eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 58/2

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2011.art06d
41
2011
582

Die Messung konstruktivistischer Unterrichtsmerkmale auf der Grundlage von Schülerurteilen

41
2011
Detlef Urhahne
Sabine Marsch
Matthias Wilde
Dirk Krüger
Lernen wird in der Theorie des gemäßigten Konstruktivismus von Reinmann und Mandl (2006) als ein aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, emotionaler, situativer und sozialer Prozess beschrieben. In diesem Beitrag wird ein Fragebogen vorgestellt, der die sechs grundlegenden Prinzipien des gemäßigten Konstruktivismus auf der Grundlage von Schülerurteilen messbar macht. Durch eine hypothetisch-deduktive Vorgehensweise wurde ein Fragebogen entwickelt und in 13 Klassen mit 288 Schülern der Sekundarstufe I empirisch getestet. Sechs Klassen nahmen an einem offenen, stärker konstruktivistischen und sieben Klassen an einem geschlossenen, stärker instruktionalen Biologieunterricht teil. Die 28 Items des Fragebogens zeigen die angenommene Sechs-Faktoren-Struktur. Theoretisch zusammengehörige Items laden auf einem gemeinsamen Faktor. Die sechs Konstruktivismusskalen verfügen über zufriedenstellende bis gute Reliabilitäten und weisen eine mittlere Schwierigkeit auf. Offener Unterricht wird im Vergleich zu geschlossenem Unterricht als stärker emotional, selbstgesteuert und sozial erlebt. Mädchen unterscheiden sich von Jungen unabhängig von der Unterrichtsform durch höhere Messwerte auf den Dimensionen situativ, aktiv und sozial.
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n Empirische Arbeit Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2011, 58, 116 -127 DOI 10.2378/ peu2011.art06d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die Messung konstruktivistischer Unterrichtsmerkmale auf der Grundlage von Schülerurteilen Detlef Urhahne Sabine Marsch Ludwig-Maximilians-Universität Freie Universität Berlin München Matthias Wilde Dirk Krüger Universität Bielefeld Freie Universität Berlin Measuring Features of Constructivist Instruction on the Basis of Student Judgments Summary: According to the theory of moderate constructivism by Reinmann and Mandl (2006), learning is regarded as an active, self-regulated, constructive, emotional, situated and social process. In this contribution, a questionnaire is presented that measures the six fundamental principles of moderate constructivism on the basis of student judgments. The questionnaire was developed through a hypothetical-deductive approach and empirically tested in 13 classes with 288 secondary school students. Six classes took part in an open, more constructivist biology lesson and seven classes in a closed, more instructional biology lesson. The 28-item questionnaire shows the presumed sixfactor structure. Theoretically related items load on a common factor. The six scales of constructivism show satisfying to good reliabilities and are of moderate difficulty. Open instruction compared to closed instruction is perceived as more emotional, self-regulated and social. Girls differ from boys, regardless of the form of instruction, by higher scores on the dimensions situated, active and social. Keywords: Constructivism, instruction, evaluation, questionnaire Zusammenfassung: Lernen wird in der Theorie des gemäßigten Konstruktivismus von Reinmann und Mandl (2006) als ein aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, emotionaler, situativer und sozialer Prozess beschrieben. In diesem Beitrag wird ein Fragebogen vorgestellt, der die sechs grundlegenden Prinzipien des gemäßigten Konstruktivismus auf der Grundlage von Schülerurteilen messbar macht. Durch eine hypothetisch-deduktive Vorgehensweise wurde ein Fragebogen entwickelt und in 13 Klassen mit 288 Schülern der Sekundarstufe I empirisch getestet. Sechs Klassen nahmen an einem offenen, stärker konstruktivistischen und sieben Klassen an einem geschlossenen, stärker instruktionalen Biologieunterricht teil. Die 28 Items des Fragebogens zeigen die angenommene Sechs-Faktoren-Struktur. Theoretisch zusammengehörige Items laden auf einem gemeinsamen Faktor. Die sechs Konstruktivismusskalen verfügen über zufriedenstellende bis gute Reliabilitäten und weisen eine mittlere Schwierigkeit auf. Offener Unterricht wird im Vergleich zu geschlossenem Unterricht als stärker emotional, selbstgesteuert und sozial erlebt. Mädchen unterscheiden sich von Jungen unabhängig von der Unterrichtsform durch höhere Messwerte auf den Dimensionen situativ, aktiv und sozial. Schlüsselbegriffe: Konstruktivismus, Unterricht, Evaluation, Fragebogen Einleitung Der Konstruktivismus hat sich zu einer der führenden Lerntheorien der Gegenwart entwickelt (Phillips, 2000; Richardson, 2003). Im Konstruktivismus wird Lernen als Aufbau mentaler Repräsentationen durch aktive Wissenskonstruktion verstanden (Kintsch, 2009). Der Konstruktivismus hat sich in verschiedene Formen entwickelt. Vertreter des radikalen Konstruktivismus wie von Glasersfeld (1997) gehen davon aus, dass Wissen die Grenzen der persön- Die Messung konstruktivistischer Unterrichtsmerkmale 117 lichen Erfahrung nicht überschreiten kann und ein geteiltes Wissen über Lerninhalte folglich nicht existiert (vgl. Riemeier, 2007). In Abgrenzung zur erkenntnistheoretischen Position des radikalen Konstruktivismus sprechen sich Reinmann und Mandl (2006) für einen gemäßigten Konstruktivismus aus. In ihm wird ein geteiltes Wissen über Inhalte für möglich erachtet und Konzepte von persönlicher Konstruktion und geleiteter Instruktion miteinander verbunden. Reinmann und Mandl (2006) spezifizieren in ihrer Theorie sechs Kennzeichen zur Gestaltung konstruktivistischer Lernumgebungen. In diesem Beitrag wird ein Fragebogen vorgestellt, der die sechs grundlegenden Prinzipien des gemäßigten Konstruktivismus nach Reinmann und Mandl (2006) auf der Basis von Schülerurteilen messbar macht. Es ist der Versuch, durch eine hypothetisch-deduktive Vorgehensweise einen Fragebogen zur Erfassung konstruktivistischer Merkmale im Unterricht auf Grundlage eines etablierten theoretischen Konzepts zu entwickeln. Theorie Prinzipien konstruktivistischer Lernumgebungen Reinmann und Mandl (2006) benennen sechs Prinzipien oder Prozessmerkmale des Lernens, die ihre gemäßigt konstruktivistische Position stützen. Lernen wird als ein aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, emotionaler, situativer und sozialer Prozess beschrieben. Im Folgenden werden diese Prinzipien konstruktivistischen Unterrichts näher erläutert. (1) Lernen ist ein aktiver Prozess: Im Konstruktivismus werden die inneren Bedingungen oder Zustände des Lernenden als wichtiger erachtet als die äußeren Gegebenheiten (Shuell, 1996). Besonders betont werden die Eigeninitiative und die Selbstverantwortung für den Lernprozess (Hasselhorn & Gold, 2006). Der Lernende nimmt nicht einfach passiv Informationen in sich auf, sondern wählt aktiv relevante Informationen aus, interpretiert sie auf Grundlage von Vorwissen und Erfordernis und konstruiert für sich eine mentale Repräsentation des Sachverhalts. Dieser Vorgang ist aktiv zu nennen, weil der Lernende verschiedene geistige Operationen ausführen muss, um neue Informationen zu erfassen und mit Sinn zu füllen (Shuell, 1996). (2) Lernen ist ein selbstgesteuerter Prozess: Um sich erfolgreich Wissen anzueignen, kann und muss der Lernende sein Lernverhalten selbst steuern und beeinflussen (Hasselhorn & Gold, 2006). Selbststeuerung ist in allen Phasen des Lernprozesses, d. h. vor, während und nach der Lernhandlung erforderlich (Schmitz, Landmann & Perels, 2007). Dabei werden sowohl kognitive als auch motivationale, volitionale und metakognitive Ressourcen und Lernstrategien genutzt (Boekaerts, 1999). Konstruktivistische bzw. offener gestaltete Lernumgebungen erfordern vom Lernenden stärkere Selbststeuerungsfähigkeiten als instruktionale bzw. geschlossener gestaltete Lernumgebungen, in denen die Lehrkraft Lernprozesse anleitet und erklärt (Reinmann & Mandl, 2006). (3) Lernen ist ein konstruktiver Prozess: Lernen im konstruktivistischen Sinne ist nicht die bloße Verarbeitung von Informationen, sondern der Aufbau neuen Wissens auf der Grundlage vorhandenen Wissens (Hasselhorn & Gold, 2006). Wissenserwerb ist eine individuelle Konstruktionsleistung, die auf Prozessen der Selektion, Organisation, Elaboration, Interpretation und Integration von Informationen unter Einbeziehung von Vorkenntnissen beruht (Renkl, 2008). Bereits Bartlett (1932) erkannte in seinen gedächtnispsychologischen Untersuchungen, dass kognitive Schemata die Aufnahme, Speicherung und den Abruf von Informationen beeinflussen und Personen die gleiche Information aufgrund ihrer individuellen Wissenskonstruktion unterschiedlich interpretieren. (4) Lernen ist ein emotionaler Prozess: Emotionen spielen eine tragende Rolle bei der Erklärung, wie Schüler auf Lernanforderungen reagieren. Interesse, Freude, Hoffnung, Erleichterung oder Stolz können als treibende, Angst, Langeweile, Scham, Ärger oder Enttäuschung können als hemmende Kräfte des Lernens wir- 118 Detlef Urhahne ken (Frenzel, Götz & Pekrun, 2009). Im Unterricht werden Emotionen bereits durch die Themenwahl positiv oder negativ beeinflusst. Mädchen zeigen am Ende der Sekundarstufe I ein höheres Interesse an biologischen Themen, während Jungen eine stärkere Präferenz für physikalische Themen aufweisen (Holstermann & Bögeholz, 2007). Lernemotionen sind auf das Engste mit der Motivation für das Lernen verknüpft. Im Kontext von Motivation sind Emotionen als antizipierte Affektkonsequenzen zu betrachten, die sowohl leistungsbezogen als auch in der sozialen Interaktion mit Lehrkräften und Mitschülern wirksam werden können (Urhahne, 2008). (5) Lernen ist ein situativer Prozess: Lernen vollzieht sich nicht unabhängig von Situationen, sondern ist eingebettet in einen spezifischen Kontext (Law, 2000). Gelerntes erweist sich als stark kontextgebunden und kann nicht vom Akt des Lernens oder von der Lernsituation