eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 58/4

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2011
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Der Reaktive-Proaktive-Aggression-Fragebogen für die fünfte bis zehnte Klasse (RPA 5-10): Faktorenstruktur und psychometrische Eigenschaften

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2011
Leif Beckers
Franz Petermann
Eine adäquate Behandlung von aggressiven Kindern und Jugendlichen erfordert die Unterscheidung spezifischer Subtypen. Eine bedeutsame Unterscheidung besteht zwischen reaktiver und proaktiver Aggression. Vorgestellt wird der neue deutschsprachige Reaktive-Proaktive-Aggression-Fragebogen für die fünfte bis zehnte Klasse (RPA 5 – 10). Der Fragebogen erfasst neben reaktiver und proaktiver Aggression unterschiedliche Facetten dieser beiden Subtypen: Wut- Aggression, defensive Aggressionsattribution, Ressourcen-Aneignung und Macht/Dominanz-Ausübung. Berichtet wird über die faktorielle Struktur und Item- und Skalenkennwerte des -Fragebogens, ermittelt anhand einer Stichprobe 10- bis 18-jähriger Schülerinnen und Schüler von Haupt- und Realschule sowie Gymnasium (N = 347). Die internen Konsistenzen der Aggressionsskalen schwanken zwischen a = .72 und .83. Ältere Kinder und Jugendliche zeigen eine höhere Ressourcen-Aneignung, Macht/Dominanz-Ausübung und Wut-Aggression als jüngere. Reaktive und proaktive Aggression sind bei Jungen ausgeprägter als bei Mädchen.
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2011, 58, 319 - 329 DOI 10.2378/ peu2011.art10d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel n Tests und Programme Der Reaktive-Proaktive-Aggression-Fragebogen für die fünfte bis zehnte Klasse (RPA 5 -10): Faktorenstruktur und psychometrische Eigenschaften Leif Beckers Franz Petermann Schulpsychologische Beratungsstelle Universität Bremen des Kreises Ostholstein The Reactive-Proactive-Aggression-Questionnaire for 5 -10 Graders (RPA 5 -10): Factorial Structure and Psychometric Properties Summary: An appropriate treatment of aggressive children and youth needs to consider specific subtypes. A meaningful differentiation exists between reactive and proactive aggression. In this study a newly developed questionnaire is presented, the Reactive-Proactive-Aggression-Questionnaire for 5 - 10 Graders (RPA 5 - 10). In addition to reactive and proactive aggression the questionnaire assesses different facets of the subtypes such as angry-aggression, defensive attribution of aggression, obtaining of resources and power/ domination-aggression. This study refers to the factorial structure and the itemand scale-parameters, based on a sample of 10 - 18 year-old students (N = 347). The internal consistencies of the aggression-scales range between a = .72 and .83. Older children and youth compared to younger ones show higher rates of obtaining of resources, power/ domination-aggression and angry-aggression. Boys compared to girls show higher rates of both reactive and proactive aggression. Keywords: Reactive aggression, proactive aggression, childhood and youth, questionnaire, psychometric properties Zusammenfassung: Eine adäquate Behandlung von aggressiven Kindern und Jugendlichen erfordert die Unterscheidung spezifischer Subtypen. Eine bedeutsame Unterscheidung besteht zwischen reaktiver und proaktiver Aggression. Vorgestellt wird der neue deutschsprachige Reaktive-Proaktive- Aggression-Fragebogen für die fünfte bis zehnte Klasse (RPA 5 - 10). Der Fragebogen erfasst neben reaktiver und proaktiver Aggression unterschiedliche Facetten dieser beiden Subtypen: Wut- Aggression, defensive Aggressionsattribution, Ressourcen-Aneignung und Macht/ Dominanz-Ausübung. Berichtet wird über die faktorielle Struktur und Item- und Skalenkennwerte des Fragebogens, ermittelt anhand einer Stichprobe 10bis 18-jähriger Schülerinnen und Schüler von Haupt- und Realschule sowie Gymnasium (N = 347). Die internen Konsistenzen der Aggressionsskalen schwanken zwischen a = .72 und .83. Ältere Kinder und Jugendliche zeigen eine höhere Ressourcen-Aneignung, Macht/ Dominanz-Ausübung und Wut-Aggression als jüngere. Reaktive und proaktive Aggression sind bei Jungen ausgeprägter als bei Mädchen. Schlüsselbegriffe: Reaktive Aggression, proaktive Aggression, Kindes- und Jugendalter, Fragebogen, psychometrische Eigenschaften Aggressionen im