Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2011.art05d
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2011
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Effekte einer grafomotorisch ausgerichteten psychomotorischen Intervention bei Kindern im Vorschulalter
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2011
Irene Kranz
Karoline Sammann
Susanne Amft
Martin Vetter
Ziel der vorliegenden Längsschnittstudie war es, spezifische Effekte einer psychomotorischen Intervention im Vorschulalter zu untersuchen, die auf die grafomotorische Entwicklung ausgerichtet ist. Die untersuchten Kindergartenkinder (N = 188) wurden in drei Gruppen unterteilt: Mit der Experimentalgruppe (EG; n = 68) wurde eine neu konzipierte 12-wöchige grafomotorisch- psychomotorische Förderung und mit der ersten Kontrollgruppe (KG1; n = 65) ein konventionelles Schreibtraining durchgeführt, die zweite Kontrollgruppe (KG2; n = 55) erhielt keine spezifische Förderung. An drei Messzeitpunkten wurde jeweils der grafomotorische (Grafomotorische Testbatterie) und der grobmotorische (Körperkoordinationstest) Entwicklungsstand erfasst. Die EG zeigte signifikant größere grafomotorische und körperkoordinative Fortschritte als die beiden KG (p = .003, h2 = .055; p = .005, h2 = .062). Die Resultate geben Hinweise auf die Wirksamkeit einer psychomotorischen Förderung. Darüber hinaus verweisen sie auf eine mögliche präventive Wirksamkeit bei der Förderung leistungsschwacher Kinder.
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n Praxis psychologischer Beratung und Intervention Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2011, 58, 139 - 151 DOI 10.2378/ peu2011.art05d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Effekte einer grafomotorisch ausgerichteten psychomotorischen Intervention bei Kindern im Vorschulalter Irene Kranz 1, 2 , Karoline Sammann 2 , Susanne Amft 2 , Martin Vetter 2 1 Private Universität im Fürstentum Liechtenstein 2 Hochschule für Heilpädagogik Zürich The Effects of a Graphoand Psychomotor Intervention on Preschoolers Summary: The purpose of this longitudinal study was to investigate the effects of a new grapho-/ psychomotor intervention on preschool children. A total of 188 preschoolers were divided into three groups: (1) The experimental group participated in the new grapho-/ psychomotor treatment for 12-weeks; (2) the first control group participated in a conventional graphomotor (paper-andpencil) training; and (3) the second control group received no treatment or training. In the frame of a pre-, postand follow-up-testing graphomotor proficiency was assessed by the Grafomotorische Testbatterie and motor coordination by the Körperkoordinationstest. Although all three groups showed some improvement, the experimental group clearly had the strongest overall effect (p = .003, h 2 = .055; p = .005, h 2 = .062). Thus the results demonstrate a positive effect of this new grapho-/ psychomotor treatment. Keywords: Psychomotricity, psychomotor intervention, preschool education, graphomotor skills, prevention Zusammenfassung: Ziel der vorliegenden Längsschnittstudie war es, spezifische Effekte einer psychomotorischen Intervention im Vorschulalter zu untersuchen, die auf die grafomotorische Entwicklung ausgerichtet ist. Die untersuchten Kindergartenkinder (N = 188) wurden in drei Gruppen unterteilt: Mit der Experimentalgruppe (EG; n = 68) wurde eine neu konzipierte 12-wöchige grafomotorisch-psychomotorische Förderung und mit der ersten Kontrollgruppe (KG1; n = 65) ein konventionelles Schreibtraining durchgeführt, die zweite Kontrollgruppe (KG2; n = 55) erhielt keine spezifische Förderung. An drei Messzeitpunkten wurde jeweils der grafomotorische (Grafomotorische Testbatterie) und der grobmotorische (Körperkoordinationstest) Entwicklungsstand erfasst. Die EG zeigte signifikant größere grafomotorische und körperkoordinative Fortschritte als die beiden KG (p = .003, h 2 = .055; p = .005, h 2 = .062). Die Resultate geben Hinweise auf die Wirksamkeit einer psychomotorischen Förderung. Darüber hinaus verweisen sie auf eine mögliche präventive Wirksamkeit bei der Förderung leistungsschwacher Kinder. Schlüsselbegriffe: Psychomotorik, psychomotorische Förderung, Vorschulerziehung, Grafomotorik, Prävention Hintergrund 1 Psychomotorik kann als entwicklungspsychologisch fundiertes, lebensspannend übergreifendes Fachgebiet verstanden werden. Im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte hat sich eine Vielzahl psychomotorischer Konzepte herausgebildet (Richter, 2010). Nach Seewald (1993) können drei Psychomotorik-Konzepte unterschieden werden, die auf unterschiedliche Bewegungsmodelle zurückgreifen. Das erste Konzept versteht „Bewegung als Funktionsgeschehen“. Ziel dieses Konzeptes ist es, Wahrnehmungs- und Bewegungsprozesse durch Übung und Training 140 Irene Kranz et al. zu verbessern. Im zweiten Konzept wird „Bewegung als Strukturierungsleistung“ verstanden. Ziel dabei ist die Verbesserung von Handlungsfähigkeit durch vermehrte und flexiblere Wahrnehmungs- und Bewegungsmuster. Im Zentrum stehen anregungsreiche Fördersituationen und eigenständiges Ausprobieren. Das dritte Konzept beschreibt „Bewegung als Bedeutungsphänomen“ und arbeitet mit Inszenierung von Geschichten, Spielen und Landschaften und der Übertragung innerer in äußere Bilder. Ziel dieses Konzeptes ist die Selbstvergewisserung durch symbolischen Ausdruck in Bewegung und Spiel. Für die vorliegende Studie wird auf das Konzept „Bewegung als Strukturierungsleistung“ zurückgegriffen. Psychomotorische Maßnahmen können dabei auf verschiedene Entwicklungsbereiche ausgerichtet sein (vgl. auch Moser, 2000): Grobmotorik (Bewegungen großer Muskelgruppen, z. B. Beweglichkeit, Koordination, Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit), Feinmotorik (Bewegungen von wenigen oder kleinen Muskelgruppen, z. B. Geschicklichkeit von Finger und Mimik, visuomotorische und feinmotorische Koordination), Grafomotorik (Schreibfertigkeiten, z. B. Umgang mit Papier und Stift als kommunikative Handlung), Wahrnehmung und (Sozial-) Verhalten. Neben der ambulanten therapeutischen Arbeit mit einzelnen Kindern bzw. kleinen Gruppen in entsprechend ausgestatteten Therapieräumen und therapiebegleitenden Maßnahmen (z. B. Beratung von Eltern und Lehrpersonen) werden die Kinder auch in größeren Gruppen in ihrer Alltagsumgebung (Tagesstruktur, Kindergarten, Regelschule etc.) gefördert und unterstützt. Ein zentraler Entwicklungsbereich in Bezug auf die Schule ist die Grafomotorik, für die eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen existiert (Vetter, Amft, Sammann & Kranz, 2010). Viele davon stellen den technisch-motorischen Aspekt ins Zentrum. Im Rahmen der Studie wird hingegen die folgende, breit gefasste Definition verwendet: „Grafomotorik ist die mit individuellem Ausdruck versehene, psychisch regulierte und sozial-kommunikative Handlung der Entwicklung der Schreibfähigkeit auf der Basis von grob- und feinmotorischen sowie sensorischen Fähigkeiten. In diesem Sinne stellt Grafomotorik eine hochkomplexe psychomotorische Anforderung dar und ist für das Kind eine mehrdimensionale Entwicklungsaufgabe, die das Ineinandergreifen von bereits erworbenen und neuen Fähigkeiten und Fertigkeiten verlangt“ (Vetter et al., 2010, S. 20). Die Entwicklung grafomotorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten ist eine der wichtigsten Grundlagen für den Schriftspracherwerb. Das Beherrschen der Schrift als Kulturtechnik bildet wiederum eine zentrale Voraussetzung für schulisches Lernen und ist damit ein wichtiger Baustein einer gelingenden Integration in die Regelschule (Schilling, 2005). Wird in der Vorschulzeit das Malen und Zeichnen vernachlässigt, können z. B. Verzögerungen in der sensomotorischen Entwicklung auftreten. Häufig leiden Kinder dann als Folge ihrer Wahrnehmungsprobleme, aber auch aus Gründen psychischer und sozialer Belastung (im Sinne reaktiver Verhaltensmuster) unter grafomotorischen Schwächen (Schilling, 2007). Da die Entwicklung und Ätiologie grafomotorischer Beeinträchtigungen komplex und vielschichtig ist, werden Kinder, die eine entsprechende Entwicklungsverzögerung aufweisen, oft erst dann auffällig, wenn sie schulpflichtig werden (Wendler, 2007). Grafomotorische Beeinträchtigungen bzw. grafomotorische Schwierigkeiten sind dabei als Teil der kindlichen Gesamtentwicklung zu verstehen: Wenn Kinder für ihre grafomotorischen Entwicklungs- und Lernprozesse keine Unterstützung erhalten, „entstehen leicht kleine bis große grafomotorische Probleme“ (Schäfer, 2006, S. 142). Es zeigen sich Symptome wie Abneigung, Verweigerung, Frustration und schnelle Ermüdung. Mangelnde grafomotorische Kompetenzen werden dabei z. B. durch Verkrampfung oder Erhöhung des Stiftdrucks kompensiert. Dieser erhöhte Energieaufwand stellt eine Belastung dar, die sich in Stresssymptomen und sekundären Verhaltensauffälligkeiten äußern Effekte einer grafomotorisch-psychomotorischen Intervention 141 kann (Wendler, 2001). Das zentrale Anliegen einer präventiv ausgerichteten psychomotorischen Maßnahme ist es daher, Kindern, die Verzögerungen in der grafomotorischen Entwicklung zeigen, eine rechtzeitige „Nachentwicklung“ (Wendler, 2008, S. 206) und damit den Anschluss an das Niveau der Altersgruppe zu ermöglichen. Die Psychomotorik ist in der Schweiz dem Ziel der schulischen Integration verpflichtet. Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (2007) hat dies bei der Neuausrichtung des sonderpädagogischen Angebotes 2 bildungspolitisch verankert. Neben der therapeutischen Arbeit ist die präventive Ausrichtung der Psychomotorik - verstanden als grundlegender Beitrag zur Integration von Kindern und Jugendlichen in die Regelschule - ein wichtiger Bestandteil des Arbeitsfeldes. Dabei sind zwei Formen präventiv ausgerichteter psychomotorischer Interventionen zu unterscheiden: Primärpräventive Interventionen haben zum Ziel, die psychomotorische Entwicklung von Kindern sowohl auf individueller als auch auf struktureller Ebene möglichst früh zu fördern und spätere Entwicklungsstörungen zu verhindern bzw. zu minimieren. Bei der sekundären Prävention geht es vor allem um die Früherkennung von Entwicklungsproblemen und die frühe Einleitung entsprechender Maßnahmen (Amft, 2006). Beide Formen tragen im weitesten Sinne zur Integration von Kindern mit besonderen Bedürfnissen in die Regelschule bei. In der vorliegenden Studie soll die primärpräventive Ausrichtung psychomotorischer Interventionen innerhalb eines Klassenverbandes näher betrachtet werden. Nun sind zwar psychomotorische Förderung und Therapie weit verbreitet und die Einschätzung über deren Nutzen ist in der Praxis relativ hoch. In Diskrepanz dazu liegen allerdings nur sehr wenige empirische Befunde zur Wirksamkeit psychomotorischer Interventionen im Allgemeinen (z. B. Richter, 2010; Eggert, 2005; 2009; Klein, Knab & Fischer, 2006; Zimmermann, 1996) bzw. bei grafomotorischen Beeinträchtigungen im Besonderen vor (Stachelhaus, 2003; Kambas, 1998). Die Prävalenz grafomotorischer Beeinträchtigungen ist indes hoch, wie insbesondere zwei Studien aus der Schweiz und eine Erhebung aus Deutschland zeigen. So weisen nach Adler et al. (2007) 48 % der psychomotorischen Klientel in der Schweiz eine grafomotorische Beeinträchtigung auf. Amft & Amft (2003) konstatierten bei 31 % der Klientel grafomotorische Auffälligkeiten, die jeweils mit einem motorischen Symptom kombiniert waren. Der Deutsche Verband der Ergotherapeuten (2008) hält fest, dass in Deutschland ca. 10 - 15 % aller Kinder an grafomotorischen Störungen leiden. Ebenso wird eine grundsätzliche Wirksamkeit der Psychomotoriktherapie in diesem Bereich nahe gelegt, die jedoch im Detail unklar ist. Einzelne Studien attestieren psychomotorischen Maßnahmen eine hohe Wirksamkeit bei grafomotorischen Beeinträchtigungen: Stachelhaus (2003) bezieht sich allerdings ausschließlich auf die Förderung bei Schulanfängern im Sportunterricht und Kambas (1998) verwendet nur eine relativ kleine Stichprobe. Die empirische Forschungslage bezüglich der Effektivität psychomotorischer Förderung präsentiert sich allgemein sehr rudimentär, gefundene Effekte scheinen meist im Bereich des Zufalls zu liegen (siehe Übersicht bei Stachelhaus, 2003). Für die Disziplin, aber auch die Profession der Psychomotorik sind Interventionsstudien von zentraler Bedeutung. Die vorliegende Studie - die erste psychomotorische Interventionsstudie mit einer größeren Stichprobe in der Schweiz überhaupt - ist vor diesem Hintergrund durchgeführt worden. Ziel der Studie ist es, die Effekte einer psychomotorischen Intervention auf die Entwicklung der Grafomotorik zu untersuchen - vergleichend und longitudinal. Dazu wurde von den Autoren (in Anlehnung z. B. an Schäfer, 2001) eine spezifische Förderkonzeption entwickelt, deren Ziel darin besteht, die Entwicklung grafomotorischer Grundkompetenzen zu fördern und damit entsprechende Lernvoraussetzungen für den Pro- 142 Irene Kranz et al. zess des Schreibenlernens zu schaffen (Vetter et al., 2010). Die Förderkonzeption G-FIPPS (Grafomotorische Förderung in integrativ und präventiv ausgerichteter Psychomotorik) ist eine nach psychomotorischen Prinzipien und Bezugstheorien (z. B. Zimmer, 1999) gestaltete Fördermaßnahme, welche sich am Modell der Entwicklungsaufgaben (z. B. Havighurst, 1972; Erikson, 1973), an Handlungsmodellen der Psychomotorik und an grafomotorischen Konzepten der Psychomotorik (z. B. Schäfer, 2001; Schilling, 2004; Rudolf, 1986) orientiert. Förderung wird dabei als ein mehrdimensionaler Prozess betrachtet, der sich vor allem auf die Ausgangslage des Kindes und die Komplexität der Entwicklung bezieht und mit Entwicklungs- und Bewegungsthemen arbeitet. Bewegungsorientierte und spielerische Aspekte haben dabei Priorität vor einer funktionalen Gestaltung des Lernprozesses (Schäfer, 2006). Die Arbeit an altersgemäßen Entwicklungsthemen, die Förderung grafomotorischer Grundkompetenzen und das Heranführen an Voraussetzungen für einen erfolgreichen Einstieg in den Schriftspracherwerb bilden die Schwerpunkte der Konzeption. In der vorliegenden Studie werden drei leitende Fragestellungen behandelt: (1) Ist die psychomotorische Intervention G-FIPPS grundsätzlich effektiv? (2) Ist diese Intervention effektiver als andere Maßnahmen (z. B. ein konventionelles Schreibprogramm)? (3) Erzielt die psychomotorische Intervention G-FIPPS je nach Ausgangsniveau unterschiedliche Effekte? Methodik Stichprobe Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um ein experimentelles Prä-Post-Design mit Follow-Up. Sie umfasst drei Untersuchungsgruppen: eine Experimentalgruppe (EG) und zwei Kontrollgruppen (KG1, KG2). Die Datenerhebungen in der Experimentalgruppe und den Kontrollgruppen erfolgten in identischen Messzeiträumen. Um