getrennt werden. Eine spürbare Konsequenz situierten Lernens zeigt sich beim mangelnden Transfer kognitiver Fähigkeiten. Stimmen Lern- und Anwendungssituation nicht miteinander überein, fällt es Lernenden schwer, Gelerntes auf eine neue Situation zu übertragen. Das manchmal mühselig erworbene Wissen verkümmert zu trägem Wissen - es bleibt ungenutzt (Renkl, Mandl & Gruber, 1996). (6) Lernen ist ein sozialer Prozess: Im moderaten Konstruktivismus wird die Vorstellung betont, dass Lernen ein sozial vermittelter Prozess ist. Durch soziale Interaktion entstehen neue Lernerfahrungen, die bei der gemeinsamen Wissenskonstruktion von zwei oder mehr Personen nützlich sind (Lave & Wenger, 1991). Wygotski (1974) geht sogar so weit zu sagen, dass alle höheren geistigen Funktionen einer sozialen Lernumgebung entstammen. Durch die Unterstützung anderer kann ein Lernender die Lücke zwischen dem, was er aktuell und was er potenziell zu leisten vermag, schließen. In dieser Zone der proximalen Entwicklung hilft der Erfahrene bei der Bewältigung von Aufgaben, die der Lernende alleine noch nicht meistern würde. Effektivität konstruktivistischer Lernumgebungen Konstruktivistische Lehr- und Lernansätze wurden in den vergangenen Jahren in verschiedenen Veröffentlichungen stark kritisiert (Kirschner, Sweller & Clark, 2006; Mayer, 2004; Renkl, 2008). Der Ansatz, Lernenden möglichst authentische Probleme in informationsreichen Lernumgebungen vorzugeben und sie eigene Lösungen suchen und konstruieren zu lassen, berücksichtigt nicht in ausreichendem Maße, wie Informationen im menschlichen Gehirn verarbeitet werden (Kirschner et al., 2006). Diese Lehrmethode hat sich bereits in der Vergangenheit mehrfach als wenig effektiv erwiesen (Mayer, 2004). Renkl (2008) empfindet bereits die Unterscheidung von konstruktivistischem und nicht-konstruktivistischem Unterricht als wenig sinnvoll. Auch ein Lehrvortrag kann konstruktivistisch sein, wenn er bei Lernenden aktive Prozesse der Wissenskonstruktion anregt. Erfolgreicher Unterricht muss deshalb Lernende nicht nur zu äußerlich sichtbaren Aktivitäten ermuntern, sondern auch für geistige Aktivitäten sorgen. Letztlich kann auch ein geschlossener, instruktional orientierter Unterricht in gleicher Weise aktive und konstruktive Lernprozesse bewirken wie ein offener, konstruktivistisch orientierter Unterricht. Auch wenn diese Kritik an konstruktivistischen Lernumgebungen sehr pauschal ausfällt, sind die wirklichen Belege für ein besseres Lernen nach konstruktivistischen Prinzipien dünn gesät und müssen von Fall zu Fall betrachtet werden. Beispielsweise untersuchten Nie und Lau (2010), wie konstruktivistischer und belehrender Unterricht sich in den Englischleistungen von 3.000 Schülern neunter Klassen niederschlägt. Dazu setzten sie eine elf Fragen umfassende Konstruktivismusskala (Cronbachs a = .93) und eine acht Fragen lange Belehrungsskala (Cronbachs a = .84) ein. Die Konstruktivismusskala maß die Häufigkeit von Diskussionen im Klassenraum, des Verfassens längerer Aufzeichnungen sowie der Betonung von tieferem Verständnis und der Anwen- Die Messung konstruktivistischer Unterrichtsmerkmale 119 dung des Gelernten im Alltag. Die Belehrungsskala erfasste die Häufigkeit der Verwendung des Lehrbuchs, des ständigen Übens grundlegender Fertigkeiten und der Betonung des Erinnerns von Sachinformationen. In den Ergebnissen von Nie und Lau (2010) zeigte sich, dass bei Kontrolle von Vorwissen die konstruktivistische Instruktion sich als positiver Prädiktor der Englischleistung erwies, während die belehrende Instruktion sich als negativer Prädiktor der Englischleistung herausstellte. In einem Punkt sind sich alle Kritiker konstruktivistischer Lernumgebungen einig: Ob Unterricht nach konstruktivistischen Prinzipien effektiv verläuft, hängt davon ab, wie viel Führung die Lernenden im konstruktivistischen Unterricht erhalten. Konstruktivistischer Unterricht muss ausreichend strukturiert und angeleitet sein, um erfolgreichen Wissenserwerb zu ermöglichen (Kirschner et al., 2006; Mayer, 2004; Renkl, 2008). Voraussetzung dafür ist zum einen eine ausreichende Wissensbasis, Motivation und Eigenaktivität der Lernenden (Reinmann & Mandl, 2006). Notwendig ist zum anderen, dass die Lehrkraft bereit ist, eine andere Rolle im Sinne eines Coachs oder Moderators einzunehmen (Shuell, 1996). Als konkretes Beispiel für das intendierte Verhalten der Lehrkraft im konstruktivistischen Unterricht lässt sich das 5E-Modell (envision the lesson, enable collaboration, encourage students, ensure learning, evaluate achievement) zum computergestützten forschenden Lernen anführen (Urhahne, Schanze, Bell, Mansfield & Holmes, 2010). Verfahren zur Messung konstruktivistischer Unterrichtsmerkmale Um den verschiedenen Aspekten und Prinzipien von konstruktivistischen Lernumgebungen gerecht zu werden, wurden unterschiedliche, mehrdimensionale Fragebogenverfahren entwickelt. An dieser Stelle werden zwei Verfahren vorgestellt, die eine größere