Kindes- und Jugendalter bilden eine vergleichsweise heterogene Verhaltensklasse. Aggressives Verhalten äußert sich in verschiedenen Erscheinungsformen und erfüllt unterschiedliche Funktionen (Petermann & Petermann, 2010). Die Bemühungen sind deshalb groß, Subtypen aggressiven Verhaltens zu identifizieren (siehe z. B. Vitiello & Stoff, 1997). Die Unterscheidung verschiedener Subtypen ist nicht nur für die Beschreibung und 320 Leif Beckers, Franz Petermann Erklärung aggressiven Verhaltens bedeutsam, sondern insbesondere für die Prognose und Intervention. Voraussetzung für eine angemessene Behandlung aggressiver Heranwachsender ist eine differenzierte Diagnostik. Eine in den letzten zwei Dekaden zunehmend bedeutsame Differenzierung aggressiven Verhaltens im Kindes- und Jugendalter besteht zwischen reaktiver und proaktiver Aggression (Dodge & Coie, 1987; zum Überblick siehe Kempes, Matthys, de Vries & van Engeland, 2005). Reaktive Aggression basiert konzeptionell auf der Frustrations-Aggressions-Hypothese (Berkowitz, 1993; Dollard et al., 1939) und ist eine vergeltende Defensivreaktion aufgrund einer wahrgenommenen Bedrohung, Provokation oder Frustration, begleitet von dem Erleben von Ärger (Crick & Dodge, 1996; Dodge & Coie, 1987). Die Wahrnehmung der Bedrohung und das Erleben von Ärger veranlassen das Individuum, sich aggressiv zu revanchieren. Ziel ist es, die wahrgenommene Bedrohung zu reduzieren, nicht das Erreichen eines internal generierten Zieles. Im Mittelpunkt der proaktiven Aggression steht nicht die Wahrnehmung einer Bedrohung und das Erleben von Ärger, sondern die Überzeugung, Aggression sei ein probates Mittel, spezifische antizipierte Ergebnisse zu erzielen (Crick & Dodge, 1996; Dodge & Coie, 1987). Proaktiver Aggression liegt das Konzept der sozialen Lerntheorie zu Grunde (Bandura, 1973, 1986). Demnach erfolgt Aggression absichtlich und zielgerichtet und wird durch Verstärkungsprozesse erworben und aufrechterhalten. Price und Dodge (1989) unterscheiden zwei Subtypen proaktiver Aggression: instrumentelle proaktive Aggression und schikanierende proaktive Aggression (Bullying). Instrumentelle proaktive Aggression ist darauf ausgerichtet, sich ein Objekt, Territorium oder Privileg anzueignen. Im Mittelpunkt schikanierender proaktiver Aggression steht das Einschüchtern und Dominieren anderer (vgl. auch Hartup, 1974). In sozialen Kontexten (z. B. der Schule) durchlaufen Kinder und Jugendliche vor der Ausübung spezifischen Verhaltens einen mehrstufigen kognitiven Prozess zur Verarbeitung sozialer Informationen. Der Verarbeitungsprozess umfasst die Stufen (1) Enkodierung und (2) Interpretation sozialer Informationen, (3) Zielklärung, (4) Reaktionsbildung, (5) Reaktionsbewertung und Reaktionsauswahl sowie (6) Verhaltensausführung (Crick & Dodge, 1994; Dodge & Schwartz, 1997). Dodge und seine Kollegen konnten zeigen, dass reaktiv und proaktiv aggressive Kinder verschiedene Defizite auf unterschiedlichen Stufen der sozialen Informationsverarbeitung aufweisen (Crick & Dodge, 1996; Dodge & Coie, 1987). So haben reaktiv aggressive Kinder Schwierigkeiten bei der Enkodierung und Interpretation sozialer Informationen. Sie neigen zu einer fehlerhaften Wahrnehmung von Handlungsintentionen (Dodge & Coie, 1987; Dodge et al., 1997) und der Zuschreibung feindlicher Absichten in mehrdeutigen Situationen (Crick & Dodge, 1996; Dodge & Coie, 1987; Schwartz et al., 1998). Proaktiv aggressive Kinder haben eher Defizite auf den unteren Stufen der sozialen Informationsverarbeitung. So verfolgen diese eher instrumentelle als beziehungsförderliche Ziele, bewerten aggressive Handlungen häufiger positiv (Crick & Dodge, 1996) und erwarten häufiger positive Ergebnisse nach aggressivem Verhalten als reaktiv aggressive Kinder (Crick & Dodge, 1996; Dodge et al., 1997; Schwartz et al., 1998). Die Mehrzahl der Studien zu reaktiver und proaktiver Aggression beschränkt sich bei der Auswahl ihrer Stichprobe auf Jungen. Systematische Geschlechtsunterschiede für reaktive und proaktive Aggression wurden bisher kaum überprüft. Eine Ausnahme ist die Studie von Connor, Steingard, Anderson und Melloni (2003), die über keine nennenswerten Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen für reaktive und proaktive Aggression in einer klinischen Stichprobe berichten. Jüngere Kinder scheinen häufiger reaktiv aggressiv als