eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 59/4

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2012.art23d
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2012
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Zur Arbeit von Familienhebammen im Hausbesuchsprogramm "Keiner fällt durchs Netz" unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrung mit Vätern im Projekt

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2012
Britta Frey
Daniel Nakhla
Andreas Eickhorst
Manfred Cierpka
Im Artikel werden zunächst verschiedene spezifische Charakteristika der Arbeit mit hoch belasteten Familien im Rahmen der Frühen Hilfen auf Grundlage der Erfahrungen mit dem Projekt "Keiner fällt durchs Netz" dargestellt. Es wird beschrieben, welchen strukturellen und inhaltlichen Aspekten und Herausforderungen Familienhebammen, die in der aufsuchenden Arbeit tätig sind, während ihrer Arbeit, begegnen. Ein Schwerpunkt bezieht sich auf die Erfahrungen von Familienhebammen mit Vätern und deren Wünsche an die Arbeit im Projekt. Anhand dieser sollen - im Kontext aktueller Literatur -wichtige Implikationen für die Praxis diskutiert werden.
3_059_2012_4_0006
n Praxis Psychologischer Beratung und Intervention Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2012, 59, 303 - 310 DOI 10.2378/ peu2012.art23d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Zur Arbeit von Familienhebammen im Hausbesuchsprogramm „Keiner fällt durchs Netz“ unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrung mit Vätern im Projekt Britta Frey, Daniel Nakhla, Andreas Eickhorst, Manfred Cierpka Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie, Heidelberg Family Mid-Wifes’ Work in the Home Visiting Program “Nobody slips through the Net” with a Special Focus on Experiences with Fathers in the Project Summary: In the following article several specifics of working with families at high risk in early prevention home visiting contexts will be introduced, based on the experiences made with the project “Nobody slips through the Net”. Structural and contextual aspects as well as challenges family-midwifes face during their work will be described. A special focus lies on the experiences family-midwifes make with fathers in the context of home visiting programs. Further, fathers’ wishes related to the home-visits will be introduced. Based upon these and in the context of current literature important implications for the practice shall be discussed. Keywords: Early prevention, characteristics of home visiting settings, experiences of family-midwifes, wishes of fathers, implications for the practical work Zusammenfassung: Im Artikel werden zunächst verschiedene spezifische Charakteristika der Arbeit mit hoch belasteten Familien im Rahmen der Frühen Hilfen auf Grundlage der Erfahrungen mit dem Projekt „Keiner fällt durchs Netz“ dargestellt. Es wird beschrieben, welchen strukturellen und inhaltlichen Aspekten und Herausforderungen Familienhebammen, die in der aufsuchenden Arbeit tätig sind, während ihrer Arbeit, begegnen. Ein Schwerpunkt bezieht sich auf die Erfahrungen von Familienhebammen mit Vätern und deren Wünsche an die Arbeit im Projekt. Anhand dieser sollen - im Kontext aktueller Literatur - wichtige Implikationen für die Praxis diskutiert werden. Schlüsselbegriffe: Frühe Hilfen, Charakteristika der aufsuchenden Arbeit, Erfahrungen von Familienhebammen, Wünsche der Väter, Implikationen für die Praxis Das Frühpräventionsprojekt „Keiner fällt durchs Netz“ wurde aufbauend auf Erfahrungen