Bekanntheit erreicht haben. Taylor, Fraser und Fisher (1997) entwickelten den Constructivist Learning Environment Survey (CLES) zur Messung der wahrgenommenen Häufigkeit von fünf Hauptdimensionen konstruktivistischen Lernens im Naturwissenschaftsunterricht: (1) persönliche Bedeutsamkeit, (2) Unsicherheit der Naturwissenschaften, (3) kritische Äußerungen, (4) geteilte Verantwortung und (5) gemeinsames Aushandeln. Der CLES umfasst dreißig Items, wobei jede der fünf Skalen mit sechs Items gemessen wird. Die Bewertung des Unterrichts erfolgt im CLES über eine fünfstufige Ratingskala von „praktisch immer“ bis „praktisch nie“. Der CLES verfügt über gute Reliabilitätskennwerte und eine klare fünffaktorielle Struktur. Allerdings scheint die Wahl der fünf Kerndimensionen eher durch empirische als theoretische Erkenntnisse geleitet zu sein. Eine inhaltliche Rechtfertigung der gewählten Dimensionen ist nicht festzustellen (Taylor et al., 1997). Mittlerweile wurde der CLES in zahlreichen Untersuchungen eingesetzt. Die Studien lassen sich in drei Kategorien unterteilen. Erstens wurden mit dem CLES Evaluationsstudien zur Bewertung von Lehreinheiten und Curricula (Aldridge, Fraser, Taylor & Chen, 2000; Harrington & Enochs, 2009; Kim, Fisher & Fraser, 1999; Ogbuehi & Fraser, 2007) sowie zur Integration von Lerntechnologien in den Unterricht (Harwell, Gunter, Montgomery, Shelton & West, 2001) unternommen. Zweitens wurden mit dem CLES Beziehungen von konstruktivistischen Lehrmerkmalen zu anderen Konstrukten wie schulischer Leistungsfähigkeit (Dorman, 2001), Selbstbehinderung (Dorman, Adams & Ferguson, 2002) oder epistemologischen Überzeugungen und Herangehensweisen an das Lernen (Ozkal, Tekkaya, Cakiroglu & Sungur, 2009) analysiert. Drittens wurde der CLES verändert oder adaptiert (Bamberger & Tal, 2009; Nix, Fraser & Ledbetter, 2005), sodass inzwischen auch eine Kurzversion des CLES mit nur vier Items pro Skala vorliegt (Johnson & McClure, 2004). 120 Detlef Urhahne Tenenbaum, Naidu, Jegede und Austin (2001) verfolgten bei der Entwicklung ihres Fragebogens zur Erfassung konstruktivistischer Unterrichtsmerkmale eine zweischrittige Strategie. In einer ersten Phase wurde ein Internetforum eingerichtet, in dem sich Konstruktivismusexperten aus Australien, den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich, Kanada und Neuseeland über Grundeigenschaften des Konstruktivismus sechs Wochen lang austauschten. Das elektronische Diskussionsmaterial wurde anschließend einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. In einer zweiten Phase wurden die Diskussionsbeiträge und weitere Literatur genutzt, um Schlüsselbegriffe und Eigenschaften konstruktivistischer Lernumgebungen aufzulisten und daraus 150 Items zu generieren. Die Items wurden von 642 australischen Studenten auf fünfstufigen Likertskalen bewertet. Faktorenanalyse und zweimalige Itemreduktion führten Tenenbaum et al. (2001) zu einem Fragebogen mit 30 Items. Sieben unterschiedliche Dimensionen werden darin mit drei bis sechs Items abgebildet: (1) Argumente, Diskussionen, Erörterungen, (2) Begriffliche Konflikte und Dilemmata, (3) Vorstellungen mit anderen teilen, (4) lösungsgerichtete Materialien und Mittel, (5) Motivation zur Rückbetrachtung und Konzepterkundung, (6) auf Bedürfnisse der Schüler eingehen und (7) bedeutungsvolle Beispiele aus dem wirklichen Leben verwenden. Der Fragebogen zeigt für alle Dimensionen gute Reliabilitätskennwerte. In einer Untersuchung von Gijbels, van de Watering, Dochy und van den Bossche (2006) wurde Tenenbaums Fragebogen zum Vergleich einer problembasierten und einer konventionellen mehrwöchigen, universitären Lehreinheit zum Privatrecht im Rahmen des Jurastudiums genutzt. Die problembasierte Lehreinheit wurde von den Studenten als stärker konstruktivistisch empfunden als das traditionelle Curriculum. Die größten Unterschiede ergaben sich im Hinblick auf Möglichkeiten zum kooperativen Lernen sowie auf die Beschäftigung mit begrifflichen Konflikten und Dilemmata. Forschungsdefizite und Forschungsfragen Die etablierten Verfahren zur Messung konstruktivistischer Unterrichtsmerkmale von Lernumgebungen von Taylor et al. (1997) und Tenenbaum et al. (2001) sind durch eine induktive Vorgehensweise gekennzeichnet. Der Vorteil der induktiven Vorgehensweise besteht darin, ein Messinstrument von guter psychometrischer Qualität entwickeln zu können. Die Faktorenanalyse liefert klar voneinander trennbare Faktoren. Bei unzureichender Messzuverlässigkeit einzelner Faktoren kann durch Itemselektion die Reliabilität noch verbessert werden. Der Nachteil des induktiven Verfahrens ist jedoch darin zu sehen, dass idiosynkratische, d. h. eigentümliche Faktoren erzeugt werden. Eine Anknüpfung an die grundlegenden Konzepte und Prinzipien des moderaten Konstruktivismus ist in den Fragebögen von Taylor et al. (1997) und Tenenbaum et al. (2001) nur teilweise zu erkennen. Mit dem Versuch, durch ein hypothetischdeduktives Vorgehen einen Fragebogen auf der Grundlage der sechs Prinzipien konstruktivistischer Lernumgebungen nach Reinmann und Mandl (2006) zu konstruieren, sollte für eine stärkere theoretische Verankerung des Messinstruments in den Grundannahmen des moderaten Konstruktivismus gesorgt werden. Das gewählte hypothetisch-deduktive Verfahren birgt jedoch das Risiko in sich, einen Fragebogen von geringer psychometrischer Qualität zu produzieren. Daher richteten sich die Forschungsfragen auf die folgenden Aspekte: 1. Lässt sich auf der Grundlage der sechs Prinzipien des gemäßigten Konstruktivismus von Reinmann und Mandl (2006) ein Messinstrument entwickeln, das zu sechs voneinander unterscheidbaren Faktoren führt? 