proaktiv aggressiv zu sein (Connor et al., 2004), was damit zusammenhängen könnte, dass jüngere Kinder in ihren Aggressionen noch unbeherrschter sind, während mit zunehmendem Der Reaktive-Proaktive-Aggression-Fragebogen 321 Alter Kinder ihr (aggressives) Verhalten stärker planen und mit Absicht handeln. Zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression liegen mehrere englischsprachige Fremd- und Selbstberichtsfragebögen vor (Brown, Atkins, Osborne & Milnamow, 1996; Dodge & Coie, 1987; Kempes et al., 2006; Little, Jones, Henrich & Hawley, 2003; Raine et al., 2006). Das am häufigsten eingesetzte Verfahren ist die Lehrer-Rating-Skala von Dodge und Coie (1987). Diese besteht aus insgesamt sechs Fragen, jeweils drei erfassen reaktive und proaktive Aggression. Die Autoren berichten über interne Konsistenzen von a = .90 für reaktive Aggression und a = .91 für proaktive Aggression. Inhaltlich kritisiert wurde der Fragebogen von Brown et al. (1996), die bemängelten, dass sich die Items zur Erfassung proaktiver Aggression ausschließlich auf das Dominieren anderer (Bullying) beziehen und nicht auf instrumentelle proaktive Aggression, etwa zur Aneignung begehrter Objekte. Brown et al. (1996) stellten ein eigenes Verfahren zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression vor, bei dem sie für die Skala zu proaktiver Aggression auch Fragen aufnahmen, die sich auf verdeckt-aggressives Verhalten wie Lügen oder Stehlen beziehen (vgl. auch Loeber & Schmaling, 1985). Jeweils fünf Items erfassen proaktive Aggression und verdeckt-aggressives Verhalten, sechs Fragen bilden die Skala für reaktive Aggression. Die Autoren berichten über interne Konsistenzen (Cronbachs a ) von .92 und .94 für reaktive und proaktive Aggression. Gelegentlich wurde die von Dodge und Coie (1987) entwickelte Lehrer-Rating-Skala auch zur Erfassung von Elternurteilen eingesetzt (z. B. Poulin & Boivin, 2000). Inzwischen liegt auch eine Eltern-Rating-Skala vor (Kempes et al., 2006). Die Parent-Rating Scale for Reactive and Proactive Aggression (RPPA) besteht aus insgesamt elf Items, sechs zur Erhebung reaktiver Aggression und fünf zur Erfassung proaktiver Aggression. Cronbachs a für die Skala Reaktive Aggression beträgt .91, die Skala Proaktive Aggression weist eine interne Konsistenz von a = .81 auf. Lange Zeit wurden reaktive und proaktive Aggression ausschließlich über Fremdeinschätzungen erhoben, inzwischen liegen auch zwei Selbstberichtsfragebögen vor (Little et al., 2003; Raine et al., 2006). Little et al. (2003) unterscheiden in ihrem Selbstberichtsfragebogen zwischen den Erscheinungsformen aggressiven Verhaltens (offene vs. relationale Aggression 1 ) und den Funktionen aggressiven Verhaltens (reaktive vs. proaktive Aggression). Auf der Basis der Instrumente von Dodge und Coie (1987) und Crick und Grotpeter (1995) entwickelten sie mehrere Skalen zur Erfassung der Formen und Funktionen aggressiven Verhaltens im Kindesalter. Die internen Konsistenzen der Skalen schwanken zwischen Cronbachs a von .62 bis 82. Der Selbstberichtsfragebogen für Jugendliche von Raine et al. (2006) besteht aus insgesamt 23 Items, zwölf Fragen erfassen proaktive, elf Fragen reaktive Aggression. Die Autoren berichten über interne Konsistenzen (Cronbachs a ) von .84, .86 und .90 für reaktive Aggression, proaktive Aggression und den Gesamt-Score. Moderne Programme zur Behandlung von aggressiven Kindern und Jugendlichen sind häufig modular aufgebaut und kombinieren unterschiedliche Behandlungsansätze (z. B. Bachmann et al., 2010; Nitkowski et al., 2009). Die Effektivität solcher Programme könnte gesteigert werden, wenn die Behandlung nicht für jeden Heranwachsenden gleich erfolgt, sondern je nach Indikationsstellung die Behandlungsansätze unterschiedlich gewichtet werden (siehe auch Gollwitzer et al., 2006). Um die Behandlungsprogramme für aggressive Kinder und Jugendliche den spezifischen Bedürfnissen anzupassen, sind reliable und valide Messinstrumente zur Erfassung spezifischer Subtypen aggressiven Verhaltens notwendig. Derzeit exis- 1 offene Aggression = verbales oder physisches Verhalten, mit der Absicht, einem Individuum direkt zu schaden; relationale Aggression = Handlungen, die darauf ausgerichtet sind, die sozialen Beziehungen oder das soziale Zugehörigkeitsgefühl eines Individuums in Mitleidenschaft zu ziehen (siehe auch Crick & Grotpeter, 1995). 