eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 59/4

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2012
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Frühe Hilfen durch "Keiner fällt durchs Netz" - Ein Modellprojekt zur psychosozialen Prävention für Familien mit Kindern im ersten Lebensjahr

101
2012
Andreas Eickhorst
Anna Sidor
Britta Frey
Manfred Cierpka
Das Projekt "Keiner fällt durchs Netz" mit seinen Bestandteilen Netzwerkbildung, Elternkurs (Komm-Struktur) und aufsuchende Hilfen durch Familienhebammen und Kinderkrankenschwestern (Geh-Struktur) wird als ein Beispiel Früher Hilfen in Deutschland vorgestellt. Ausschnitte aus den Strukturen und Fallzahlen der Vermittlung und Koordinierung der Hilfen, inhaltliche Erkenntnisse aus drei Jahren Laufzeit als Modellprojekt des "Nationalen Zentrums Frühe Hilfen" (NZFH) sowie erste vorläufige Ergebnisse aus der begleitenden Wirksamkeitsevaluation werden präsentiert. Die Komplexität der Vermittlungsmechanismen sowie die positive Wirkung der angebotenen Hilfen auf die soziale Entwicklung der Kinder, die wahrgenommene mütterliche Belastung durch das Baby sowie auf depressive Symptome der Mütter werden deutlich. Erläuterte inhaltliche Kernpunkte des Projektes sind die Familienhebammen als Berufsgruppe, die zentrale Rolle der Koordinierungsstellen in den Projektkreisen sowie der sich verändernde Präventionscharakter der angebotenen Hilfen.
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n Empirische Arbeit Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2012, 59, 290 - 302 DOI 10.2378/ peu2012.art22d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Frühe Hilfen durch „Keiner fällt durchs Netz“ Ein Modellprojekt zur psychosozialen Prävention für Familien mit Kindern im ersten Lebensjahr Andreas Eickhorst, Anna Sidor, Britta Frey, Manfred Cierpka Universitätsklinikum Heidelberg Early Prevention via “Nobody slips through the Net” for Families at Risk Summary: The German early prevention project „Nobody slips through the Net“ is one of ten model projects of the “National Centre for Early Prevention” (“Nationales Zentrum Frühe Hilfen”). “Nobody slips through the Net” consists of several components: on the one hand families at risk are visited at their homes by family-midwifes or children’s nurses, on the other hand a great focus lies on interdisciplinary networking. A third component is the parental course “Understanding your Baby”. In the following, the project’s main structures as well as information about the organization and coordination will be given. Some central points of the project will be described in more detail: family midwifes as a relatively new occupational group, the central role of the local coordinators and ongoing changes of the project related to the specific characteristics of prevention. Furthermore, first project data and first results from the project’s evaluation will be presented. They will shed light on the complexity of organizing the help, but as well on the positive impacts the work has on the children’s social development. Further, they show that the home visits do have an effect on the maternal perception of stress and on the mothers’ depressive symptoms. The implications for the ongoing work will be discussed. Keywords: Early Prevention, networking, parental course, family midwifes, effectiveness Zusammenfassung: Das Projekt „Keiner fällt durchs Netz“ mit seinen Bestandteilen Netzwerkbildung, Elternkurs (Komm-Struktur) und aufsuchende Hilfen durch Familienhebammen und Kinderkrankenschwestern (Geh-Struktur) wird als ein Beispiel Früher Hilfen in Deutschland vorgestellt. Ausschnitte aus den Strukturen und Fallzahlen der Vermittlung und Koordinierung der Hilfen, inhaltliche Erkenntnisse aus drei Jahren Laufzeit als Modellprojekt des „Nationalen Zentrums Frühe Hilfen“ (NZFH) sowie erste vorläufige Ergebnisse aus der begleitenden Wirksamkeitsevaluation werden präsentiert. Die Komplexität der Vermittlungsmechanismen sowie die positive Wirkung der angebotenen Hilfen auf die soziale Entwicklung der Kinder, die wahrgenommene mütterliche Belastung durch das Baby sowie auf depressive Symptome der Mütter werden deutlich. Erläuterte inhaltliche Kernpunkte des Projektes sind die Familienhebammen als Berufsgruppe, die zentrale Rolle der Koordinierungsstellen in den Projektkreisen sowie der sich verändernde Präventionscharakter der angebotenen Hilfen. Schlüsselbegriffe: Frühe Hilfen, Netzwerkarbeit, Elternkurse, Familienhebammen, Wirksamkeit Das Projekt „Keiner fällt durchs Netz“ (KfdN) ist ein an insgesamt elf Standorten (jeweils komplette Gebietskörperschaften 1 , darunter mit dem Saarland ein gesamtes Bundesland) vertretenes Projekt zur primären und sekundären Prävention von Belastungen in Familien mit Säuglingen. Seine Angebote fallen unter die Frühen Hilfen und es ist eines der bundesweit zehn vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) geförderten Modellprojekte, die wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden (Übersicht in Eickhorst, 2008 oder Beitrag von Sann in diesem