2. Sind die gewonnenen Faktoren hinreichend messzuverlässig? Die Messung konstruktivistischer Unterrichtsmerkmale 121 3. Kann das Messinstrument Unterschiede zwischen offenem, stärker konstruktivistischem und geschlossenem, stärker instruktionalem Unterricht aufdecken? Gibt es Geschlechtsunterschiede in der Bewertung von Unterricht nach konstruktivistischen Prinzipien? Methode Stichprobe An der Untersuchung nahmen 288 Unterstufenschüler (52,4 % Mädchen) teil. Die Schüler von drei niedersächsischen Gymnasien waren zwischen 10 und 14 Jahre alt (M = 11.89, SD = 1.04) und besuchten die fünfte (n = 119), sechste (n = 47) und siebte (n = 122) Jahrgangsstufe. Konstruktivismusskalen Der Skalenentwicklung liegt ein mehrstufiges Verfahren zugrunde. In einer ersten Untersuchung mit 366 Berliner Gymnasiasten wurden 20 Items zur Einschätzung der Prozessmerkmale konstruktivistischen Lernens im Biologieunterricht erhoben (Marsch, Elster & Krüger, 2007). Die Faktorenanalyse ergab, dass nur die Dimensionen sozial, konstruktiv, situativ und selbstgesteuert mit eigenen Faktoren abgebildet werden konnten. Die Skalen wurden daraufhin überarbeitet und je fünf Items zu den sechs Prozessmerkmalen konstruktivistischer Lernumgebungen formuliert (Marsch, Hartwig & Krüger, 2009). Die 30 Items des erweiterten Konstruktivismusfragebogens wurden in der vorliegenden Untersuchung eingesetzt und von den Schülern über eine fünfstufige Likertskala (0 - trifft nicht zu, 1- trifft kaum zu, 2 - trifft teilweise zu, 3 - trifft überwiegend zu, 4 - trifft voll zu) bewertet. Der genaue Wortlaut der Items ist in der Tabelle 2 wiedergegeben. Aus der Faktorenanalyse mussten zwei Items der Skala „konstruktiv“ ausgeschlossen werden, weil sie im Gegensatz zu anderen Items der Skala nicht nur die Wissenskonstruktion, sondern zugleich auch den Lernerfolg thematisierten (In dieser Unterrichtsstunde … (a) habe ich etwas gelernt, was mein Wissen verändert hat, (b) ist mir etwas klar geworden, was ich vorher nicht verstanden habe.). Zwei Alternativitems zur Aufstockung der Skala „konstruktiv“ von drei auf fünf Items sind im Anhang aufgeführt. Unterrichtsform Zur Überprüfung der Konstruktvalidität der Skalen wurde der Fragebogen zur Erfassung konstruktivistischer Unterrichtsmerkmale in zwei kontrastierenden Formen von Biologieunterricht getestet. Sechs Klassen nahmen an einem offenen, stärker konstruktivistischen und sieben Klassen an einem geschlossenen, instruktionalen Biologieunterricht teil. Der offene Unterricht zeichnete sich z. B. dadurch aus, dass die Schüler selbst experimentieren konnten, während beim geschlossenen Unterricht der Lehrer das Experiment vorführte. Die beteiligten Lehrkräfte konnten selbst entscheiden, ob sie eher einen offenen oder einen geschlossenen Unterricht realisieren wollten. In sechs Klassen wurde der offene Unterricht mit 77 Mädchen und 55 Jungen, in sieben Klassen der geschlossene Unterricht mit 74 Mädchen und 82 Jungen durchgeführt. Um die Implementation von offenem und geschlossenem Unterricht zu kontrollieren, bewertete ein in der Klasse platzierter, geschulter Beobachter den Biologieunterricht über Ratingskalen von 0 - „trifft gar nicht zu“ bis 4 - „trifft vollkommen zu“ nach konstruktivistischen Prinzipien. Die zwölf Items zur Unterrichtsbewertung haben alle den Stamm „In dieser Unterrichtsstunde …“ und je zwei Items beschreiben eins der sechs konstruktivistischen Prinzipien. Der Beobachter, der über die intendierte Lehrform nicht informiert war, bewertete auf diese Weise inwieweit der Unterricht aktiv (haben sich die Schüler engagiert, beteiligten sich die Schüler rege am Unterricht, r = .87), selbstgesteuert (konnten die Schüler Dinge selbst bestimmen, konnten die Schüler eigene Entscheidungen treffen, r = .91), konstruktiv (konnten die Schüler ihre Vorstellungen einbringen, durften die Schüler auch Fehler machen, r = .73), emotional (herrschte ein angenehmes Lernklima, machte der Unterricht den Schülern Spaß, r = .81), situativ (war der Unterricht mit dem Alltag der Schüler verknüpft, war der Unterricht auf das Leben der Schüler bezogen, r = .89) und sozial (lernten die Schüler voneinander, tauschten sich die Schüler untereinander aus, r = .95) war. Die hohen Korrelationen zwischen den korrespondierenden Items rechtfertigen die Zusammenfassung zu sechs