322 Leif Beckers, Franz Petermann tiert kein deutschsprachiger Fragebogen zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression im Kindes- und Jugendalter. Die wenigen deutschsprachigen Studien, die über Ergebnisse in diesem Zusammenhang referieren, begnügen sich meist mit einer freien Übersetzung des Fragebogens von Dodge und Coie (1987; Wendell, 2005), einigen selbst entwickelten Items (Schlack et al., 2010) oder erheben reaktive und proaktive Aggression indirekt (Bliesener, Lösel & Averbeck, 1999). Mit dem vorliegenden Beitrag wird ein neuer deutschsprachiger Selbstberichtsfragebogen zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression vorgestellt: der Reaktive-Proaktive-Aggressionsfragebogen für die fünfte bis zehnte Klasse (RPA 5 - 10). Die Entwicklung des Fragebogens erfolgte auf Basis der theoretischen Grundannahmen von Dodge (Crick & Dodge, 1994, 1996; Dodge, 1991; Dodge & Coie, 1987). Von einer Übersetzung eines bereits bestehenden Verfahrens (Little et al., 2003; Raine et al., 2006) wurde abgesehen, da mit dem RPA 5 - 10 verschiedene Facetten reaktiver und proaktiver Aggression erfasst werden sollen, die bislang kaum oder gar nicht berücksichtigt wurden. Unterschieden werden zum einen zwei Facetten reaktiver Aggression: - aggressives Verhalten aufgrund von Wut- Gefühlen (Wut-Aggression) und - aggressives Verhalten verbunden mit einer defensiven Attribution der Aggression (defensive Aggressionsattribution). Zum anderen soll der Fragebogen auch zwei unterschiedliche Aspekte proaktiver Aggression erfassen: - aggressives Verhalten zum Zweck, sich begehrte Ressourcen anzueignen (Ressourcen- Aneignung) und - aggressives Verhalten, mit dem Ziel, Macht auszuüben bzw. andere zu dominieren (Macht/ Dominanz-Ausübung; vgl. auch Brown et al., 1996; Price & Dodge, 1989). Vorgestellt werden neben der faktoriellen Struktur und den psychometrischen Eigenschaften des neuen Fragebogens auch Ergebnisse zu Unterschieden zwischen reaktiver und proaktiver Aggression für verschiedene soziodemografische Variablen. Methoden Stichprobe An der Studie nahmen insgesamt N = 347 Schülerinnen und Schüler der fünften bis zehnten Klasse einer Hauptschule (n = 88), Realschule (n = 135) und eines Gymnasiums (n = 124) aus dem Kreis Aachen teil. Diese waren durchschnittlich 14,1 Jahre alt (Altersrange: 10,1 - 18,2 Jahre) und zu 53.6 % männlichen Geschlechts. 32.5 % der befragten Schülerinnen und Schüler wiesen einen ein- oder zweiseitigen Migrationshintergrund auf. Die Befragung erfolgte freiwillig zur regulären Unterrichtszeit im März 2008. Die Eltern gaben schriftlich ihr Einverständnis zur Befragung. Die Anonymität der Angaben wurde gewährleistet. Erhebungsverfahren Eingesetzt wurde eine 31-Item-Vorversion des RPA 5 - 10. Die Befragten mussten auf einer vierstufigen Antwortskala angeben, wie häufig sie das in der Frage formulierte Verhalten im vergangenen halben Jahr zeigten. Je nach Antwortverhalten wurden unterschiedliche Rohwertpunkte vergeben (nie = 0, selten = 1, häufiger = 2, oft = 3). Zusätzlich wurden Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund (Geburtsland von Vater und Mutter) erhoben. Ergebnisse Skalenstruktur In Anlehnung an Kruse und Petermann (2010) wurde eine vierfaktorielle Lösung mit mindestens vier Items pro Aggressionsfacette bei ausreichender Präzision angestrebt. Auf der Basis item- und skalenanalytischer Befunde (Reliabilitätsanalyse, Hauptkomponentenanalyse mit Promax-Rotation) wurden Items aufgrund geringer Trennschärfe (r it < .30), fehlender Einfachstruktur und ihrer inhaltlichen Passung sukzessive selegiert. Der Reaktive-Proaktive-Aggression-Fragebogen 323 Mit den verbliebenen 16 Items (siehe Tab. 1) wurde eine abschließende Hauptkomponentenanalyse mit Promax-Rotation durchgeführt. Ein Kaiser-Meyer-Olkin-Koeffizient von KMA = .85 und ein signifikanter Bartlett- Test auf Sphärizität (p < .001) verweisen auf eine ausreichend hohe Iteminterkorrelation. Bei Verwendung des Eigenwertkriteriums als Extraktionsmethode ergab sich eine vierfaktorielle Lösung. Die Ladungsstruktur entspricht Wut-Aggression (reaktive Aggression) rea6 rea9 rea10 rea14 Wie oft hast du einen Wutanfall bekommen? Wie oft hast du etwas kaputt gemacht, weil du so wütend warst? Wie oft bist du sehr wütend geworden, wenn dich jemand beschimpft hat? Wie oft hast du jemanden