einen soliden Vergleich der Gruppen zu gewährleisten, wurden die Bedingungen innerhalb der Gruppen möglichst konstant gehalten. Die Studie wurde in 12 verschiedenen Kindergärten des Kantons Zürich durchgeführt. Der Kindergarten in der Schweiz dauert in der Regel 2 Jahre. Insgesamt waren 188 Kinder an der Studie beteiligt. Die Auswahl und Zuordnung der beteiligten Schulgemeinden bzw. Kindergartengruppen zu den drei Versuchsgruppen erfolgte zufällig. Um die Vergleichbarkeit der Gruppen zu gewährleisten, wurden die zugeteilten Kindergartengruppen aus Schulgemeinden mit einem vergleichbaren Sozialindex (zwischen 116 und 120) rekrutiert (Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2006 & 2008). Insgesamt nahmen 120 Kinder (= 63.8 %) an allen sechs Testterminen teil. Wenn ein Kind nicht an den vorgesehenen Messzeitpunkten erschien, wurde es von der jeweiligen Analyse ausgeschlossen. (Teilnahme Grafomotorische Testbatterie: N = 140, Teilnahme Körperkoordinationstest: N = 129). Die drei Gruppen unterschieden sich statistisch weder nach Kindergartenjahr, Alter noch nach Geschlecht (Tabelle 1). Die Versuchsgruppen unterschieden sich auch zu keinem Zeitpunkt in der Anzahl der Dropouts (n = 68). Kiga Jahr Alter Geschlecht 1. 2. Jahr; Monat m (%) w (%) EG (n = 68) 27 41 4; 10 55.9 44.1 KG1 (n = 65) 29 36 4; 10 44.6 53.4 KG2 (n = 55) 29 26 4; 9 47.3 52.7 Total (N = 188) 85 103 4; 10 49.5 50.5 Tabelle 1: Nach Versuchsgruppen differenzierte statistische Kennwerte der Teilnehmer im Vorschulalter - aufgeteilt in Kindergartenjahr (Kiga Jahr), Alter und Geschlecht Anmerkungen: EG = Experimentalgruppe (psychomotorische Intervention), KG1 = Kontrollgruppe 1 (konventionelle Intervention), KG2 = Kontrollgruppe 2 (keine Intervention) Effekte einer grafomotorisch-psychomotorischen Intervention 143 Ablauf der Untersuchung Mit den einzelnen Gruppen wurden folgende Maßnahmen durchgeführt (Abbildung 1): - Die EG nahm an einer neu konzipierten 12-wöchigen psychomotorisch geprägten grafomotorischen Intervention (Förderkonzeption G-FIPPS) teil. Die Intervention umfasst 24 Fördereinheiten (à 50 Min.). Sie ist abwechslungsweise mit allen Kindern bzw. in Halbgruppen 2 x wöchentlich durchgeführt worden. Die Leitung übernahm eine Psychomotorik-Therapeutin, die von der Kindergärtnerin unterstützend begleitet wurde. - Die KG1 nahm an einer 12-wöchigen konventionellen grafomotorischen Förderung teil, welche keine psychomotorischen Anteile enthielt. Das spezifisch auf das Schreiben ausgerichtete Training (in Anlehnung an Pauli & Kisch, 1996) umfasste 24 Fördereinheiten (à 50 Min.) und wurde jeweils 2 x wöchentlich mit der ganzen Kindergartengruppe durchgeführt. Es konzentrierte sich ausschließlich auf den Umgang mit Papier und Stift und umfasste keine entwicklungsbzw. bewegungsorientierten und spielerischen Anteile. Die Intervention wurde von einer Psychomotorik-Therapeutin und der Kindergärtnerin gemeinsam durchgeführt. - Die KG2 nahm an keiner Intervention teil, sondern erlebte den typischen Alltag des ersten bzw. zweiten Kindergartenjahres. Aufbau und Inhalte des Interventionsprogramms G-FIPPS Die G-FIPPS-Konzeption ist für die Förderung in Gruppen bis zu ca. 20 Kindern konzipiert. Sie eignet sich für den Einsatz im Klassenzimmer des Schul- und Kindergartenalltags. Die Konzeption ist in vier Phasen unterteilt (Vetter et al., 2010): In Phase I geht es um die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen. Im Mittelpunkt steht das Ziel, bei den Kindern Interesse und Begeisterung zu wecken. Auch die Rahmengeschichte „Elmar & sein Freund“ (nach den Büchern von David Mc Kee ) wird in dieser ersten Phase eingeführt. Ziel der Geschichte ist es, den daran anknüpfenden Aktivitäten einen erlebnisorientierten Zusammenhang zu geben und die emotionale Verankerung sowie die intrinsische Motivation der Kinder zu unterstützen. In Phase II werden kompetenzorientierte, grafomotorisch relevante Grundlagen ausgebildet. Das Erfahren von Selbstwirksamkeit, die Arbeit am eigenen Körper in Relationen zur sozialen und dinglichen Umwelt stehen im Vordergrund. Förderung geschieht hier hauptsächlich im dreidimensionalen Raum. Aber auch grafomotorisch relevante Kompetenzen wie die Stifthaltung werden hier eingeführt. Ziel der Phase III ist die Vertiefung von Wahrnehmungs- und Bewegungsaktivitäten. Spielerisch wird der Umgang mit Längen, Größen und euklidischen Formen geübt. Die Stundeninhalte werden nun auch in den zweidimensionalen Raum, Anmerkungen: EG = Experimentalgruppe, KG1 = Kontrollgruppe 1, KG2 = Kontrollgruppe 2; Intervention G-FIPPS = Grafomotorische Förderung in integrativ und präventiv ausgerichteter Psychomotorik; GMT = Grafomotorische Testbatterie, KTK = Körperkoordinationstest Abbildung 1: Das Pretest-Posttest-Design der Studie, nach Versuchsgruppen differenziert 144 Irene Kranz et al. d. h. auf ein Blatt, übertragen. Die Phase IV beinhaltet neben der Vertiefung der Inhalte vorangehender