Skalen. Anschließend wurden Mittelwertsvergleiche zwischen den sechs Klassen des offenen Unterrichts und den sieben Klassen des geschlossenen Unterrichts berechnet. Die Ergebnisse sind in Tabelle 1 dargestellt. Trotz der geringen Stichprobengröße fallen mit Ausnahme der Skala „situativ“ alle Vergleiche 122 Detlef Urhahne signifikant aus. Der offene Unterricht war demnach wesentlich stärker an konstruktivistischen Prinzipien orientiert als der geschlossene Unterricht. Dieses sollte sich bei den Schülern in einem stärkeren emotionalen, sozialen und selbstgesteuerten Erleben des offenen Unterrichts niederschlagen. Als aktiv und konstruktiv könnte dagegen auch ein geschlossener Unterricht wahrgenommen werden (Renkl, 2008). Untersuchungsablauf Der Fragebogen zur Erfassung von konstruktivistischen Unterrichtsmerkmalen wurde gegen Ende der jeweiligen Unterrichtsstunde an die Untersuchungsteilnehmer ausgeteilt. Die Schüler hatten keine Schwierigkeiten, den Fragebogen selbstständig zu bearbeiten. Die Beantwortung der Items, die in zufälliger Reihenfolge in dem Fragebogen wiedergegeben waren, dauerte etwa fünf bis zehn Minuten. Ergebnisse Entsprechend der ersten Forschungsfrage wurde in einer explorativen Faktorenanalyse geprüft, ob der Konstruktionsfragebogen zu sechs voneinander unterscheidbaren Faktoren führt. In Tabelle 2 ist das Ergebnis der Faktorenanalyse nach der Hauptkomponentenmethode mit anschließender Varimax-Rotation der Faktorlösung dargestellt. Das Kaiser-Mayer-Olkin-Kriterium erreicht einen Wert von .87, welcher zeigt, dass die Stichprobengröße für eine Faktorenanalyse gut geeignet ist. Entsprechend dem Kaiser-Kriterium (Eigenwerte > 1) wurden sechs Faktoren extrahiert, die zusammen 61.09 % der Gesamtvarianz aufklären. Aus Tabelle 2 wird ersichtlich, dass die 28 Items sich auf die sechs angenommenen Faktoren emotional, situativ, selbstgesteuert, aktiv, sozial und konstruktiv verteilen. Dabei weisen die einzelnen Items kaum Nebenladungen auf. Lediglich zwischen den Skalen „emotional“ und „aktiv“ herrscht eine etwas stärkere Überlappung. Entsprechend der zweiten Forschungsfrage wurden Reliabilitäten berechnet und damit überprüft, ob die sechs gewonnenen Faktoren hinreichend messzuverlässig sind. Insgesamt zeigen alle Skalen in Tabelle 2 eine zufriedenstellende bis gute interne Konsistenz. Lediglich die Skala „konstruktiv“ ist mit einem Reliabilitätswert von .69 etwas weniger messgenau. Allerdings besteht diese Skala auch nur aus drei anstelle von fünf Items, wodurch die Reliabilität gemindert ist. Die Spannweiten der Itemtrennschärfen in Tabelle 2 zeigen zudem, dass alle Werte über .30 liegen und eine Itemselektion nicht erforderlich ist. Die Intraklassenkorrelationen in Tabelle 2 beschreiben die Genauigkeit, mit der ein Schüler im Durchschnitt das entsprechende Unterrichtsmerkmal beurteilt (Lüdtke, Trautwein, Kunter & Baumert, 2006). Die ICC(1)-Werte deuten auf eine hinreichende Messzuverlässigkeit hin. In Tabelle 3 sind die deskriptiven Kennwerte der Konstruktivismusskalen berichtet. Es wird deutlich, dass alle Skalen mit Ausnahme der Skala „selbstgesteuert“ eine mittlere Schwierigkeit aufweisen. Die Skala „selbstgesteuert“ erfährt dagegen eine niedrigere Bewertung und wird als weniger zutreffend für die Beschreibung des Biologieunterrichts erachtet. Schiefe und Kurtosis aller Konstruktivismusskalen sind mit Werten offen geschlossen M SD M SD t(11) p d emotional 3.00 .45 1.28 .81 4.60 .001 2.56 situativ 2.00 1.05 .93 .45 1.52 .158 .84 selbstgesteuert 2.75 .42 .64 .38 9.54 .001 5.31 aktiv 3.08 .38 1.14 .63 6.61 .001 3.67 sozial 3.08 .20 .93 .45 10.77 .001 5.99 konstruktiv 2.92 .49 1.50 .58 4.72 .001 2.62 Tabelle 1: Mittelwertsvergleich der offenen und geschlossenen Unterrichtsform Die Messung konstruktivistischer Unterrichtsmerkmale 123 In dieser Unterrichtsstunde … Faktor 1 emotional Faktor 2 situativ Faktor 3 selbstgesteuert Faktor 4 aktiv Faktor 5 sozial Faktor 6 konstruktiv hat es mir gefallen zu lernen. .831 hatte ich Lust zu lernen. .787 hatte ich Spaß beim Lernen. .769 hatte ich beim Lernen gute Laune. .753 habe ich mich beim Lernen wohl gefühlt. .741 habe ich etwas gelernt, was ich im Alltag nutzen kann. .822 habe ich etwas gelernt, was ich gut gebrauchen kann. .781 habe ich etwas gelernt, was mit meinem Alltag zu tun hat. .764 habe ich etwas gelernt, was mir im Leben weiterhilft. .762 habe ich etwas gelernt, was ich anwenden kann. .625 konnte ich selbst bestimmen, was ich lerne. .754 konnte ich selbst entscheiden, womit ich lerne. .689 konnte ich mir beim Lernen so viel Zeit nehmen, wie ich wollte. .682 konnte ich beim Lernen so vorgehen, wie ich es wollte. .633 konnte ich selbst bestimmen, wie viel ich lerne. .581 war ich beim Lernen tätig. .742 war ich beim Lernen eifrig. .727 habe ich beim Lernen viel gemacht. .621 war ich beim Lernen aktiv. .466 .577 war ich beim Lernen aufmerksam. .506 .545 habe ich beim Lernen mit anderen zusammen gearbeitet. .771 habe ich mich beim Lernen mit anderen