angeschrien, wenn er dich geärgert hat? Defensive Aggressionsattribution (reaktive Aggression) rea2 rea5 rea8 rea12 Wie oft bist du in einen Streit verwickelt worden, für den du nichts konntest? Wie oft hast du jemanden nur deshalb geschlagen, um dich zu verteidigen? Wie oft hast du dich geprügelt, wobei jemand anderes angefangen hat? Wie oft hast du dich geprügelt, obwohl du nicht wolltest? Ressourcen-Aneignung (proaktive Aggression) pro1 pro2 pro15 pro16 Wie oft hast du jemandem gedroht, damit er macht, was du wolltest? Wie oft hast du jemandem geschadet, um einen Vorteil zu erhalten? Wie oft hast du jemanden bedroht, um zu erreichen, was du wolltest? Wie oft hast du jemanden eingeschüchtert, damit er macht, was du wolltest? Macht/ Dominanz-Ausübung (proaktive Aggression) pro5 pro7 pro12 pro13 Wie oft hast du andere aufgefordert, jemanden zu ärgern? Wie oft hast du nur zum Spaß jemanden beschimpft? Wie oft hast du andere aufgefordert, jemandem etwas anzutun? Wie oft hast du nur zum Spaß jemanden geschlagen? Tabelle 1: Skalen und Items des RPA 5 - 10 Items Faktor 1 Faktor 2 Faktor 3 Faktor 4 h 2 rea6 rea9 rea10 rea14 rea2 rea5 rea8 rea12 pro1 pro2 pro15 pro16 pro5 pro7 pro12 pro13 .71 .60 .88 .81 .32 .61 .83 .56 .82 .85 .71 .64 .75 .45 .77 .82 .81 .65 .54 .55 .60 .34 .59 .67 .62 .58 .47 .68 .62 .59 .64 .57 .59 Eigenwerte 3.71 3.14 3.12 2.81 12.78 Tabelle 2: Faktorladungen, Eigenwerte und Kommunalitäten (h 2 ) der ersten Faktorenanalyse Anmerkungen: Als Faktorladungen angegeben sind die partiellen standardisierten Regressionsgewichte des Items mit den rotierten Faktoren (Mustermatrix). Es sind nur Faktorladungen > .30 aufgeführt. Aufgrund der obliquen Rotation sind Angaben zur Varianzaufklärung der einzelnen Faktoren nicht möglich. 324 Leif Beckers, Franz Petermann den inhaltlichen Vorannahmen (siehe Tab. 2). Die quadrierte Faktorladung jedes Items macht mindestens 50 % der Itemkommunalität aus (Kriterium nach Fürntratt, 1969). Demnach kann der erste Faktor als Ressourcen- Aneignung, der zweite Faktor als Macht/ Dominanz-Ausübung, der dritte Faktor als Wut-Aggression und der vierte Faktor als Defensive Aggressionsattribution interpretiert werden. Im Anschluss wurde eine weitere Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation) durchgeführt, die auf Extraktion von zwei Faktoren beschränkt wurde. Auch hier können nach dem Kriterium von Fürntratt (1969) die Items jenem Faktor zugeordnet werden, für den sie inhaltlich bestimmt waren. Die Ladungsstruktur der zweifaktoriellen Lösung entspricht den inhaltlichen Vorannahmen (siehe Tab. 3). Der erste Faktor Reaktive Aggression weist einen Eigenwert von 3.70 auf und erklärt 23.1 % Varianz, der zweite Faktor Proaktive Aggression verfügt über einen Eigenwert von 3.12 und weist eine Varianzaufklärung von 19.47 % auf. Die Mittelwerte und Standardabweichungen der Items variieren zwischen M = .22 - 1.59 sowie SD = .50 - .98. Die Trennschärfe-Koeffizienten für die Skala Reaktive Aggression schwanken zwischen .40 < r it < .56, für die Skala Proaktive Aggression beträgt der Tennschärfe- Range .48 < r it < .60. Zusammenhänge und interne Konsistenzen der Aggressionsskalen In Tabelle 4 sind die Zusammenhänge zwischen den Aggressionsskalen und die internen Konsistenzen (Cronbachs a ) aufgeführt. Jede Aggressionsskala korreliert signifikant positiv mit allen anderen Skalen. Auf der Ebene der Unterskalen weisen die Skalen für reaktive Aggression einerseits und für proaktive Aggression andererseits untereinander die größten Zusammenhänge auf. So korrelieren Wut-Aggression und Defensive Aggressionsattribution zu r = .40 und Ressourcen-Aneignung und Macht/ Dominanz-Ausübung zu r = .54. Die internen Konsistenzen der Aggressionsskalen schwanken zwischen a = .72 und .83 (siehe Tab. 4). Items Faktor 1 Faktor 2 h 2 M SD r it rea6 rea9 rea10 rea14 rea2 rea5 rea8 rea12 pro1 pro2 pro15 pro16 pro5 pro7 pro12 pro13 .70 .58 .65 .66 .73 .60 .71 .58 .52 .51 .66 .55 .51 .68 .72 .65 .31 .34 .47 .39 .30 .47 .52 .43 .51 .39 .46 .47 .54 .37 .51 .34 .92 .72 1.36 1.59 1.14 1.28 .76 .50 .33 .39 .25 .32 .44 1.16 .22 .59 .98 .85 .90 .95 .82 .97 .94 .80 .64 .65 .54 .60 .69 .98 .50 .76 .45 .47 .56 .51 .40 .48 .51 .44 .57 .51 .54 .54 .60 .50 .59 .48 Eigenwert Varianzaufklärung in % 3.70 23.09 3.12 19.47 6.82 42.56 Tabelle 3: Faktorladungen, Eigenwerte, prozentuale Varianzaufklärung