Phasen vor allem grafomotorische Spiele mit Papier und Stift. Erhebungsmethoden Grafomotorischer Entwicklungsstand: Eines der wenigen standardisierten motometrischen Verfahren zur differenzierten Erfassung grafomotorischer Fähigkeiten und Fertigkeiten ist die Grafomotorische Testbatterie GMT (Rudolf, 1986). Das Verfahren besteht aus sieben Subtests, die Wahrnehmungsfähigkeiten, visuo-motorische Koordination, visuelle Form- und Gestaltauffassung, Bewegungskontrolle, Hand- und Fingergeschicklichkeit (Bös, 2001) sowie feinmotorische Leistungen zur Buchstabenreproduktion, Kraftdosierung und Behaltens- und Abstraktionsleistungen messen. Der Test erfüllt allgemeine Gütekriterien (Bös, 2001). Grobmotorischer Entwicklungsstand: Der Körperkoordinationstest KTK (Kiphard & Schilling, 1974) hat sich als Standard für Kinder im Vor- und Schulalter etabliert und „stellt neben dem Lincoln-Oseretzky-Test wohl das bekannteste sportmotorische Testverfahren im deutschen Sprachraum dar“ (Bös, 2001, S. 176). Er ist ein motometrischer, theoretisch fundierter Test zur Prüfung der Gesamtkörperkontrolle und -koordination. Er besteht aus vier Subtests (Balancieren rückwärts, monopedales Überhüpfen, seitliches Hin- und Herspringen und seitliches Umsetzen). Der Test erfüllt allgemeine Gütekriterien (Bös, 2001). Vergleich der drei Versuchsgruppen bezüglich der Ausgangssituation: Die drei Gruppen unterschieden sich weder im Ausgangsniveau der Grafomotorik (Index GMT) (F = .242; df = 2; p = .785) noch der Körperkoordination (Index KTK) (F = .781; df = 2; p = .460) signifikant voneinander. Auswertungsmethoden Für den Vergleich von zwei Stichproben wurde der t-Test für unabhängige Stichproben verwendet. Um die drei Gruppen hinsichtlich Ausgangssituation zu vergleichen, wurden einfaktorielle Varianzanalysen angewendet. Zur Beantwortung der 1. und 2. Fragestellung wurde eine einfaktorielle Varianzanalyse mit Messwiederholung durchgeführt. Um die 3. Fragestellung zu überprüfen, wurde eine zweifaktorielle Varianzanalyse mit Messwiederholung durchgeführt. Um Alter und Geschlecht zu kontrollieren, wurde eine multivariate Varianzanalyse mit Messwiederholung angewandt. Ein P-Wert von < .05 wurde als statistisch signifikant angenommen. Signifikanzen < .001 wurden als hochsignifikant eingestuft. Die Auswertung der Daten erfolgte mit SPSS (Version 16.0). Ergebnisse Im ersten Schritt wurde untersucht, ob die psychomotorische Intervention G-FIPPS grundsätzlich wirksam ist. Zunächst wurden die Effekte der Intervention G-FIPPS auf die Grafomotorik untersucht. Es zeigte sich, dass ein genereller Effekt der Intervention G-FIPPS auf die Grafomotorik ausgewiesen werden konnte (Tabelle 2). Ein solcher Effekt war aber nicht ausschließlich bei dieser Interventionsform festzustellen, vielmehr konnten in allen drei Gruppen über alle Messzeitpunkte hinweg Verbesserungen in der Grafomotorik konstatiert werden (F = 171.81; df = 2; p < .001; h 2 = .556). Auch in der Gesamtkörperkoordination konnten bei allen drei Gruppen zu allen Messzeitpunkten Verbesserungen nachgewiesen werden (F = 148.63; df = 2; p < .001; h 2 = .562). Prämessung Postmessung Follow-Up M SD M SD M SD EG (n = 53) 101.92 26.35 121.01 18.94 132.66 17.26 KG1 (n = 51) 97.16 28.90 114.23 26.19 122.94 20.60 KG2 (n = 36) 108.11 34.67 120.79 31.51 125.26 29.66 Total (N = 140) 101.78 29.68 118.48 25.33 127.22 22.46 Tabelle 2: Mittelwerte und Standardabweichung des Summenindex Grafomotorik für die drei Versuchsgruppen Anmerkungen: M = Mittelwert, SD = Standardabweichung; EG = Experimentalgruppe (psychomotorische Intervention), KG1 = Kontrollgruppe 1 (konventionelle Intervention), KG2 = Kontrollgruppe 2 (keine Intervention) Effekte einer grafomotorisch-psychomotorischen Intervention 145 Im zweiten Schritt wurde untersucht, ob mit der psychomotorischen Intervention G-FIPPS stärkere Effekte erzeugt wurden als mit den anderen Maßnahmen. Das heißt, ob die Kinder, die an der 12-wöchigen Intervention G-FIPPS teilnahmen (EG), sich hinsichtlich ihrer Entwicklung in der Grafomotorik von den Kindern, die ein konventionelles Schreibtraining erhielten (KG1), und den Kindern, die keine Förderung erhielten (KG2), unterschieden. Tatsächlich zeigten sich im Bereich der Grafomotorik Unterschiede in den Verläufen der drei Gruppen (F = 4.02; df = 4; p = .003; h 2 = .055). Hervorzuheben ist hierbei vor allem die Entwicklung der Experimentalgruppe in der zweiten Hälfte der Untersuchung (Abbildung 2): Während sich die erzielten Effekte in der Interventionsphase der Studie (Präzur Postmessung) nicht signifikant unterschieden (F = 2.02; df = 2; p = .137; h 2 =.029), erzielte die Experimentalgruppe in der Nachuntersuchung (Postmessung zum Follow-Up) signifikant bessere Ergebnisse als die beiden Kontrollgruppen (F = 3.06; df = 2; p = .050; h 2 = .043). Für die Intervention G-FIPPS liegt damit ein deutlicher Hinweis für einen länger andauernden Effekt vor. In Entsprechung zum