Heft). Es wurde am Universitätsklinikum Heidelberg entwickelt (Cierpka, Frühe Hilfen durch „Keiner fällt durchs Netz“ 291 2009 a), um in möglichst vielen Gebietskörperschaften (Landkreisen oder kreisfreien Großstädten) die bereits bestehenden lokalen Strukturen der Frühen Hilfen zu ergänzen und zu optimieren. Um eine gute Entwicklung in der frühen Kindheit zu unterstützen, soll die Lebenssituation aller und insbesondere der sogenannten „hoch belasteten Familien“ mit Kindern im Säuglings- und Kleinkindalter in den Blick genommen werden. Zur Zeit der Entstehung von KfdN und der anderen Modellprojekte des NZFH war die Situation der Frühen Hilfen in Deutschland die, dass es zwar eine Reihe einzelner, kleinerer Projekte und konkurrierender Ansätze gab, diese miteinander aber wenig in Kontakt standen, oftmals auch nur Einzelaspekte abdeckten und keinerlei überprüfbare Informationen zu ihrer Wirksamkeit vorlagen. Ziel der Modellprojekte war es deshalb auch, einzeln und gemeinsam passgenaue und evaluierbare Maßnahmen anzubieten, die sich kombinieren und zum Wohle der Familien fortwährend weiterentwickelt werden (vgl. Cierpka, 2012). Hintergrund des Projektes Der Schwerpunkt des Projekts „Keiner fällt durchs Netz“ liegt auf frühen Interventionen, also möglichst noch in der Schwangerschaft oder sofort nach der Geburt. Schwierige Bedingungen in der frühen Kindheit können die Entwicklung eines Menschen in vielfältiger Weise einschränken, daher sollte die Prävention bereits bei der Förderung der Reifungsbedingungen für die Kinder am Anfang ihres Lebens beginnen (vgl. Egle & Cierpka, 2006). Verschiedenste Projekte im internationalen Raum mit erfolgter Evaluation konnten bisher die Relevanz präventiver Ansätze in der frühen Kindheit zeigen (z. B. Asscher et al., 2008; Olds, 2006; Olds et al., 1999; Osofsky et al. 2007). An diesen erfolgte eine inhaltliche Orientierung in wichtigen Fragen bei der Entwicklung von „Keiner fällt durchs Netz“, insbesondere am US-amerikanischen „Early Head Start“-Programm (CPPRG, 1992). Ein Merkmal hoch belasteter Familien ist es, dass sie sich durch das Vorhandensein mehrerer gleichzeitig auftretender Belastungsfaktoren auszeichnen. Viele dieser Faktoren haben sich im Rahmen prospektiver Longitudinalstudien sowie sorgfältiger retrospektiver Studien Risikofaktoren als mit einer hohen Wahrscheinlichkeit prädiktiv für ungünstige Langzeitfolgen für die kindliche Entwicklung erwiesen, so etwa beispielsweise für depressive Erkrankungen, Angsterkrankungen und Sucht im Lebensverlauf (Kendler et al., 2000) oder auch einem gehäuften Auftreten von Suizidversuchen im Erwachsenenalter (Hardt et al., 2008). Zusammenfassend wurden unter anderem die folgenden empirisch gesicherten und häufig auftretenden biografischen Belastungsfaktoren identifiziert (Auswahl nach Egle & Hardt, 2005), die auch bei KfdN im Fokus der Aufmerksamkeit stehen: Belastungen aufseiten der Eltern - Persönliche Belastung der Eltern/ der Familie (z. B. psychische Störungen der Eltern, hohe Konfliktrate in der Partnerschaft, chronisch krankes Geschwisterkind) - geringe Schulbildung der Eltern - Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils - Arbeitslosigkeit - Autoritäres väterliches oder mütterliches Verhalten - Sexueller und/ oder aggressiver Missbrauch der Eltern - Sexueller und/ oder aggressiver Missbrauch in der Autobiografie eines der oder beider Elternteile Belastungen aufseiten der Kinder - Altersabstand zum nächsten Geschwister < 18 Monate - Persönliche Belastungen des Kindes (z. B. Behinderung, Frühgeburt, chronische Erkrankung) - Unsicheres Bindungsverhalten nach 12./ 18. Lebensmonat 292 Andreas Eickhorst et al. Soziale Belastungen der Familie insgesamt - Soziale Belastungen (z. B. wenig soziale Integriertheit, kriminelles oder dissoziales Umfeld) - Materielle Belastungen (z. B. Arbeitslosigkeit, Wohnraumenge) - Ein-Eltern-Familie - Hohe kumulative Risiko-Gesamtbelastung Arbeitsweise und Bausteine des Projektes Das Projekt sieht zur Erreichung der stark belasteten Familien vor, zunächst einmal die vorhandenen Risikokonstellationen anhand der oben genannten Kriterien zu identifizieren 2 . Danach soll ein möglichst niedrigschwelliger Zugang zu der Familie hergestellt werden, sodass die Chance der Annahme des Hilfsangebotes erhöht wird. In der Zeit unmittelbar vor und nach der Geburt sind es die Hebammen, die GynäkologInnen, die KinderärztInnen, das Pflegepersonal auf den Entbindungsstationen und auch die Mitarbeiter des Jugendamtes (wenn die Familien schon bekannt sind), die im Kontakt mit (werdenden) Eltern stehen und Risiken erkennen können. Deshalb werden diese Fachkräfte im Rahmen des Projektes durch Schulungen und Vorträge besonders unterstützt, um ihre Wahrnehmung von psychosozialen Belastungsfaktoren in Familien stärker als bisher zu fördern und durch Instrumente zu unterstützen. Nach einem ersten Kennenlernen und Einschätzen der Familie erfolgt die Vermittlung zu einer für die Familie angemessenen Intervention. Dabei wird zum einen auf in den Projektgebieten bereits vorhandene Angebote und Ressourcen