und Kommunalitäten (h 2 ) der zweiten Faktorenanalyse sowie Mittelwerte (M), Standardabweichungen (SD) und Trennschärfen (r it ) Der Reaktive-Proaktive-Aggression-Fragebogen 325 Alters- und Geschlechtsunterschiede Um zu überprüfen, ob es Unterschiede im aggressiven Verhalten zwischen jüngeren und älteren Schülerinnen und Schülern gibt, wurden zwei Altersgruppen gebildet: Klasse fünf, sechs und sieben bilden die Gruppe der Jüngeren, Klasse acht, neun und zehn wurden zur Gruppe der Älteren zusammengefasst. Für Wut-Aggression konnte ein signifikanter Altersunterschied 2 festgestellt werden (t (df = 345) = 2.31, p = .021), aber nicht für die übrigen Skalen zu reaktiver Aggression (Defensive Aggressionsattribution, Reaktive Aggression; siehe Tab. 5). Für alle Skalen zu proaktiver Aggression und für die Gesamt-Aggression-Skala ergeben sich höchst signifikante Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren. Im Einzelnen bestehen bedeutsame Altersunterschiede für Ressourcen-Aneignung (t (df = 309) = 5.65, p < .001), Macht/ Dominanz-Ausübung (t (df = 344) = 3.69, p < .001), Proaktive Aggression (t (df=338) = 5.24, p < .001) und Gesamt-Aggression (t (df = 345) = 3.26, p = .001). Abgesehen von Wut-Aggression konnten für alle Aggressionsskalen bedeutsame Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen identifiziert werden (siehe Tab. 6). Höchst signifikante Geschlechtsunterschiede ergeben sich für Defensive Aggressionsattribution (t (df = 342) = 7.34, p < .001), Ressourcen-Aneignung (t (df=340) = 3.37, p = .001), Macht/ Dominanz-Ausübung (t (df = 343) = 3.65, p < .001), Proaktive Aggression (t (df = 343) = 4.02, p < .001) und Gesamt-Aggression (t (df = 345) = 4.16, p < .001). Signifikant unterscheiden sich Jungen und Mädchen auch hinsichtlich der Skala Reaktive Aggression (t (df = 345) = 3.11, p = .002). 2 Für alle statistischen Mittelwertsvergleiche wurde ein Signifikanzniveau von a = 5 % gewählt. Unterskala/ Skala WA DA RS MD RA PA GA a Wut-Aggression Defensive Aggressionsattribution Ressourcen-Aneignung Macht/ Dominanz-Ausübung Reaktive Aggression Proaktive Aggression Gesamt-Aggression 1 .40** .38** .32** .85** .40** .77** - 1 .30** .23** .82** .29** .70** - - 1 .54** .41** .85** .72** - - - 1 .33** .90** .69** - - - - 1 .42** .88** - - - - - 1 .80** - - - - - - 1 .75 .72 .76 .72 .78 .81 .83 Tabelle 4: Korrelationen und interne Konsistenzen (Cronbachs a ) der Aggressionsskalen Anmerkungen: N = 347; ** p < .01; WA = Wut-Aggression, DA = Defensive Aggressionsattribution, RS = Ressourcen- Aneignung, MD = Macht/ Dominanz-Ausübung, RA = Reaktive Aggression, PA = Proaktive Aggression, GA = Gesamt- Aggression. Skala Jüngere (n = 155) M (SD) Ältere (n = 192) M (SD) t (df) WA DA RS MD RA PA GA 4.20 (2.59) 3.79 (2.75) .72 (1.20) 1.94 (1.98) 7.99 (4.55) 2.66 (2.76) 10.65 (6.41) 4.89 (2.90) 3.58 (2.47) 1.75 (2.16) 2.80 (2.34) 8.47 (4.46) 4.55 (3.95) 13.02 (6.97) 2.31 (df = 345) * 0.77 (df = 345) 5.65 (df = 309) *** a 3.69 (df = 344) *** a 0.98 (df = 345) 5.24 (df = 338) *** a 3.26 (df = 345) *** Tabelle 5: Mittelwertsvergleiche für aggressives Verhalten zwischen jüngeren und älteren Kindern und Jugendlichen Anmerkungen: WA = Wut-Aggression, DA = Defensive Aggressionsattribution, RS = Ressourcen-Aneignung, MD = Macht/ Dominanz-Ausübung, RA = Reaktive Aggression, PA = Proaktive Aggression, GA = Gesamt-Aggression; * p < . 05, *** p ≤ .001; a Korrektur der Freiheitsgrade aufgrund ungleicher Varianzen. 326 Leif Beckers, Franz Petermann Unterschiede zwischen Schultypen In Tabelle 7 sind Mittelwerte und Standardabweichungen für aggressives Verhalten getrennt für Hauptschule, Realschule und Gymnasium aufgeführt. Eine einfaktorielle ANOVA ergab signifikante Gruppenunterschiede für die Skala Wut-Aggression (F (2, 344) = 3.51, p = .031) und Reaktive Aggression (F (2, 344) = 3.85, p = .022). Auf deskriptiver Ebene ist eine kontinuierliche Zunahme an aggressivem Verhalten von Gymnasium über Realschule zu Hauptschule für diese beiden Skalen erkennbar. Post-Hoc-Tests ergaben signifikante Unterschiede zwischen Gymnasium und Hauptschule sowohl für Wut-Aggression (Bonferroni 3 : p = .031) als auch für Reaktive Aggression (Tamhane 4 : p = .029). Es bestehen keine statistisch bedeutsamen Unterschiede für aggressives Verhalten zwischen den Gruppen mit (n = 112) und ohne (n = 233) Migrationshintergrund. Diskussion Die vorliegende Studie verfolgte das Ziel, einen deutschsprachigen Fragebogen zur Erfassung reaktiver und proaktiver Aggression für Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe fünf bis zehn zu konstruieren. Dabei sollten verschiedene Facetten reaktiver und proaktiver Aggression unterschieden werden: - Wut-Aggression (reaktive Aggression), - defensive Aggressionsattribution (reaktive Aggression), - Ressourcen-Aneignung (proaktive Aggression) und - Macht/ Dominanz-Ausübung (proaktive Aggression). 