Bereich der Grafomotorik zeigten sich auch im Bereich der Gesamtkörperkoordination Unterschiede, wenn man untersuchte, ob diese Effekte bei der Gruppe mit G-FIPPS (EG) stärker ausgeprägt waren als bei der Gruppe mit Schreibtraining (KG1) oder ohne Förderung (KG2). Verglich man nun die drei Versuchsgruppen über die Zeit, war ein signifikanter Effekt zu beobachten (F = 3.85; df = 4; p = .005; h 2 = .062). Im Gegensatz zur Entwicklung der Grafomotorik unterschieden sich die körperkoordinativen Ergebnisse der drei Gruppen von der Präzur Postmessung (F = 5.58; df = 2; p = .005; h 2 = .088). In dieser ersten Hälfte der Untersuchung, d. h. während der Interventionsphase, war vor allem die Entwicklung der KG1 auffällig, hier konnte nur ein vergleichsweise geringer Zuwachs konstatiert werden (Abbildung 3). Anmerkungen: Score = Summenindex Grafomotorik. Gruppen: EG = Experimentalgruppe (n = 53; psychomotorische Intervention), KG1 = Kontrollgruppe 1 (n = 51; konventionelle Intervention), KG2 = Kontrollgruppe 2 (n = 36; keine Intervention). Postmessung = 3 Monate nach der Prämessung (bzw. unmittelbar nach der Intervention), Follow-Up = 6 Monate nach der Postmessung. Abbildung 2: Verläufe der drei Versuchsgruppen bezüglich der grafomotorischen Leistungsentwicklung 146 Irene Kranz et al. Im Einzelnen zeigte sich: Der Anstieg der EG war beinahe linear. Auch die KG2 zeigte einen kontinuierlichen Anstieg, jedoch von einem leicht niedrigeren Niveau aus. Im Gegensatz dazu war bei der KG1 (konventionelle Intervention) von der Präzur Postmessung ein signifikant schwächerer Effekt als bei den beiden anderen Gruppen auszumachen. Demzufolge profitierte KG1 kurzfristig wenig in Bezug auf die Körperkoordination. Der Anstieg von der Postmessung zum Follow-Up lag dann aber wieder in der gleichen Größenordnung wie in den beiden anderen Gruppen (F = 0.24; df = 2; p = .787; h 2 = .004). Allerdings wies KG1 bei der Postmessung und beim Follow-Up die tiefsten Werte auf. Die Effekte waren sowohl für die Grafomotorik als auch für die Körperkoordination auch nach Adjustierung für Alter und Geschlecht nachweisbar (Vetter, Kranz, Sammann & Amft, 2009). Im dritten Schritt schließlich wurde untersucht, ob die psychomotorische Intervention G-FIPPS besonders bei Kindern mit niedrigem Ausgangsniveau wirksam war. Das Ausgangsniveau der Stichprobe wurde dafür bei der Prämessung in Quartile unterteilt, wobei die mittleren zwei zusammengefasst wurden. So entstanden jeweils drei Leistungsgruppen. Für die Untersuchung des Leveleffektes wurde zum einen ein Vergleich zwischen den drei Leistungsniveaus innerhalb einer Gruppe und zum andern ein Vergleich zwischen den Niveaus der Gruppen durchgeführt. Diese Vergleiche wurden in den beiden Bereichen Grafomotorik und Gesamtkörperkoordination vorgenommen. Zunächst wurde die Frage untersucht, ob sich Kinder mit niedrigem bzw. hohem Ausgangsniveau im Bereich der Grafomotorik unterscheiden. Es zeigte sich, dass Kinder mit tiefen grafomotorischen Ausgangswerten signifikant größere Fortschritte machten als Kinder, die mittlere oder hohe Ausgangswerte erzielten (F = 161.8; df = 2; p < .001; h 2 = .712). Anmerkungen: Score = Summenindex Gesamtkörperkoordination. Gruppen: EG = Experimentalgruppe (n = 45; psychomotorische Intervention), KG1 = Kontrollgruppe 1 (n = 45; konventionelle Intervention), KG2 = Kontrollgruppe 2 (n = 29; keine Intervention). Postmessung = 3 Monate nach der Prämessung (bzw. unmittelbar nach der Intervention), Follow-Up = 6 Monate nach der Postmessung. Abbildung 3: Verläufe der drei Versuchsgruppen bezüglich der gesamtkörperkoordinativen Leistungsentwicklung Effekte einer grafomotorisch-psychomotorischen Intervention 147 Auch die Interaktion zwischen den beiden Faktoren „Gruppe“ und „Leistungsniveau“ war signifikant (F = 4.02; df = 4; p = .004; h 2 = .109). Die Experimentalgruppe zeigt auf allen drei Leistungsniveaus die größten Verbesserungen, am stärksten jedoch in der Gruppe mit dem niedrigsten Ausgangslevel (Abbildung 4). Auch in der Gesamtkörperkoordination machten die leistungsschwachen Kinder größere Fortschritte als leistungsstarke Kinder (F = 54.03; df = 2; p < .001; h 2 = 496). Die Interaktion zwischen den beiden Faktoren „Gruppe“ und „Leistungsniveau“ zeigte hier allerdings keine Signifikanz (F = 1.40; df = 4; p = .239; h 2 = .048). Auch über die einzelnen Messzeitpunkte hinweg waren bei den drei Leistungsniveau-Gruppen jeweils keine signifikanten Unterschiede festzustellen (F = 0.45; df = 8; p = 887; h 2 = .016). Die geringsten Fortschritte konnten dabei in allen drei Leistungsniveau-Stufen bei KG1 beobachtet werden. Diskussion Ziel der vorliegenden Studie war es, die Wirksamkeit der Förderkonzeption G-FIPPS einschätzen zu können. Dabei sind zwei Formen der Wirksamkeit zu unterscheiden: Zum einen gibt es deutliche Hinweise bezüglich einer grundsätzlichen Wirksamkeit der psychomotorischen Intervention. Die Ergebnisse zeigen in ihrer