zurückgegriffen. Darüber hinaus bietet „Keiner fällt durchs Netz“ auch eigene und zum Teil neue Angebote an. Dabei handelt es sich vornehmlich um die drei Bausteine: den Arbeitskreis „Netzwerk für Eltern“, den Elternkurs „Das Baby verstehen“ sowie die aufsuchende Hausbesuchsstruktur mit Familienhebammen und Kinderkrankenschwestern. Neben diesen grundlegenden Angeboten ist es ein besonderes Ziel von KfdN, die Väter in den Familien von Beginn an in die aufsuchende Arbeit zu integrieren (vgl. den Beitrag von Frey et al. in diesem Heft). Im Folgenden sollen die drei Hauptbausteine einzeln vorgestellt werden (nach Cierpka, 2009 a). Die Abbildung 1 zeigt schematisch das Zusammenspiel der Projektstrukturen von KfdN. 1. Schritt Herstellung eines Zugangs zur Familie und Anbindung an Hebammen Medizinische Vorsorge Geburtsstationen Psychosoziale Vorsorge Hausbesuche durch eine Hebamme + Screening und bei Bedarf Vermittlung zu einer angemessenen Intervention Vorerst kein weiterer Hilfebedarf Frühinterventionseinrichtungen oder Kommstruktur Eltern- Seminar „Das Baby verstehen“ Gehstruktur Aufsuchendes Angebot „Das Baby verstehen“ 2. Schritt Identifizierung einer Risikokonstellation und basale Kompetenzförderung 3. Schritt Vermittlung an bedarfsgerechte Interventionen Abb. 1: Projektstrukturen bei „Keiner fällt durchs Netz“ Frühe Hilfen durch „Keiner fällt durchs Netz“ 293 Das „Netzwerk für Eltern“ Alle an der Prävention und Intervention in der frühen Kindheit beteiligten Institutionen und Berufsgruppen treffen sich regelmäßig (beispielsweise einmal im Quartal) in dem Arbeitskreis Netzwerk für Eltern. Ziel des Arbeitskreises ist die Lenkung der Präventionsmaßnahmen, d. h. die Optimierung der Identifikation belasteter Familien und die Hilfsvermittlung. Dreh- und Angelpunkte des Netzwerks sind der Koordinator bzw. die Koordinatorin des jeweiligen Projektstandortes. Die Koordinatoren regeln den Informationsaustausch zwischen den einzelnen Stellen und leiten geeignete Schritte zur Intervention in die Wege, was fortwährend stattfindet (siehe Abbildung 2 als Überblick über die beteiligten Institutionen). Die Vermittlung an dieser Schnittstelle ist ein entscheidender Prozess, für dessen Gelingen Kenntnisse über die Institutionen vor Ort vorhanden sein und die Vermittler über gute Gesprächsführungskompetenzen verfügen müssen. Für hier passende und zu vermittelnde frühe Interventionen bestehen unter anderem auf gesetzlicher Grundlage folgende Möglichkeiten an frühen Interventionen: a) Beratung der Eltern: Eltern-Säuglings-/ Kleinkind-Beratung an Familienberatungsstellen, Kinderkliniken, Kinder- und Jugendpsychiatrien, Psychosomatischen Kliniken, Sozialpädiatrischen Zentren, Frühförderstellen etc. b) Stationäre Angebote: - betreutes Mutter-Kind-Wohnen - Mutter-Kind-Einheiten an psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken bei postpartalen psychischen Erkrankungen der Mütter - vereinzelt auch stationäre Angebote bei frühkindlichen Regulationsstörungen c) Aufsuchende Angebote - Sozialpädagogische Familienhilfe - Hebamme im Rahmen der Regelversorgung - Familienpfleger/ in Hebammen KinderärztInnen FrauenärztInnen Beratungsstellen Geburtshilfliche Stationen Gesundheitsamt Sozialamt Jugendamt ASD Uniklinikum HD Familienhebammen KoordinatorIn Netzwerk für Eltern Abb. 2: Netzwerkgrafik „Keiner fällt durchs Netz“ 294 Andreas Eickhorst et al. Der Elternkurs „Das Baby verstehen“ (Kommstruktur) Der in Heidelberg am Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie entwickelte Elternkurs „Das Baby verstehen“ (Cierpka, 2004; www.focus-familie.de) sieht Begleitung und Unterstützung durch Hebammen noch während der Schwangerschaft und während der ersten Zeit nach der Geburt vor, um werdende Eltern für die kindlichen Signale zu sensibilisieren. Dieser Kurs wird allen Eltern, also nicht nur solchen mit identifizierten Belastungsmerkmalen, angeboten. Er stellt damit ein klassisches Angebot primärer Prävention dar. Neben der Sensibilisierung der teilnehmenden Eltern für die Kommunikationsmöglichkeiten bzw. Signale der Säuglinge sind auch die Themen Selbstfürsorge, Veränderungen in der Partnerschaft sowie der Umgang mit regulativen Schwierigkeiten der Kinder Themen des Kurses. Dabei ist die klassische Vorgehensweise ein von Hebammen, Krankenschwestern oder anderen Berufsgruppen, die im frühkindlichen Bereich tätig sind, geleitetes Seminarangebot über fünf Abende, zu dem die Mütter und Väter aktiv kommen (Kommstruktur). Der Kurs wurde in den Jahren 2003 und 2004 mit unterstützender Finanzierung der Karl-Kübel-Stiftung als Frühinterventions-Projekt konzipiert. Hebammen bieten die Kurse unter anderem im Rahmen der Schwangerschaftsvorbereitung an und setzen sie nach der Geburt des Babys fort. In den letzten Jahren konnte das Programm erfolgreich in der Praxis umgesetzt werden; seine Begleitung mit Fragebögen ergab eine gute Akzeptanz sowohl bei den teilnehmenden Eltern als auch bei den Hebammen. Seither werden in verschiedenen Regionen Deutschlands fortlaufend Elternkurse angeboten. Eine Wirksamkeitsevaluation wurde