3 Trotz ungleicher Gruppengrößen wurde aufgrund der großen Stichprobe der Bonferroni-Post-Hoc-Test gewählt. 4 Verwendung des Tamhane-Post-Hoc-Tests aufgrund ungleicher Varianzen. Skala Jüngere (n = 186) M (SD) Ältere (n = 161) M (SD) t (df) WA DA RS MD RA PA GA 4.40 (2.58) 4.55 (2.67) 1.59 (2.05) 2.81 (2.40) 8.95 (4.49) 4.40 (3.84) 13.34 (6.81) 4.80 (3.00) 2.66 (2.11) .94 (1.56) 1.96 (1.91) 7.46 (4.39) 2.90 (3.10) 10.36 (6.49) 1.31 (df = 317) a 7.34 (df = 342) 3.37 (df = 340) *** a 3.65 (df = 343) *** a 3.11 (df = 345) ** 4.02 (df = 343) *** a 4.16 (df = 345) *** Tabelle 6: Mittelwertsvergleiche für aggressives Verhalten zwischen Jungen und Mädchen Anmerkungen: WA = Wut-Aggression, DA = Defensive Aggressionsattribution, RS = Ressourcen-Aneignung, MD = Macht/ Dominanz-Ausübung, RA = Reaktive Aggression, PA = Proaktive Aggression, GA = Gesamt-Aggression; ** p < .01, *** p ≤ .001; a Korrektur der Freiheitsgrade aufgrund ungleicher Varianzen. Skala Hauptschule (n = 88) M (SD) Realschule (n = 135) M (SD) Gymnasium (n = 124) M (SD) F (2, 344) WA DA RS MD RA PA GA 5.09 (3.17) 4.24 (3.01) 1.44 (2.20) 2.70 (2.38) 9.33 (5.12) 4.15 (4.01) 13.48 (7.51) 4.70 (2.67) 3.44 (2.60) 1.13 (1.71) 2.32 (2.05) 8.14 (4.40) 3.45 (3.21) 11.59 (6.71) 4.10 (2.56) 3.52 (2.21) 1.35 (1.77) 2.31 (2.28) 7.62 (4.02) 3.66 (3.65) 11.28 (6.28) 3.51* 2.85 0.83 1.00 3.85* 1.02 3.02 Tabelle 7: Mittelwertsvergleiche für aggressives Verhalten zwischen Schultypen Anmerkungen: WA = Wut-Aggression, DA = Defensive Aggressionsattribution, RS = Ressourcen-Aneignung, MD = Macht/ Dominanz-Ausübung, RA = Reaktive Aggression, PA = Proaktive Aggression, GA = Gesamt-Aggression; * p < .05. Der Reaktive-Proaktive-Aggression-Fragebogen 327 Die für die Konstruktion des Fragebogens durchgeführten Faktorenanalysen sprechen für die Unterscheidung zwischen reaktiver und proaktiver Aggression und ihre unterschiedlichen Facetten. Aufgrund des explorativen Charakters der Studie und um eine artifizielle Struktur auszuschließen, ist eine Replikation der gefundenen Faktorenstruktur im Rahmen einer konfirmatorischen Faktorenanalyse anhand einer neuen Stichprobe erforderlich. Erste Validierungsbefunde sprechen für die Unterscheidung der unterschiedlichen Facetten reaktiver und proaktiver Aggression (siehe Kruse & Petermann, 2010). Alle Skalen weisen untereinander signifikante Zusammenhänge auf. Dieses Ergebnis war vorherzusehen, da die Skalen unterschiedliche Aspekte desselben Persönlichkeitsmerkmals erfassen. Bedeutsamer ist das Muster der Zusammenhänge: so weisen die Skalen für reaktive Aggression untereinander höhere Zusammenhänge auf, als mit den Skalen für proaktive Aggression und umgekehrt, was für die konvergente und divergente Validität der Unterskalen spricht. Dieser Validitätshinweis darf jedoch nur vorsichtig interpretiert werden, da neu entwickelte und unvalidierte Fragebogenskalen nicht an sich selbst validiert werden sollten. Notwendig sind weitere Studien zur Überprüfung der Validität der Skalen, insbesondere eine Validierung anhand des Modells zur sozialen Informationsverarbeitung (Crick & Dodge, 1996). Die Items weisen überwiegend geringe Mittelwerte und Standardabweichungen auf. Aufgrund der hohen Schwierigkeiten, insbesondere der Items zu proaktiver Aggression, sollten die Itemkennwerte an einer klinischen Stichprobe überprüft werden. Zugleich bietet sich ein Vergleich zwischen einer auffälligen und unauffälligen Stichprobe an, um Aussagen über die differentielle Validität treffen zu können. Jüngere und ältere Kinder und Jugendliche unterscheiden sich nicht hinsichtlich reaktiver Aggression. Bei Betrachtung unterschiedlicher Facetten für reaktive Aggression ist Wut-Aggression bei älteren Kindern und Jugendlichen ausgeprägter als bei jüngeren. Zwar konnte konträr zu Connor et al. (2004) nicht bestätigt werden, dass jüngere Kinder