mit der Implementation sowie der Evaluation des Elternkurses „Das Baby verstehen“ entwickelt (für weitere Informationen zum Projekt siehe Eickhorst et al., in diesem Heft und Cierpka, 2009). Die Evaluation dieses Kurses zeigte, dass vor allem besser situierte Eltern mit vielfältigen Ressourcen an den Kursen teilnahmen, während ein bildungsferneres Klientel mit psychosozialen Mehrfachbelastungen durch ein solches Kursangebot allein nicht erreicht werden konnte (vgl. z. B. Cierpka et al., 2006). Einen besseren Zugang zu dieser Klientel versprach eine „Geh- Struktur“, in der Helfer, in diesem Fall Familienhebammen 1 , die Familien zu Hause aufsuchen und in ihrem Elternsein unterstützen. Grundlage für die Besuche sind dabei die Inhalte des Elternkurses, welche in die Fortbildung zur Familienhebamme integriert wurden. Angesichts der praktischen Erfahrungen mit dem Konzept innerhalb der Familien wurde der Kurs überarbeitet und an die aufsuchende Arbeit angepasst, woraus das Schulungsprogramm „Das 304 Britta Frey et al. Baby verstehen in der aufsuchenden Arbeit“ entstand (Cierpka et al., 2010). Im Verlauf der mittlerweile vierjährigen Projektarbeit stellte sich (im Wesentlichen durch Rückmeldungen aus Fallbesprechungen und Intervisionen 2 ) heraus, dass das spezifische Setting, in dem die Arbeit der Familienhebammen stattfindet, über die inhaltliche Arbeit hinaus zahlreiche weitere Herausforderungen stellt. Der Artikel beschreibt zunächst einige grundlegende Charakteristika der aufsuchenden Arbeit sowie erste Ergebnisse einer fragebogenbasierten Bedarfsanalyse, die wir an die Väter des Projektes richteten. Anschließend werden Erfahrungen der Familienhebammen im Projekt vorgestellt. Daraus werden Implikationen für die Praxis gezogen und diskutiert. Charakteristika der aufsuchenden Arbeit im Projekt Die aufsuchende Arbeit einer Familienhebamme ist im Vergleich zur Arbeit einer regulär in der Nachsorge tätigen Hebamme durch spezifische Charakteristika bestimmt, wobei sich strukturelle Rahmenbedingungen auch auf die inhaltliche Arbeit auswirken. Hauptunterschiede zur üblichen Nachsorge sind (s. a. Schneider, 2009): - eine deutlich stärker belastete Klientel, die zum Teil „geschickt“ bzw. vermittelt wurde; - längere Betreuungszeiten in den Familien (bis zu einem Jahr) und dadurch eine größere emotionale Dichte im Kontakt; - eine inhaltliche Schwerpunktverlagerung weg von somatischen Grundbedürfnissen hin zu mehr psychosozialen Prozessen; - eine größere Notwendigkeit zur Kooperation und Vernetzung im Helfersystem, aber auch innerhalb der Familien selbst. Auswirkungen der spezifischen Charakteristika auf die Projektarbeit In der originären Hebammentätigkeit stellen hochbelastete Familien eher die Ausnahme dar, weil diese von sich aus seltener die Hilfe und Unterstützung einer Hebamme suchen. Im Rahmen des Projektes sind sie jedoch die Hauptzielgruppe. Diese Eltern sind durch multiple psycho-soziale Faktoren belastet, die sich vier verschiedenen Ebenen zuordnen lassen: Faktoren aufseiten der Eltern, aufseiten des Kindes, soziale Belastungen, sowie materielle Belastungen (für nähere Informationen siehe Eickhorst et al., im Druck; Stasch, 2006). Dazu zählen unter anderem Drogenabusus, psychische Erkrankungen, Arbeitslosigkeit, soziale Isolation oder finanzielle Belastungen. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sind im Projekt überproportional viele Familien mit niedrigem Bildungsabschluss, Arbeitslose, minderjährige Mütter sowie Alleinerziehende (Cierpka et al., 2011 a, 2011 b) vertreten. Diese Merkmale spielen unserer Erfahrung nach bereits bei der Erreichbarkeit eine Rolle, beispielsweise wenn sich Eltern aus Furcht, Scham- oder Schuldgefühlen scheuen, Hilfe in Anspruch zu nehmen (s. a. Nakhla et al., 2010). Ein weiterer Grund kann Resignation angesichts der Vielzahl der Belastungen sein. Diesbezüglich ist (neben anderen Faktoren wie z. B. Kultursensitivität) von den Helfern eine hohe Sensitivität im Umgang mit den Klienten gefordert. Bei der Betrachtung des Aufgabenspektrums von Familienhebammen wird deutlich, dass das ursprüngliche Arbeitsgebiet einer Hebamme deutlich erweitert wurde. Jenes umfasst vor allem die somatischen und medizinischen Vorgänge rund um die Geburt, Fragen zur Ernährung, Stillen und Rückbildung. Allein die Verlängerung der Betreuungszeit im Rahmen des Projektes auf ein Jahr erfordert eine berufliche Weiterqualifizierung zur Familienhebamme (vgl. Eickhorst et al., in diesem Heft), um den vielfältigen Herausforderungen im neuen Feld gewachsen zu sein. Neben einer quantitativen Erweiterung des Arbeitsfeldes kommt es in der Folge auch zu einer Zunahme an Komplexität struktureller und inhaltlicher Art. Die Familienhebammen müssen stärker als in ihrem Grundberuf mit anderen Institutionen und Berufsgruppen kooperieren, wobei ihre Arbeit „nicht mehr so stark den Charakter des Einzelkämpfertums“ aufweist (Schneider, 2009, Zur Arbeit von Familienhebammen 305 S. 185). Häufig begegnen den Familienhebammen ein chaotischer Zustand in den Familien und ein Mangel am Notwendigsten (Mobiliar, Nahrung etc.). Die Erfüllung der existenziellen Bedürfnisse hat dann Vorrang vor der interaktionell-orientierten Arbeit. In vielen Fällen werden weitere Helfer wie z. B. die Familienhilfe des Jugendamtes ebenfalls in die Arbeit mit einbezogen (vgl. Eickhorst et al., in diesem Heft). Das Vorhandensein mehrerer Helfer bietet neben verschiedenen Herausforderungen auch die Chance einer umfassenden Vernetzung und klaren Aufgabenteilung. Neben diesen aus der Literatur bereits bekannten Besonderheiten der aufsuchenden Arbeit möchten wir im Folgenden Erfahrungen der Familienhebammen aus dem Projekt „Keiner fällt durchs Netz“ berichten. Diese stammen vorwiegend aus den schon oben erwähnten Fallbesprechungen und Intervisionen. Die Familienhebammen schildern, dass sie die Familien teilweise als besonders hilfsbedürftig erleben. In der Folge könne es vorkommen, dass sie das Gefühl verspürten, sie müssten die Familie „retten“. Weiterhin beschreiben die Familienhebammen des Projektes es häufig als eine Herausforderung, die Belastungen und das Leid der Familie mit ansehen zu müssen und dennoch nicht alle Probleme lösen zu können. Da viele Familien von Fachkräften vermittelt werden und sich nicht primär aus eigener Motivation melden, erleben die Familienhebammen oft unterschiedliche Reaktionen auf ihren Besuch. So wird berichtet, dass manche Familien sie als „Kontrollorgan“ des Jugendamtes oder als „Eindringling“ wahrnehmen, verbunden mit großen Ängsten, dass ihnen ihr Kind „weggenommen“ werden könnte. Im anderen Extrem erleben die Familienhebammen aber auch, dass sie als eine Art erhoffte „Retterinnen“ begrüßt werden. Neben dem oben erwähnten hohen Belastungsgrad der Klientel wirkt sich vor allem die lange Betreuungszeit auf die Arbeit in den Familien aus. Während eines Betreuungszeitraums von einem Jahr sowie - zumindest zu Beginn der Betreuung - mehreren Besuchen pro Woche ist es der Familie schwer möglich, ihre Probleme vor der Familienhebamme zu bagatellisieren