durchgeführt und befindet sich derzeit in der Abschlussphase (Köhler, in Vorb.). Die Familienhebammen (Gehstruktur) Im Fokus der aufsuchenden Arbeit in KfdN steht die Berufsgruppe der Familienhebammen. Dies sind erfahrene Hebammen, die durch ein spezifisches Curriculum des Heidelberger Universitätsklinikums in Zusammenarbeit mit den Landeshebammenverbänden Hessen und Saarland (Umfang knapp 200 Stunden) zur Familienhebamme fortgebildet wurden, so dass sie Aufgaben wahrnehmen, die über die üblichen Leistungen von Hebammen hinausgehen: Neben den originären Tätigkeiten der Hebamme wie Vorsorge, Geburtsvorbereitung und -begleitung, Wochenbettbetreuung, Nachsorge und Stillberatung sind dies die Förderung des Selbsthilfepotenzials der Familien, eine Beratung in entwicklungspsychologischen Fragen, die Unterstützung der Eltern bei Unsicherheiten in Bezug auf das „Handling“ des Kindes und auf den Umgang mit der Gesamtsituation, Aufklärung über und Vermittlung zu weiterführenden Diensten wie z. B. Sozialamt, Jugendamt oder medizinischer Versorgung 3 sowie auch das Erkennen von Hinweisen auf Kindswohlgefährdung und die damit zusammenhängenden rechtlichen Fragen. Die Berufsgruppe der Hebammen wurde insbesondere deshalb für diese Gehstruktur des Projektes ausgewählt, da sie bekannt und beliebt ist und somit von den Familien nicht als Stigmatisierung erlebt wird. Somit kann sie in den Familien ein Vertrauensverhältnis herstellen, das es ihr ermöglicht, wichtige Motivationsarbeit zu leisten, indem sie Angst- und Schamgefühle vor der Inanspruchnahme vor weiteren Unterstützungsangeboten abschwächt. Durch diese „Gehstruktur“, d. h. dass die Familienhebammen die Familien in ihrem häuslichen Umfeld aufsuchen, ist die Schwelle, die es durch eigene Initiative der Familie zu überwinden gilt, minimal, sodass die Familienhebammen am ehesten zur zentralen Bezugs- und Unterstützungsperson insbesondere für die Mütter werden können. Zu Beginn der Betreuung der Familienhebamme führt diese ein zusätzliches Screening der Belastungsfaktoren der Familie durch. Hiermit gewinnt sie einen noch umfassenderen Eindruck über die spezifische Situation der Familie. Die Familienhebamme kann sich im häuslichen Umfeld einen Eindruck sowohl über die ausbaufähigen Res- Frühe Hilfen durch „Keiner fällt durchs Netz“ 295 sourcen der Familie als auch über Gefahren und Risiken verschaffen. Auf dieser Basis können die Familienhebammen mit Unterstützung der lokalen Koordinationsstelle sowie des Netzwerks für Eltern die für die jeweiligen Familien passenden und akzeptablen Unterstützungsmöglichkeiten finden und in die Wege leiten. Die aufsuchende Arbeit der Familienhebamme erstreckt sich maximal über das gesamte erste Lebensjahr des Kindes und findet bei Familien statt, bei denen im Rahmen des Kontaktes zu den Netzwerkpartnern von KfdN (siehe oben) bereits Belastungsmerkmale festgestellt wurden, es handelt sich also um eine Komponente der sekundären Prävention. Dass die KfdN-Familienhebammen mitunter öfter in den Haushalt kommen, dort ein breiteres Aufgabenspektrum wahrnehmen und über eine längere Zeitspanne bleiben als die regulären Hebammen, soll den Charakter einer positiven Ergänzung haben (vertiefend z. B. Cierpka, 2009 b; Schneider, 2009 oder Schneider, 2007). Seit einiger Zeit werden als Ergänzung an vielen Projektstandorten auch (ebenfalls gezielt fortgebildete) Kinderkrankenschwestern eingesetzt, die eine ähnliche Rolle wie die Familienhebammen einnehmen und insbesondere einen Blick auf die physische Gesundheit der Säuglinge legen können 4 . Einbindung in bestehende Strukturen Ein Ziel, das aktuell verfolgt wird (und in einigen Projektgebieten auch schon umgesetzt ist), ist die Integration der Angebote des Projektes nach Ende der Projektlaufzeit in die Regelversorgung der Kommunen. Dies bedeutet auch, dass die Angebote und Strukturen der frühen Hilfen zukünftig über die Kommunen (z. B. durch den Etat der Jugendhilfe) aufgebracht werden. Das in 2012 verabschiedete Bundeskinderschutzgesetz bietet in diesem Zusammenhang Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung für die Kommunen. Durch diese regelfinanzierte Weiterführung kann gewährleistet werden, dass a) alle vorhandenen personellen Kräfte und materiellen Ressourcen effektiv genutzt werden können, b) keine Strukturen mehrfach aufgebaut werden und Arbeit doppelt geleistet wird, c) gegenseitiger Austausch von Ressourcen und Wissen ermöglicht wird, d) Synergieeffekte genutzt werden können und auf diese Weise mit den vorhandenen Möglichkeiten der größte Nutzen erzielt werden kann. Insbesondere das in diesem Projekt zentrale „Netzwerk für Eltern“ stellt eine Schnitt- und Vernetzungsstelle mit weiteren Institutionen, Projekten sowie sonstigen Beteiligten dar. Auch im Rahmen des neuen Bundeskinderschutzgesetzes spielt ein solches Netzwerk eine große Rolle. Die bisherigen Projektstandorte können also den Vorteil ihres bereits bestehenden Netzwerks und der dort bereits stattgefundenen jahrelangen Arbeit nutzen. Das Projekt wird in allen Phasen von der Universitätsklinik