Gesamtheit, dass eine psychomotorisch geprägte grafomotorische Förderung den Schreiblernprozess besser unterstützen kann als ein herkömmliches Schreibtraining. Kinder aus der Gruppe mit G-FIPPS profitieren sowohl in Bezug auf ihre grafomotorischen als auch auf ihre körperkoordinativen Kompetenzen mehr als die Gruppe mit Schreibtraining. Diejenigen Kinder, die an der psychomotorischen Intervention G-FIPPS teilnahmen, zeigten auf längere Sicht signifikant stärkere grafomotorische Fortschritte als Kinder, die eine andere bzw. keine Förderung bekamen. Dass zudem alle Anmerkungen: Score = Summenindex Grafomotorik der drei Leistungsgruppen mit niedrigem Ausgangsniveau. Gruppen: EG = Experimentalgruppe (n = 9; psychomotorische Intervention), KG1 = Kontrollgruppe 1 (n = 13; konventionelle Intervention), KG2 = Kontrollgruppe 2 (n = 7; keine Intervention). Postmessung = 3 Monate nach der Prämessung (bzw. unmittelbar nach der Intervention), Follow-Up = 6 Monate nach der Postmessung. Abbildung 4: Verläufe der drei Leistungsgruppen mit niedrigem Ausgangsniveau bezüglich ihrer grafomotorischen Leistungsentwicklung 148 Irene Kranz et al. drei Versuchsgruppen Fortschritte erzielen, war zu erwarten, denn auch die Gruppe ohne spezifische Förderung hat durch die wiederholte Testanwendung einen Übungseffekt und damit eine Form von Intervention erfahren. Dazu kommt, dass der Kindergartenalltag typischerweise sowohl grafomotorische als auch körperkoordinative Sequenzen beinhaltet. Kinder im Vorschulalter befinden sich zudem in einem sensiblen Alter verschiedenste Entwicklungsbereiche betreffend. Durch das Zusammenspiel von Entwicklungsumwelt einerseits und körperlicher Reifung und Entwicklung andererseits verbessern sich sowohl grafomotorische als auch körperkoordinative Fähigkeiten kontinuierlich. Die vorliegenden Ergebnisse stehen im Einklang mit den Resultaten von Stachelhaus (2003), die in ihrer Studie signifikante Verbesserung einer psychomotorisch geförderten Gruppe von Erstklässlern gegenüber zwei Kontrollgruppen feststellen konnte. Die Fortschritte waren sowohl nach der 10-wöchigen Intervention als auch sechs Monate nach der Intervention noch deutlich sichtbar. Mit den vorliegenden Ergebnissen können die von Stachelhaus gefundenen Effekte für Schüler auch für Vorschulkinder bestätigt werden. Bestärkt werden die Ergebnisse auch durch Kambas (1998) und Aggeloussis et al. (1999 (Original in Griechisch); zitiert nach Kambas & Aggeloussis, 2004), die eine signifikante positive Veränderung in der grafomotorischen Leistungsfähigkeit bei griechischen Vorschulkindern nach Anwendung eines psychomotorischen Übungsprogramms gegenüber den Kontrollgruppen feststellen konnten. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass die erzielten Fortschritte nicht auf Kosten anderer wesentlicher Fähigkeiten gehen. So zeigt sowohl die Gruppe G-FIPPS als auch die Gruppe ohne besondere Förderung in Bezug auf die Körperkoordination einen konstanten Leistungsanstieg. Die beiden Gruppen unterscheiden sich unmittelbar nach der Interventionsphase deutlich von der Gruppe mit Schreibtraining, die für die Körperkoordination wenig profitierte. Im Gegenteil, das Schreibtraining scheint kurzfristig sogar eine kontraproduktive Wirkung auf die Entwicklung der Körperkoordination zu entfalten. Die Gruppe ohne spezifische Förderung weist zwar im Bereich der Körperkoordination einen sehr ähnlichen Verlauf wie die Gruppe mit G- FIPPS auf, die Verbesserungen bezüglich der Grafomotorik sind jedoch deutlich geringer. Weil die Intervention G-FIPPS primär auf die grafomotorische Entwicklungsförderung hin konzipiert wurde, wird indes auch nachvollziehbar, warum keine längerfristigen körperkoordinativen Entwicklungseffekte erzielt werden. Die Wirkung der Intervention scheint also spezifisch. Der in der Theorie verankerte Vorteil einer bewegungs- und entwicklungsorientierten Intervention, die grafomotorische Förderung als einen mehrdimensionaler Prozess betrachtet (Schäfer, 2006; Wendler, 2007), gegenüber einer funktionalen Gestaltung des Schreibenlernens (z. B. via Schreibtraining) kann untermauert werden. Auch die Vermutung von Schilling (2006), dass konventionelle Schreiblernprogramme zu wenig berücksichtigen, dass Schulanfänger meist ganz unterschiedliche Entwicklungsvoraussetzungen auf sensorischer und motorischer Ebene mitbringen und daher oft ungeeignet sind, lässt sich bestätigen. Die spezifischen Charakteristika psychomotorischer Interventionen scheinen diese zudem für Kinder besonders attraktiv zu machen. Psychomotorische Angebote sind per se flexibel und variierbar angelegt und ziehen die individuelle Ausgangslage und Persönlichkeit der Kinder mit ein. Schreibenlernen kann wirklich „gespielt werden“ und dieses Spiel muss nicht unbedingt mit Schreiben zu tun haben (Kambas 1998 (Original in Griechisch); zitiert nach Kambas & Aggeloussis, 2004, S. 155). Darüber hinaus liegt der Fokus psychomotorischer