oder gar zu verbergen. Die Familienhebammen erleben bei den Familien in diesem Zusammenhang das Entstehen von Gefühlen der Scham und/ oder Schuld, mit denen es adäquat umzugehen gilt. Wie aus der Literatur bekannt ist (z. B. Arnott & Meins, 2007), waren Eltern in hochbelasteten Familien überproportional häufig selbst belastenden Bedingungen in ihrer eigenen Kindheit ausgesetzt, wie z. B. dem Miterleben häuslicher Gewalt, einer Trennung von den eigenen Eltern oder Vernachlässigung bis hin zum Missbrauch. Aufgrund dieser Erfahrungen und dem häufig inkonsistenten Verhalten der eigenen Eltern ihnen gegenüber besteht die Gefahr von unsicheren Bindungsmustern oder Bindungsstörungen (vgl. z. B. Arnott & Meins, 2007). Auch dies kann sie in den Augen der Familienhebammen als „besonders hilfsbedürftig“ erscheinen lassen. Unserem Verständnis nach spiegeln sich ambivalente Erfahrungen der jungen Eltern z. B. in der Beziehung zur Familienhebamme wider, wenn einerseits Termine nicht eingehalten, andererseits dann aber die Familienhebammen häufig zu Hause angerufen werden, was diese teilweise als belastend erleben. Dabei scheinen die Familien (unbewusst) ihre unsicheren Bindungserfahrungen im Rahmen der aktuellen Helfer-Beziehung zu wiederholen und zu „testen“, ob sich die Familienhebamme tatsächlich um sie persönlich bemüht und Wertschätzung zeigt. Wir haben den Eindruck, dass je nachdem, wie die Familien die Familienhebamme „willkommen heißen“, diese den ersten Kontakt erleben, was sich wiederum auf das Herstellen einer Arbeitsbeziehung auswirkt. Aber auch, wenn anfangs eine positive Aufnahme der Familienhebamme durch die Familie erfolgt, können im Verlauf der Betreuung Schwierigkeiten in der Arbeitsbeziehung auftreten. Wie wir Schilderungen der Familienhebammen in den Fallbesprechungen und Intervisionen (s. o.) entnehmen können, scheint sich mit den Besuchen der Familienhebamme die Sehnsucht nach einer sich kümmernden guten Mutter(-figur) im Sinne 306 Britta Frey et al. einer „Gute-Großmutter-Übertragung“ (Stern, 1998) bei manchen Müttern zu zeigen. Eine solche Idealisierung kann jedoch auch in Enttäuschung und Abwertung umschlagen. Unserer Erfahrung nach ist dann eine gute Begleitung der Enttäuschungsreaktion für die Eltern wichtig, da sie in ihrem Leben möglicherweise schon oft enttäuscht wurden (s. o.) und nun durch die begleiteten Erfahrungen die Möglichkeit erhalten, realistischere Erwartungshaltungen zu erwerben. Unsere Projekterfahrungen zeigen auch, dass eine Idealisierung die Loslösung von der Familienhebamme am Ende der Projektlaufzeit erschweren kann. Gleichzeitig beobachten wir, dass die Erfahrung von Idealisierung durch die Familien von den Familienhebammen durchaus auch als „verlockend“ erlebt werden kann, da sie den eigenen Selbstwert erhöhen kann und Anerkennung der eigenen Leistung durch die Familie zeigt. Innerhalb der Familie stellt es manchmal eine Herausforderung dar, neben der Mutter noch weitere Bezugspersonen mit einzubinden. Dies ist vor allem im Hinblick auf die Aktivierung von Ressourcen von besonderer Bedeutung. Exemplarisch sollen im Folgenden daher die Erfahrungen der Familienhebammen mit Vätern vertiefend dargestellt werden. Deren grundsätzliche Bedeutung für die Kinder und ihre grundsätzlichen Fähigkeiten werden zunächst überblicksartig dargestellt. Väter in der aufsuchenden Arbeit Der Vater wurde erst seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts systematisch wissenschaftlich betrachtet, seitdem allerdings in deutlich ansteigendem