Heidelberg, Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie begleitet, evaluiert und supervidiert. Ausgewählte Daten zu den Vermittlungsabläufen Die nachfolgenden Daten, die sich auf das komplette Bundesland Saarland beziehen, sollen einen Einblick in die Vermittlungsdimensionen und -strukturen ermöglichen (für eine ausführlichere Darstellung siehe Borchardt et al., 2010). So konnten im berichteten Zeitraum (Frühjahr 2008 bis Ende 2010) in den sechs Landkreisen 721 belastete Familien durch Familienhebammen unterstützt werden. Insgesamt fanden in dieser Zeit 9769 projektfinanzierte Hausbesuche statt, was einer Quote von ca. 14 Besuchen pro Familie entspricht. Die Abbildung 3 veranschaulicht die Inhalte der Hausbesuche, die sich lediglich zu 28 % auf "Medizinische Versorgung", also eine originäre Aufgabe der nachsorgenden Hebamme, beziehen. 296 Andreas Eickhorst et al. Dagegen umfassen die verbleibenden 72 % Inhalte aus dem eher psychosozialen Bereich, was als ein Hinweis auf die stark psychosoziale Ausrichtung der Projekthebammen und ihre inhaltliche Erweiterung des üblichen Hebammenspektrums gesehen werden kann. Konkret wurde in fast einem Drittel aller Fälle an der Selbstfürsorge der Eltern gearbeitet, gefolgt von der Förderung der Eltern bezüglich des Erkennens und Interpretierens kindlicher Signale im Allgemeinen und kindlicher Stresssignale insbesondere. Die zuzuordnenden Inhalte orientieren sich an der (didaktisch angepassten) aufsuchenden Variante des Elternkurses „Das Baby verstehen“, welche die Familienhebammen in den Hausbesuchen durchführen (vgl. Abb. 3 und Frey et al. in diesem Heft). Insgesamt wurden 830 Anfragen an das Projekt gezählt. Eine Anfrage besteht in einer Kontaktaufnahme bezüglich einer bestimmten Familie zu den ProjektkoordinatorInnen, was nicht zwangsläufig in einen durch aufsuchende Arbeit betreuten Fall mündet; oftmals lassen sich auch andere Hilfsmaßnahmen im Rahmen der Frühen Hilfen einleiten (z. B. Weitervermittlung an eine Frühfördereinrichtung). Dabei veranschaulicht die Abbildung 4 grafisch, dass die meisten Anfragen (220 Anfragen; 27 %) aus der Berufsgruppe der Nachsorgehebammen stammen. Eine mögliche Erklärung hierfür ist der landkreisübergreifende intensive Austausch zwischen den Familienhebammen, welche auch in der Schwangerenvor- und Nachsorge tätig sind mit den regulär im Gesundheitswesen tätigen Hebammen. Hier könnte sich auch der gute Zugang zeigen, den die Hebammen zu den von ihnen im Rahmen der Vor-/ Nachsorge betreuten Familien haben, von denen dann einige aufgrund des Vertrauensverhältnisses weiteren Hilfsbedarf signalisieren und annehmen. Weiterhin haben die Geburtskliniken einen Anteil von rund 23 % (192) an den Anfragen. Weitere 8 % (66) der Kontakte resultieren aus Anfragen der Ärzteschaft an das Projekt (niedergelassene Gynäkologen und Kinderärzte). Zusammengefasst kommen knapp zwei Drittel der Anfragen (478; 58 %) durch Angehörige des Gesundheitssektors (Geburtskliniken, Nachsorgehebammen und Ärzte) zustande. Dass nur etwa ein Zehntel der Zahlen durch die niedergelassenen Ärzte zustande kommt, kann auf einen je nach Landkreis unterschiedlich intensiven Austausch zwischen Projektmitarbeitern und niedergelassenen Ärzten zurückgeführt werden. Generell lohnt es sich, die Ver- 60 40 20 0 28 27 7 19 6 13 Medizinische Versorgung Selbstfürsorge Partnerschaft Signale des Kindes Kindliche Stresssignale Stärkung elterlicher Kompetenz Abb. 3: Tätigkeitsschwerpunkte der Familienhebammen in den Familien im Projektgebiet Saarland von 2007 bis 2010 in Prozent (Angaben der Familienhebammen nach jedem Besuch; basierend auf 5604 Hausbesuchen) Frühe Hilfen durch „Keiner fällt durchs Netz“ 297 netzung mit dieser Berufsgruppe noch weiter auszubauen. Des Weiteren kommen 19 % (157) der Zahlen durch Anfragen des Jugendamtes zustande; 6 % (52) der Fallzahlen resultieren aus Kontaktaufnahmen durch die Beratungsstellen. Ein möglicher Grund für diesen relativ geringen Anteil könnte in der Klientel dieser Beratungsstellen liegen. Eine Vermutung wäre, dass sich Familien aus bildungsferneren Schichten mit Hilfebedarf eher selten aus eigener Initiative an Beratungsstellen wenden bzw. deren Kinder zu diesem Zeitpunkt schon älter als ein Jahr sind. Der Anteil bildungsfernerer Familien an der Projektstichprobe ist relativ hoch (siehe Abb. 4). Die Betreuung durch „Keiner fällt durchs Netz" erfolgt maximal bis zum ersten Geburtstag des Kindes (siehe oben), eine Beendigung der Betreuung kann jedoch auch verschiedene andere Gründe haben. Im Jahr 2010 etwa wurde die Betreuung in 190 Familien abgeschlossen (ebenfalls auf das Projektgebiet Saarland bezogen). Der häufigste Grund für eine Beendigung der Betreuung ist das Erreichen des Höchstalters der Kinder (122 Fälle; 59 %). Erfreulicherweise ist der Anteil der Fälle, die aufgrund einer Inobhutnahme des Kindes beendet werden mussten mit 11 (5 %) relativ gering, während die Begleitung in immerhin 27 (13 %) Familien beendet wurde, weil kein weiterer Hilfebedarf bestand. In 19 Fällen (9 %) wurde die Betreuung aufgrund einer mangelnden Bereitschaft der Familien beendet, andere Gründe (z. B. Umzug, Klinikaufenthalt etc.) gab es in 28 der Familien (14 %). Muss eine Betreuung beendet werden, obwohl die Familie auch weiterhin Unterstützung braucht, erfolgt die Weitervermittlung an andere Institutionen. Im Jahr 2010 wurden die meisten Familien nach Beendigung der Projektbetreuung durch weitere Hilfsangebote fremdbetreut (27 %). 