ausgetauscht. .755 habe ich mit anderen zusammen gelernt. .708 habe ich beim Lernen andere gefragt. .629 habe ich beim Lernen mit anderen diskutiert. .618 habe ich auf vorhandenes Wissen aufgebaut. .811 habe ich auf vorhandene Kenntnisse zurückgegriffen. .776 habe ich neues Wissen mit altem Wissen verknüpft. .445 .597 Eigenwert 4.04 3.15 2.78 2.67 2.64 1.82 Erklärte Varianz 14.44 % 11.25 % 9.92 % 9.53 % 9.43 % 6.52 % Cronbachs a .89 .85 .75 .82 .76 .69 Spannweite der Itemtrennschärfen .68 -.78 .59 -.73 .40 -.57 .56 -.67 .43 -.62 .44 -.56 Intraklassenkorrelation - ICC(1) .61 .53 .37 .48 .38 .43 Tabelle 2: Faktorladungsmatrix der rotierten Lösung, Reliabilitäten und Itemtrennschärfen Anmerkung: Aufgeführt sind alle Faktorladungen > |.30| 124 Detlef Urhahne im Intervall von -1 bis +1 sehr günstig ausgeprägt und deuten auf eine Normalverteilung der Messwerte hin. Ebenfalls in Tabelle 3 sind die Interkorrelationen der Konstruktivismusskalen aufgeführt. Sie liegen häufig um .30, was auf einen positiven, aber nicht übermäßig starken Zusammenhang der Konstrukte hindeutet. Eine Ausnahme bildet die Korrelation zwischen den Skalen „emotional“ und „aktiv“: Positives Erleben des Unterrichts ist eng mit einer aktiven Teilnahme am Unterricht verbunden. Entsprechend der dritten Forschungsfrage wurde eine zweifaktorielle multivariate Varianzanalyse berechnet, um zu prüfen, ob offener Unterricht stärker als konstruktivistisch erlebt wird als geschlossener Unterricht und um den Einfluss von Geschlecht auf die Unterrichtsbewertung zu erfassen. In Tabelle 4 sind die Mittelwerte und Standardabweichungen der Konstruktivismusskalen aufgeschlüsselt nach Unterrichtsform und Geschlecht dargestellt. Die zweifaktorielle MANOVA erbringt signifikante Haupteffekte für Geschlecht (F(6, 279) = 2.96, p < .01, w 2 = .060) und Unterrichtsform (F(6, 279) = 5.88, p < .001, w 2 = .112), aber keine signifikante Interaktion von Geschlecht und Unterrichtsform (F(6, 279) = 1.12, ns, w 2 = .024). Mädchen unterscheiden sich von Jungen mit höheren Messwerten auf den Dimensionen situativ (F(1, 284) = 3.94, p < .05, w 2 = .014), aktiv (F(1, 284) = 5.69, p < .05, w 2 = .020) und sozial (F(1, 284) = 9.08, p < .01, w 2 = .031). Bei den übrigen drei Dimensionen haben Mädchen und Jungen keine signifikant unterschied- Skala M SD Schiefe Kurtosis (2) (3) (4) (5) (6) (1) emotional 2.32 1.04 -.39 -.59 .31 .30 .63 .28 .28 (2) situativ 2.34 1.05 -.38 -.54 - .36 .23 .17 .36 (3) selbstgesteuert 1.81 .87 -.06 -.41 - .40 .20 .25 (4) aktiv 2.53 .74 -.46 .64 - .25 .37 (5) sozial 2.42 .91 -.37 -.27 - .11 (6) konstruktiv 2.60 .84 -.42 .00 - Tabelle 3: Deskriptive Kennwerte und Interkorrelationen der Konstruktivismusskalen Anmerkung: p < .001 für r > .19 Offener Unterricht Geschlossener Unterricht weiblich männlich weiblich männlich Skala M (SD) M (SD) M (SD) M (SD) emotional 2.57 (.93) 2.44 (1.12) 2.24 (1.04) 2.09 (1.06) situativ 2.68 (1.05) 2.20 (1.11) 2.22 (.89) 2.21 (1.09) selbstgesteuert 2.14 (.72) 1.84 (.82) 1.64 (.88) 1.63 (.95) aktiv 2.73 (.68) 2.45 (.79) 2.52 (.79) 2.39 (.69) sozial 2.84 (.77) 2.51 (.88) 2.33 (.91) 2.04 (.90) konstruktiv 2.66 (.91) 2.50 (.87) 2.50 (.83) 2.70 (.77) Tabelle 4: Deskriptive Statistiken der Konstruktivismusskalen nach Unterrichtsform und Geschlecht Die Messung konstruktivistischer Unterrichtsmerkmale 125 lichen Messwerte. In Bezug auf die Unterrichtsform erbringt der offene Unterricht im Vergleich zum geschlossenen Unterricht höhere Kennwerte auf den Dimensionen emotional (F(1, 284) = 7.33, p < .01, w 2 = .025), selbstgesteuert (F(1, 284) = 11.71, p < .001, w 2 = .040) und sozial (F(1, 284) = 23.16, p < .001, w 2 = .075). Bei den anderen drei Dimensionen zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Unterrichtsformen. Diskussion Der Konstruktivismus ist eine zeitgemäße und zunehmend populär gewordene Lerntheorie. Die Theorie des gemäßigten Konstruktivismus nach Reinmann und Mandl (2006) war der Ausgangspunkt für die Konstruktion eines Fragebogens zur Abbildung von sechs Prozessmerkmalen konstruktivistischer Lernumgebungen. Das entwickelte Messinstrument zeigt gute psychometrische Eigenschaften. Es verfügt über eine klare Faktorenstruktur, hinreichende Messgenauigkeit und kann Unterschiede zwischen verschiedenen Unterrichtsformen aufdecken. Damit stellt der Fragebogen zum gemäßigten Konstruktivismus ein objektives, reliables und valides Messverfahren dar. Auf alle drei Forschungsfragen konnten in der Untersuchung befriedigende Antworten gefunden werden. Erstens zeigte sich, dass das Messinstrument über die angenommene sechsfaktorielle Struktur verfügt und theoretisch zusammengehörige Items auf einem gemeinsamen Faktor laden. Zweitens sind alle sechs Skalen durch zufriedenstellende bis gute Reliabilitäten gekennzeichnet und eine Itemselektion ist in keinem Fall erforderlich. Drittens kann das Messinstrument Unterschiede zwischen offenem und geschlossenem Biologieunterricht verdeutlichen und damit die Validität des Fragebogens zur Erfassung