Interventionen immer auch auf der Entwicklung des Selbstwertgefühls, des Selbstvertrauens und der Selbstwirksamkeit, was sie zu einem bevorzugten Ansatz für die Praxis macht (Zimmer et al., 2008). Dies kor- Effekte einer grafomotorisch-psychomotorischen Intervention 149 respondiert mit den Befunden von Kambas & Aggeloussis (2004), wonach es zu Ärger und Aggression kommen kann, wenn bei einer grafomotorischen Förderung der Bewegungsdrang der Kinder nicht genügend berücksichtigt wird. Ausgewählte Befunde der vorliegenden Studie weisen aber auch auf eine mögliche primärpräventive Wirksamkeit psychomotorischer Maßnahmen hin. Um den Aspekt der Primärprävention erfassen zu können, wurden die Entwicklungen von Kindern mit niedrigem bzw. hohem Ausgangsniveau in den beiden untersuchten Dimensionen miteinander verglichen. Dabei zeigte sich: Die Gruppe mit G-FIPPS erzielt in der Grafomotorik auf allen drei Leistungsniveaus die größten Verbesserungen, am meisten aber in der Gruppe mit dem niedrigsten Ausgangsniveau. Jene Kinder also, die zu Studienbeginn die schwächsten Leistungen zeigen, verzeichnen sowohl in der Grafomotorik als auch in der Körperkoordination die größten Fortschritte. Die G-FIPPS Intervention scheint damit den bildungspolitisch geforderten primärpräventiven Effekt zu erzielen. Selbstverständlich sind einige forschungsmethodische Einschränkungen zu berücksichtigen. So können neben den untersuchten, spezifischen Faktoren auch andere, unspezifische Faktoren zu den Effekten beitragen (z. B. familiäre und persönliche Voraussetzungen der Kinder, deren Freizeitaktivitäten und die Beziehungen bzw. Interaktionsweisen zwischen den beteiligten Personen, deren Einstellung etc.). Zudem ist die Wirkung einer psychomotorischen Förderung vor allem auch in der positiven Veränderung der Motivation und des Selbstkonzepts, der Stabilisierung der Persönlichkeit und der Beeinflussung von sozialen Beziehungen sowie in Effekten bei der Steigerung der Eigenaktivität und Eigenverantwortung zu sehen (Eggert, 2005). Ferner muss angemerkt werden, dass bei einer Primärprävention der Effekt allgemein geringer ist, da auch die Prävalenz kleiner ist als in einer betroffenen Population (d. h. bei Kindern, die schon eine Therapie besuchen). Es bedarf weiterer Studien zu diesem Themenkomplex, insbesondere solche, die auch die Langzeitwirkung auf das Schreiben- und Lesenlernen überprüfen (Schilling, 2005). Einleitend wurde ausgeführt, dass es wichtig wäre, sich bei der Ressourcenverteilung für präventive und integrative Maßnahmen auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu beziehen. Auch aktuelle bildungspolitische Forderungen, denen zufolge der Unterricht vermehrt nach psychomotorischen Gesichtspunkten ausgerichtet werden sollte, z. B. durch das Einbringen von grafomotorischen Förderansätzen in den Schreibunterricht, sind auf empirische Befunde angewiesen. Die vorliegende Studie möchte einen Beitrag zu dieser empirischen Grundlegung leisten. Sie gibt Hinweise darauf, dass der Einsatz einer gezielt psychomotorisch geprägten grafomotorischen Förderung, im Gegensatz zu Schreibtrainings oder dem normalen Kindergartenalltag, zu einer verbesserten grafomotorischen Entwicklung im Vorschulalter beitragen kann. Diese Befunde empfehlen und stützen die Anwendung psychomotorischer Interventionen wie der G-FIPPS-Konzeption im Vorschulalter bzw. im schulischen Anfängerunterricht (Kindergarten, Basis- und Grundstufe, 1. Klasse). Anmerkungen 1 Acknowledgments: Wir danken den beteiligten Kindergärtnerinnen und Psychomotoriktherapeutinnen für ihre Mitarbeit. Für die Unterstützung bei der Datenauswertung danken wir Achim Hättich und Martin Venetz. Lorenz Risch und Dominik Gyseler danken wir für die hilfreichen Anmerkungen zur Überarbeitung des Manuskripts. 2 Die Psychomotorik ist in der Schweiz Teil des öffentlichen Bildungsauftrags und im Bereich des sonderpädagogischen Grundangebots der Volksschule angesiedelt (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, 2007). Der Psychomotorik kommen dabei folgende Aufgaben zu (Bildungsdirektion des Kantons Zürich, 2007): a) fallbezogenen Interventionen (Abklärung, Indikation, ambulante Therapie etc.) und b) fachbezogene Interventionen (Fachberatung, fachbezogene interdisziplinärer Zusammenarbeit und präventive Interventionen, d. h. Arbeit in und mit Klassen). Als präventive Maßnahme wird die Psychomotorik schwerpunktmäßig auf der Kindergarten- und Unterstufe eingesetzt. 150 Irene Kranz et al. 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Karoline Sammann Hochschule für Heilpädagogik Zürich Departement pädagogisch-therapeutische Berufe E-Mail: karoline.sammann@hfh.ch Prof. Susanne Amft Hochschule für Heilpädagogik Zürich Departement pädagogisch-therapeutische Berufe E-Mail: susanne.amft@hfh.ch Prof. Dr. Martin Vetter Hochschule für Heilpädagogik Zürich Departement pädagogisch-therapeutische Berufe E-Mail: martin.vetter@hfh.ch
