 2003). Allerdings zeigen die Ergebnisse keine eindeutig positiven Effekte. Als ein zusätzlicher Risikofaktor ist ein hoher Anteil an Lernenden pro Klasse anzusehen, bei denen ein Elternteil im Ausland geboren wurde. Hier zeigte sich, dass Lernende aus unteren Sozialschichten in derartigen Klassen niedrigere Kompetenzen erzielen, während Schülerinnen und Schüler aus höheren Sozialschichten sogar davon profitieren und höhere Kompetenzen zeigen. Wie der genaue Wirkmechanismus dabei ist, kann hier nicht abschließend bestimmt werden. In zukünftigen Studien, die sich diesem Thema widmen, könnte eine Aufschlüsselung nach Herkunftsländern zu weiteren Erkenntnissen führen. Eine Einschränkung bei der Interpretation der vorliegenden Befunde stellt vor allem die querschnittliche Datenbasis dar. So sind Kausalschlüsse empirisch nicht zulässig. Die gefundenen Zusammenhänge müssen demnach nicht zwingend kausal sein und können z. B. durch nicht berücksichtigte Variablen bedingt sein. Was den nicht signifikanten Moderationseffekt der elterlichen Unterstützung angeht, so könnte dieser möglicherweise an der Operationalisierung festzumachen sein, da die im Fragebogen verwendeten Items nicht die Qualität des Verhaltens, sondern lediglich die Häufigkeit messen. Es erscheint denkbar, dass die Qualität familiärer Unterstützungssysteme einen protektiven Faktor darstellt. Diese wurde hier aber nicht gemessen, sodass darüber keine Aussagen getroffen werden können. Zusammenfassend konnten wir jedoch zeigen, dass Grundschülerinnen und Grundschüler aus eher ungünstigen sozialen Verhältnissen von diesen dann weniger stark beeinträchtigt werden, wenn sie über ein höheres akademisches Selbstkonzept sowie höhere kognitive Grundfähigkeiten verfügen. Vor allem das akademische Selbstkonzept, gegebenenfalls aber auch die kognitiven Grundfähigkeiten, könnten beim Aufbau gezielter Förderungen von Schülerinnen und Schülern aus sozial schlechter gestellten Familien Berücksichtigung finden. Neben den von uns gezeigten Moderatoreffekten kommen immer die positiven Wirkungen im Sinne von Haupteffekten hinzu, sodass die Förderung dieser Merkmale grundsätzlich lohnenswert erscheint. Darüber hinaus scheinen leistungsstarke Klassen einen Moderatoreffekt zu bedingen. Ob dieser Effekt für Interventionen nutzbar ist, kann hier nicht abschließend geklärt werden. Insgesamt zeigt die vorliegende Untersuchung mehrere potenzielle Wege zur Verringerung sozialer Benachteiligung auf, denen weitere wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Literatur Baker, F. B. & Kim, S.-H. (2004). Item Response Theory: Parameter Estimation Techniques. New York: Dekker. Baumert, J., Klieme, E., Neubrand, M., Prenzel, M., Schiefele, U., Schneider, W. et al. 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