17 % der Familien wurden an die mit KfdN kooperierenden Kinderkrankenschwestern; siehe oben) weitervermittelt, während jeweils 10 % an Frühförderung und Jugendamt angebunden wurden. Die Vermittlung an Beratungsstellen erfolgte nur in 3 % der Fälle. Weiteren 33 % der Familien wurden andere Angebote wie Krabbelgruppen, Mutter-Kind-Kuren oder Eltern-Säuglings-Sprechstunden gemacht. Es wird sichtbar, dass die Zusammenarbeit mit den unterschiedlichen Berufsgruppen und Institutionen unmittelbar mit den Vermittlungszahlen und -wegen zusammenhängt. Das 250 200 150 100 50 0 Anzahl der Anfragen Jugendamt Kliniken Hebamme Beratungsstellen Ärzte Andere Abb. 4: Verteilung der Anfragen im Projektgebiet Saarland von 2007 bis 2010 in absoluten Nennungen 298 Andreas Eickhorst et al. Projekt wird aus den berichteten Zahlen Schlüsse ziehen und die Angebote und Strukturen gegebenenfalls anpassen bzw. abwandeln. Inhaltliche Erkenntnisse Neben den berichteten Zahlen zur Vermittlung konnten im Rahmen von „Keiner fällt durchs Netz“ während der bisherigen Projektzeit auch vielfältige Erfahrungen in Bezug auf die Implementierung und Durchführung früher Hilfen gewonnen werden. Auch diese Erkenntnisse flossen an geeigneter Stelle direkt wieder in den Prozess der Projektsteuerung und -optimierung mit ein. Im Folgenden soll anhand von drei Beispielen (aufsuchende Arbeit, Präventionsziel und Koordinierungsstellen) dargestellt werden, in welchen Bereichen wichtige Erkenntnisse gewonnen werden konnten, die zu Veränderungen der Projektstrukturen führten. Aufsuchende Arbeit (Geh-Struktur) Der Einsatz von Familienhebammen als zentrale Berufsgruppe der aufsuchenden Arbeit der frühen Hilfen hat sich bewährt. Die Grundüberlegung, dass Hebammen in der Gesellschaft als Helferinnen rund um die Zeit der Geburt akzeptiert und geschätzt werden und ihre Hilfe nicht als stigmatisierend oder übergriffig erlebt wird, scheint sich bestätigt zu haben. Die große Zahl an erfolgreichen Projektvermittlungen zeigt die gute Akzeptanz des Projekts in der Bevölkerung. Daneben zeigte sich auch die Ausweitung der aufsuchenden Helferinnen im Projekt um die Berufsgruppe der Kinderkrankenschwester als ein großer Gewinn. Einer möglichen Konkurrenz zwischen den beiden Berufsgruppen konnte so entgegengewirkt und eine Kooperation zwischen beiden zugunsten des Projekts gestärkt werden. Ein weiterer Vorteil der Einführung einer zweiten Berufsgruppe ist die damit entstandene Möglichkeit, Familien eine Unterstützung an die Seite zu stellen, die noch spezifischer auf ihre spezielle Belastungssituation zugeschnitten sein kann. So können die Kinderkrankenschwestern durch ihre Grundberufsausbildung beispielsweise Familien mit behinderten oder chronisch kranken Säuglingen ein optimales Unterstützungsangebot anbieten. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Hebammen und Kinderkrankenschwestern ermöglicht beiden Berufsgruppen einen gegenseitigen Austausch und damit ein besseres Verständnis der jeweiligen Arbeitsweise sowie eine Erweiterung ihres jeweiligen Fachwissens. Koordinierungsstellen Die Koordinationsstellen in jedem Landkreis stellen das Herzstück im Projekt dar, deren Arbeit sich in allen Projektbereichen als unverzichtbar erwiesen hat - im Bereich der Beauftragung und Beratung der aufsuchenden Helferinnen, im Kontakt mit vermittelnden Institutionen, als Organisatoren des Netzwerks für Eltern, in der Fortbildung von Netzwerkpartnern und bei der Zusammenarbeit mit den MulitplikatorInnen des Elternkurses. Insbesondere auch die regelmäßigen Organisationstreffen mit allen Familienhebammen haben sich als zentrales Element der aufsuchenden Arbeit bewährt. In einigen Kreisen wurden die regelmäßigen Treffen im Projektverlauf sogar ausgedehnt und um sogenannte Fallbesprechungen erweitert, um die Familienhebammen in einem engen Kontakt in der Fallbetreuung zu unterstützen. Das vielfältige oben genannte Tätigkeitsprofil der Koordinationsstelle erfordert in verschiedenen Bereichen ein hohes Maß an Fachwissen. Der professionelle Hintergrund der KoordinatorInnen, Fachwissen auch im Bereich der Psychologie sowie gute Organisationssowie Dokumentationsfähigkeiten erwiesen sich als wichtige Voraussetzungen für ein optimales Ausfüllen der Koordinationsstelle. Als eine Besonderheit am Projektstandort Saarland zeigte sich von Beginn an die gemeinsame Koordination durch Jugendhilfe und Gesundheitsbereich. Diese wurde so umgesetzt, dass in jedem Landkreis eine Koordination vonseiten der Jugendhilfe (SozialpädagogIn) und eine aus dem Gesundheitsbereich (Kinderärz- Frühe Hilfen durch „Keiner fällt durchs Netz“ 299 tIn) eingestellt wurden. Neben den sich daraus ergebenden Vorteilen (Kooperation der