Maße (Überblick z. B. in Walter & Eickhorst, 2012). Dabei wurde zunehmend stärker dessen große Bedeutung (z. B. väterspezifisches Verhalten wie „rough and tumble play“, das neben den meist „sanfteren“ Verhaltensweisen der Mütter eine große Rolle spielt) für die kindliche Entwicklung herausgearbeitet (z. B. Lamb, 2004). Papoušek und Papoušek (z. B. 1987) konnten zeigen, dass auch der Vater intuitive elterliche Fähigkeiten besitzt. Intuitive elterliche Fähigkeiten gelten als ein universales Verhaltensrepertoire, das sowohl bei Frauen, Männern als auch bereits Kindern durch Interaktionen mit Säuglingen initiiert wird. Sie helfen außerdem dabei, die Signale des Kindes wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und angemessen auf diese zu reagieren (z. B. Papoušek & Papoušek, 1987). Auch Lamb spricht Vätern bei der Sorge und Pflege des Kindes ähnliche Kompetenzen zu wie der Mutter (abgesehen vom Stillen) und beobachtete bei Vätern im Längsschnitt eine Zunahme von Pflegeaktivitäten. Hochbelastete Väter bzw. Väter generell werden in Frühpräventionsprogrammen erst seit ca. 20 Jahren miteinbezogen (z.B. http: / / www.healthyfamiliesamerica.org/ network_resources/ is_engaging_fathers.shtml; Boller, 2006). In den USA gibt es z. B. seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts Forschungsarbeiten aus Frühpräventionsprogrammen wie „Healthy Families America“ oder „Early Head Start“ (z. B. Cabrera et al., 2004; Raikes & Belotti, 2006) und in Großbritannien wurden verschiedene Evaluationen des „Sure Start“ Projektes veröffentlicht (z. B. Lloyd et al., 2003). Die bestehende Literatur (z. B. Lloyd et al., 2003; Cabrera et al., 2004) in diesem Feld zeigt, dass Väter in hochbelasteten Familien häufig sehr schwer erreichbar und meist misstrauischer gegenüber aufsuchenden HelferInnen sind als ihre Partnerinnen. Zudem fokussiert die Mehrheit der Präventionsprogramme im Allgemeinen auf die Mutter mit dem Ziel, die mütterliche Feinfühligkeit zu stärken, die Mutter- Kind-Beziehung zu verbessern und dem Kind so die Möglichkeit einer optimalen Entwicklung geben zu können. Dabei wird der Vater nur am Rande oder gar nicht beachtet (z. B. Boller, 2006). Die o. g. Studien aus den USA und Großbritannien zeigen, dass es nicht ausreichend ist, lediglich zusätzliche spezifische Väterangebote zu den bestehenden Maßnahmen hinzuzufügen. Die Autoren dieser Programme fordern vielmehr eine grundsätzliche Änderung der Einstellung der HelferInnen. Wünschenswert sei es, wenn sich die aufsuchende HelferIn über die Zur Arbeit von Familienhebammen 307 Bedeutung des Vaters für die kindliche Entwicklung und somit auch deren Einbezug in ihre Arbeit mit den Familien bewusst sei. Dies würde ein Einbeziehen des Vaters in die präventive Arbeit von Beginn an erleichtern. Kritisch bleibt zu erwähnen, dass die bestehende Forschung zu diesem Themengebiet teilweise noch immer lediglich auf westliche Väter aus der Mittelschicht fokussiert (Raikes et al., 2005) und die Forschungsergebnisse deshalb nicht ohne Weiteres auf Väter in Projekten wie „Keiner fällt durchs Netz“ übertragbar sind. In der Wahrnehmung der Familienhebammen haben manche Väter unter Umständen auch einen direkten oder indirekten negativen Einfluss auf die Familie und das Kind. Dies kann z.B. dann der Fall sein, wenn die Beziehung zwischen Kindsmutter und Kindsvater von einer Abhängigkeit der Kindsmutter von ihrem Partner geprägt ist und dieser versucht, sie zu kontrollieren. Exkurs: Fragebogenbasierte Bedarfsanalyse - Wollen die Väter eine