von konstruktivistischen Unterrichtsmerkmalen bekräftigen. Im offenen Unterricht hatten die Schüler im Vergleich zum geschlossenen Unterricht ein positiveres emotionales Erleben und nahmen mehr Möglichkeiten wahr, selbstgesteuert und im Austausch mit anderen zu lernen. In Übereinstimmung mit der Unterrichtsbeobachtung zeigt auch die Schülerbewertung der Skala „situativ“ kein signifikantes Resultat. Die weiteren nicht-signifikanten Ergebnisse für die Skalen „aktiv“ und „konstruiert“ bestätigen damit die Kritik von Renkl (2008), da auch in einem lehrerzentrierten Unterricht die Schüler zu aktiven Prozessen der Wissenskonstruktion veranlasst werden können. Die eigentliche Stärke des neu entwickelten Messinstruments liegt in der klaren theoretischen Anbindung an eine anerkannte Lerntheorie (Reinmann & Mandl, 2006; Shuell, 1996). Damit steht der Fragebogen zum gemäßigten Konstruktivismus im Kontrast zu den induktiv entwickelten Fragebogenverfahren von Taylor et al. (1997) und Tenenbaum et al. (2001). Zwar werden auch hier konstruktivistische Konstrukte erfasst, doch ist deren theoretische Verankerung weit weniger deutlich zu erkennen. Allerdings hat das hypothetisch-deduktive Verfahren der Fragebogenkonstruktion auch seinen Preis, denn gute Messeigenschaften sind nicht garantiert. Deshalb soll auch auf die Schwachpunkte des entwickelten Fragebogens eingegangen werden. Erstens liefert die explorative Faktorenanalyse zwar die postulierte Sechs-Faktoren-Struktur, doch gilt dieses nur, wenn zwei Items der Skala „konstruktiv“ nicht in die Faktorenanalyse einbezogen werden. Die im Anhang präsentierten Alternativitems zur Verlängerung der Skala „konstruktiv“ von drei auf fünf Items sind indes noch nicht getestet und ihr Zusammenhang mit den jetzigen Items des Konstruktivismusfragebogens muss erst noch geklärt werden. Zweitens besteht eine Überlappung zwischen den Skalen „emotional“ und „aktiv“. Die psychologische Erklärung dafür ist simpel: Sind die Schüler im Unterricht aktiv, indem sie eifrig und aufmerksam mitarbeiten und viele Dinge selbst machen, dann ist auch das emotionale Erleben positiv. Die Schüler haben Lust zu lernen, sind gut gelaunt und fühlen sich im Unterricht wohl. Weil die Konstrukte „aktiv“ und „emotional“ Hand in Hand miteinander gehen, ist die eingeschränkte diskriminante Validität der beiden Skalen kaum zu vermeiden. 126 Detlef Urhahne Drittens kann der Fragebogen nicht alle Aspekte moderat-konstruktivistischer Lernumgebungen in der gesamten Tiefe und Breite abbilden. So konzentriert sich z. B. die Messung des sozialen Unterrichtsmerkmals vornehmlich auf die Interaktion zwischen den Schülern und weniger auf die Unterstützung und Strukturierung des Unterrichts durch die Lehrkraft. Dadurch können soziale Aspekte eines stärker lehrerzentrierten Unterrichts, in welchem die Schüler mit der Lehrkraft interagieren und diskutieren, möglicherweise zu gering bewertet werden. Viertens zeigt der neu entwickelte Fragebogen einen Geschlechtsbias, der unabhängig von der Unterrichtsform gemessen werden kann. Mädchen erleben Biologieunterricht stärker situiert, aktiv und sozial als Jungen. Dieses Ergebnis mag damit zusammenhängen, dass Mädchen in der Sekundarstufe I Biologieunterricht generell als interessanter, wichtiger und weniger schwierig als Jungen wahrnehmen (Prokop, Prokop & Tunnicliffe, 2007). Dadurch erkennen Mädchen leichter die Bezüge der Biologie zu ihrem Alltag. Auch sind sie infolgedessen eher bereit, sich am Unterricht zu beteiligen und mit anderen Schülern über biologische Themen zu kommunizieren. An dieser Stelle wäre ein Vergleich mit der Bewertung von Physikunterricht aufschlussreich. Denn sollte die angeführte Erklärung für den Geschlechtsbias zutreffend sein, müsste sich für das bei Jungen beliebtere Fach Physik der Geschlechtseffekt umkehren oder zumindest verschwinden. Alles in allem sind die Forschungsergebnisse des Fragebogens zum gemäßigten Konstruktivismus mehr als zufrieden stellend. Geringe Abstriche bei der psychometrischen Güte sollten aufgrund der starken theoretischen Fundierung des Messinstruments in Kauf genommen werden. Sie sind zugleich Anlass und Aufforderung, an der Qualität des Fragebogens weiter zu arbeiten und das Messinstrument weiter zu schärfen. Wenn es das Ziel von Bildung ist, Unterricht besser zu gestalten, dann macht die Orientierung an den sechs Prinzipien des gemäßigten Konstruktivismus nach Reinmann und Mandl (2006) Sinn. Sie schreiben dem Lernenden eine aktive, konstruktive, emotionale, soziale, alltagszugewandte und selbstverantwortliche Rolle zu. Mit dem vorliegenden Fragebogen sind diese Prinzipien auf der Grundlage von Schülerurteilen messbar geworden. Literatur Aldridge, J. M., Fraser, B. J., Taylor, P. C. & Chen, C. (2000). Constructivist learning environments in a cross-national study in Taiwan and Australia. International Journal of Science Education, 22, 37 - 55. Bamberger, Y. & Tal, T. (2009). 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