angeben, häufiger reaktiv als proaktiv aggressiv zu sein, allerdings bezog die Studie von Connor und Kollegen auch wesentlich jüngere Kinder mit ein (Altersdurchschnitt: 12,7 Jahre; Altersrange: 5 - 18 Jahre). Ältere Kinder und Jugendliche geben zudem an, sich häufiger proaktiv aggressiv zu verhalten als jüngere. So würden diese häufiger aggressives Verhalten einsetzen, um an begehrte Ressourcen zu gelangen und um Macht auszuüben und seien insgesamt aggressiver als jüngere Kinder und Jugendliche. Die Ergebnisse stützen die Annahme, dass Kinder mit zunehmendem Alter ihr (aggressives) Verhalten stärker planen und mit Absicht handeln (vgl. auch Connor et al., 2004). Nur wenige Studien haben bisher systematisch untersucht, ob sich Jungen und Mädchen hinsichtlich reaktiver und proaktiver Aggression unterscheiden. Anders als bei Connor et al. (2003) konnten bedeutsame Geschlechtsunterschiede gefunden werden. So neigen Jungen mehr dazu als Mädchen, eigenes aggressives Verhalten defensiv zu attribuieren. Jungen geben an, sich häufiger als Mädchen aggressiv Ressourcen anzueignen und häufiger aggressives Verhalten einzusetzen, um andere zu dominieren. Sowohl reaktive und proaktive Aggression als auch Aggression insgesamt sind ausgeprägter bei Jungen als bei Mädchen. Schülerinnen und Schüler der Hauptschule geben an, sich häufiger reaktiv aggressiv zu verhalten als Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums. Insbesondere verfügen diese über eine ausgeprägte Wut-Aggression. In der Tendenz geben Kinder und Jugendliche der Hauptschule im Vergleich zu Schülerinnen und Schülern von Realschule und Gymnasium an, aggressiver hinsichtlich aller in dieser Studie unterschiedenen Aggressionsfacetten zu sein. Die Ergebnisse reihen sich ein in zahlreiche Befunde zu aggressivem Verhalten an deutschen Schulen, wonach aggressives Verhalten an der Hauptschule häufiger auftritt als an Realschule und Gymnasium (siehe z. B. Lösel, Bliesener & Aver- 328 Leif Beckers, Franz Petermann beck, 1997; Tillmann et al., 1999). Wie bei Lösel et al. (1997) sind die Effekte aber nicht so stark ausgeprägt, so dass nur Vergleiche zwischen Hauptschule und Gymnasium signifikant ausfallen. Interessant ist, dass die signifikanten Unterschiede zwischen Hauptschule und Gymnasium nur für reaktive Aggression bzw. Wut- Aggression bestehen. Dies könnte dafür sprechen, dass milieuspezifische Merkmale von Hauptschülerinnen und Schülern wie z. B. defizitäre Emotionsregulationsstrategien für die Unterschiede eine bedeutsame Rolle spielen. Um für reaktiv und proaktiv aggressive Kinder verschiedene Behandlungsstrategien abzuleiten, ist eine reliable Unterscheidung der beiden Subtypen wichtig. Frühere Studien zeigten Korrelationen der beiden Aggressionstypen zwischen r = -.10 und .89, mit höheren Korrelationen für Fragebogenstudien als z. B. für Beobachtungsstudien (Polman et al., 2007). Auch in der vorliegenden Studie wurde ein relativ hoher Zusammenhang zwischen reaktiver und proaktiver Aggression gefunden (r = .42). Aktuelle Studien konnten aber zeigen, dass eine unabhängige Betrachtung der Formen (offene vs. relationale Aggression) und Funktionen (reaktive vs. proaktive Aggression) aggressiven Verhaltens den Zusammenhang zwischen reaktiver und proaktiver Aggression minimiert (siehe Little et al., 2003). Dieser Hinweis auf eine reliable Unterscheidung der beiden Subtypen aggressiven Verhaltens macht die Ableitung unterschiedlicher Behandlungsprogramme für reaktiv bzw. proaktiv aggressive Kinder begründbar. Literatur Bachmann, C. J., Lehmkuhl, G., Petermann, F. & Scott, S. (2010). Evidenzbasierte psychotherapeutische Interventionen für Kinder und Jugendliche mit aggressivem Verhalten. Kindheit und Entwicklung, 19, 245 - 254. Bandura, A. (1973). Aggression: A social learning analysis. Englewood Cliffs: Prentice Hall. Bandura, A. (1986). Social foundations of thought and action: A social cognitive theory. Englewood Cliffs: Prentice Hall. Berkowitz, L. (1993). Aggression: Its causes, consequences, and control. New York: McGraw-Hill. Bliesener, T., Lösel, F. & Averbeck, M. (1999). Die Wahrnehmung und Bewertung von Konfliktsituationen bei Schülern mit reaktiv versus proaktiv aggressivem Verhalten. In R. Dollase, H. Moser & T. Kiche (Hrsg.), Politische Psychologie der Fremdenfeindlichkeit. 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