Jugendhilfe und des Gesundheitsbereichs), kam es jedoch immer wieder zu Schwierigkeiten in der Absprache bezüglich verschiedener Fragestellungen zwischen diesen beiden Bereichen. Über die Projektlaufzeit hinweg konnte die enge Zusammenarbeit zweier KoordinatorInnen aus diesen beiden Bereichen in den entsprechenden Landkreisen zu einer Annäherung beider Systeme, der Findung einer gemeinsamen Sprache, sowie einer engeren Kooperation auf Einzelfallebene als vor dem Projekt beitragen. Insbesondere auch für die aufsuchende Arbeit der Familienhebammen wurde die Möglichkeit, sich Rat und Informationen bei den KoordinatorInnen aus beiden Systemen einholen zu können, von den Familienhebammen in den Rückmeldungen als sehr wertvoll und gewinnbringend erachtet. Eine entsprechende gemeinsame Gestaltung der Koordinierungsstelle erscheint daher für alle Projektgebiete wünschenswert. Präventionsziel Auch hinsichtlich der Frage, für welche Familien genau die aufsuchende Betreuung im Projekt „Frühe Hilfen - Keiner fällt durchs Netz“ infrage kommt, wurde vielfach diskutiert. War das Projekt ursprünglich noch als primäres bzw. sekundäres Präventionsprojekt gestartet, wurden im Projektverlauf immer häufiger auch Familien betreut, die von der eigentlichen Definition her zu belastet für das Projekt waren, also eher in den Bereich der tertiären Prävention fielen. Somit konnten die Grenzen zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Prävention nicht immer klar gezogen werden. Diese Vermischung wird auch dadurch widergespiegelt, dass nur in 13 % der Fallbeendigungen keine weitere Hilfe mehr notwendig ist. Hier werden in Zukunft Nachjustierungen notwendig sein; auch, damit die Befürchtung nicht eintritt, dass die Familienhebamme als „verlängerter Arm“ des Jugendamts fungieren könnte. In diesem Zusammenhang ist vorgesehen, dass die potenziellen Projektfamilien zukünftig besser den verschiedenen Bereichen der Prävention zugeordnet werden, sodass eine differenzierte Versorgung mit den infrage kommenden Strukturen stattfinden kann. So erscheint es zielführend, eine kaum belastete von einer sehr deutlich belasteten Gruppe abzugrenzen und diesen Gruppen jeweils unterschiedliche Fachkräfte der Frühen Hilfe und der Jugendhilfe zuzuordnen. Die beschriebene de facto im Verlauf noch nicht klar strukturiert geschehene Ausweitung des Projekts von präventiver Ausrichtung zu stärker belasteten Familien sollte aber auch nicht nur einseitig als problematisch gesehen werden, denn auch für diese Familien war die Familienhebamme oft die einzige Person, die im Säuglingsbereich fachlich kompetent war und auch von den Eltern als Hilfe akzeptiert wurde. Durch diese Akzeptanz, die sie von den Familien erfuhr, war es nach Ende der Betreuungszeit in vielen Fällen möglich, weitere Hilfen zu implementieren. Erste Zwischenergebnisse der begleitenden Wirksamkeitsintervention Das Projekt „Keiner fällt durchs Netz“ wird an allen Projektstandorten von einer begleitenden Wirksamkeitsstudie des Projektteams PFIFF („Projekt Frühe Interventionen Für Familien“) am Universitätsklinikum Heidelberg evaluativ begleitet. Hierbei handelt es sich um eine kontrollierte Studie mit einem naturalistischen Design. Die Interventionsgruppe setzt sich dabei aus 150 freiwillig teilnehmenden Projektfamilien in der Hausbetreuung durch Familienhebammen zusammen, während die dazu gematchte Kontrollgruppe 150 Familien außerhalb des Projektgebietes (z. B. aus einem anderen Bundesland) umfasst, die sich ebenfalls (gegen Honorar) freiwillig gemeldet haben. Im Rahmen der Wirksamkeitsevaluation sollen die Familien zu vier Zeitpunkten im Längsschnitt 5 aufgesucht und hinsichtlich Parametern aufseiten der Eltern, der Kinder sowie in der Interaktion der Eltern mit ihrem Kind untersucht werden (vgl. Eickhorst et al., 2010; Sidor et al., 2011). 300 Andreas Eickhorst et al. Die im Folgenden kurz skizzierten Befunde zu den Müttern im Projekt stellen die Zusammenfassung der signifikanten Ergebnisse zum Erhebungszeitpunkt des ersten Geburtstages des Kindes vor. Eine ausführliche Darstellung aller Ergebnisse findet sich in Sidor et al. (under review). Anzumerken ist, dass sämtliche hier berichteten Daten der Eltern mittels standardisierter Selbsteinschätzungsbögen erhoben wurden, sodass ein Vergleich mit Einschätzungen durch Dritte nicht vorliegt. Entwicklungsniveau der Kinder Die Entwicklung der Kinder wurde mit dem Ages and Stages Questionnaire (ASQ; Squires et al., 1999; Skala „Soziale Entwicklung“) qua Selbstbericht der Eltern erhoben. Hier zeigten die Kinder der Interventionsgruppe nach einem Jahr signifikant bessere Werte in der sozialen Entwicklung im Vergleich zu den Kindern der Kontrollgruppe. Erlebter Stress der Mütter Für die Ermittlung des erlebten Stresses der Mütter im Umgang mit ihrem Kind wurde die entsprechende Skala des Parental Stress Index (PSI-SF; Abidin, 1995) eingesetzt, die auf einer Selbsteinschätzung der Teilnehmerinnen beruht. Die Mütter der Interventionsgruppe zeigten nach einem Jahr Betreuung tendenziell signifikant geringere Werte in ihrer wahrgenommenen Belastung gegenüber den Müttern der Kontrollgruppe. Zu beachten ist, dass in der Interventionsgruppe die Werte im Verlauf des Jahres gesunken und bei der Kontrollgruppe leicht gestiegen sind. Allerdings muss auch erwähnt werden, dass die Belastungswerte im PSI bei der Kontrollgruppe bereits zu T 1 höher lagen als die Interventionsgruppe. Depressivität der Mütter Die postpartale depressive Symptomatik der Mütter wurde mit der Edinburgh Postnatal Depression Scale (EPDS; Cox et al., 1987) qua Selbstbericht der Eltern erhoben. Auch hier zeigten die Mütter der Interventionsgruppe nach dem Betreuungsjahr im Vergleich zu den Frauen in der Kontrollgruppe geringere Werte (klinisch bedeutsam, aber statistisch nicht signifikant). Fazit und Ausblick Anhand der dargestellten Daten aus verschiedensten Bereichen der Begleitforschung sowie den gewonnenen inhaltlichen Erkenntnissen dürfte deutlich geworden sein, dass die Implementierung eines komplexen Projektes der Frühen Hilfen in kompletten Gebietskörperschaften und darüber hinaus in einem gesamten Bundesland eine große Herausforderung für alle Beteiligten darstellt. Insbesondere die Beachtung der jeweiligen spezifischen Gegebenheiten in den verschiedenen Projektstandorten hat sich dabei als elementar erwiesen. Denn zum einen sind die Landkreise hinsichtlich ihrer strukturellen Gegebenheiten sehr verschieden, was sich auf deren Bedürfnisse naturgemäß unterschiedlich auswirkt. Zum anderen ist es für die Kooperation zwischen dem Projekt und möglichen Netzwerkpartnern förderlich, wenn diese sich nicht nur als passive Netzwerkteilnehmer, sondern als aktive und wichtige Partner des Projekts verstehen und so eigenes Engagement und eigene Ideen einbringen. Diese Unterschiede zu nutzen und nicht zu untergraben, scheint bisher ein wichtiger Erfolgsfaktor des Projekts gewesen zu sein. Dabei dürfen jedoch auch die bereits weiter oben angeführten kritischen Punkte (Zusammenarbeit der Fachkräfte; Präventionsziel und Schweregrad der Fälle etc.; siehe S. 15ff ) nicht außer Acht gelassen werden. Abschließend kann festgehalten werden, dass wir neben der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts sowie der für eine professionelle, selbstreflexive Arbeit unabkömmlichen Supervision der Familienhebammen (vgl. Frey et al. in diesem Heft) es uns zur zentralen Aufgabe gemacht haben, in den einzelnen Projekt- Frühe Hilfen durch „Keiner fällt durchs Netz“ 301 kreisen als „Fürsprecher“ der Frühen Hilfen aufzutreten. Wir sehen hier den klaren Vorteil, dass unsere Außenperspektive (als Vertreter der Wissenschaft) neue und andere Sichtweisen und einen oftmals nüchterneren oder auch unvoreingenommeneren Blick auf Strukturen, Abläufe und Hierarchien ermöglicht. Eine Frage der nächsten Phasen von „Keiner fällt durchs Netz“ wird es nun sein zu ermitteln, an welchen Stellen das eingerichtete Hilfe-Netz noch „enger geknüpft“ werden muss, damit auch Subgruppen mit ganz spezifisch akzentuierten Bedürfnissen nicht hindurchfallen. Einige Gruppen stehen hier bereits im Fokus der Aufmerksamkeit und sollen nach und nach mit ergänzten Angeboten versorgt werden. Dazu zählen neben minderjährigen Eltern auch alleinerziehende Eltern, Familien mit Migrationshintergrund, Eltern mit einer Drogenproblematik sowie kranke Eltern mit ihren Kindern. Amerkungen 1 Die Gebietskörperschaften sind die sechs Landkreise des Saarlandes, die Kreise Offenbach, Bergstraße und Werra-Meißner-Kreis in Hessen sowie der Neckar- Odenwald-Kreis und die Stadt Heidelberg in Baden- Württemberg. 2 Das Erkennen und Einschätzen der belastenden wie auch der entlastenden Faktoren wird anhand der im Projekt entwickelten „Heidelberger Belastungsskala“ (HBS) von den Hebammen und dem Pflegepersonal auf den Geburtshilflichen Stationen der Kliniken in den Projektstandorten sowie auch von vielen weiteren Netzwerkpartnern (Gynäkologen; Kinderärzte; Beratungsstellen etc.) vorgenommen. Erläuterungen zur Konstruktion der Skala sowie Befunde zu Gütekriterien finden sich in Sidor et al. (im Druck) sowie Eickhorst et al. (im Druck). 3 Familienhebammen stellen eine in den Frühen Hilfen zunehmend wichtiger werdende Gruppe für die aufsuchende Arbeit dar. So gibt es neben KfdN eine Reihe weiterer kommunaler und Bundesmodellprojekte, die dieser Berufsgruppe eine zentrale Stellung einräumen (Überblick unter fruehehilfen.de). 4 Die Kinderkrankenschwestern wurden im selben Curriculum wie die Familienhebammen ausgebildet. Sie können - außerhalb der Finanzierung von KfdN - auch nach Ende des ersten Lebensjahres die Familien aufsuchen und tragen im Projekt die Bezeichnung SMA (Sozialmedizinische Angestellte). 5 Die vier Zeitpunkte im Einzelnen: T 1 zum Beginn der Betreuung zum Alter des Kindes von etwa vier Monaten; T 2 zum Alter des Kindes von 6 Monaten; T 3 zum Alter des Kindes von einem Jahr und T 4 als follow up - Testung zum Alter des Kindes von zwei Jahren, also ein Jahr nach Betreuungsende Literatur Abidin, R. R. (1997). Parenting Stress Index: A measure of the parent-child system. In: C. P. 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