Hilfestellung und wenn ja, welche? Bei der Konzeption von „Keiner fällt durchs Netz“ spielte der Einbezug der Väter von Anfang an eine wichtige Rolle (vgl. Eickhorst & Peykarjou, 2012). Um deshalb mehr über ihre Bedürfnisse und Wünsche in Bezug auf das Projekt oder zu Väterangeboten generell zu erfahren, entwickelten wir eine fragebogenbasierte Bedarfsanalyse (Nakhla, 2009) 3 , bei der die Väter in Projektbetreuung nach ihren Vorstellungen hinsichtlich geschlechtsspezifischer Angebote befragt wurden. Von den an der Befragung beteiligten Vätern (N = 252; Rücklaufquote 63 %; N = 155 Nennungen, Mehrfachnennung war möglich) gaben 47 % an, kein Interesse an väterspezifischen Angeboten zu haben. Die meisten Nennungen an Interesse bekam das Angebot einer fortlaufenden Vätergruppe mit Schwerpunkt Erfahrungsaustausch (21 %). Mit Abstand folgten die Angebotsformen fortlaufende Vätergruppe mit Schwerpunkt Informationsvermittlung bzw. Erfahrungsaustausch und Informationsvermittlung gemischt (jeweils 10 %). Weitere 9 % der Nennungen entfielen auf ein Wochenendseminar, und eigene Vorschläge der Ausfüller (3 %) betrafen einen Schwimmkurs und ein Internet-Forum (siehe auch Abbildung 1). Die hier vorgestellten Ergebnisse der von uns durchgeführten Bedarfsanalyse können nur erste Tendenzen anzeigen. Dennoch erscheint es uns bedeutsam, die Wünsche der Väter mit in unsere Arbeit einzubeziehen. Wochenend-Seminar Väter-Gruppe (Informationsvermittlung) Väter-Gruppe (Erfahrungsaustausch) Väter-Gruppe (Info und Erfahrung) Kein Angebot Eigene Vorschläge 47 % 3 % 9 % 10 % 21 % 10 % Abb. 1: Väter im Projekt (N = 155 Nennungen) wünschen sich folgende Angebote (Mehrfachnennung war möglich) 308 Britta Frey et al. Im Folgenden werden die Erfahrungen der Familienhebammen des Projektes „Keiner fällt durchs Netz“ hinsichtlich der Anwesenheit der Väter 3 und deren Einbeziehung beschrieben. Zunächst einmal wurde deutlich, dass die Familienhebammen die Präsenz des Vaters in den Familien wesentlich geringer einschätzen als es der realen Anwesenheit entspricht: Ihrer Einschätzung nach seien ca. 90 % der Väter nicht anwesend, während die Ergebnisse aus unseren begleitenden Fragebogenuntersuchungen zeigen, dass lediglich ca. 30 % der Väter aufgrund von Trennung tatsächlich dauerhaft abwesend sind. Trotz dieser Präsenz der Väter in den Familien scheinen diese bei den Hausbesuchen tatsächlich nur zu einem Drittel anwesend zu sein (Quelle: Dokumentationsbögen der Familienhebammen im Projekt). Des Weiteren hatten die Familienhebammen häufig das Gefühl, die Väter misstrauten ihnen und/ oder ignorierten sie. In diesen Fällen erlebten sie den Vater häufig als Störfaktor für ihre Arbeit. Einige Familienhebammen beschrieben aber auch, dass sich ein ursprünglich eher negatives Verhältnis zwischen ihnen und den Vätern im Verlauf der Betreuung zum Positiven entwickeln konnte. Wir konnten beobachten, dass dies zumeist dann der Fall war, wenn die Familienhebamme sich bemühte, die Väter aktiv mit einzubeziehen und hierfür zunächst einmal eine persönliche Beziehung zu ihnen herstellte. In einem Fall des Projektes empfand die zuständige Familienhebamme die Anwesenheit des Vaters zunächst eher als schwierig, da er ihr gegenüber abweisend erschien. Da ihr jedoch viel an seiner Einbeziehung lag, beobachtete sie die gesamte Situation und den Vater während der ersten Besuche. Ihr fiel auf, dass der Vater eine besondere Beziehung zu seinem Dobermann „Graf“ pflegte, was ihn mit großem Stolz erfüllte. Die Familienhebamme versuchte über die gemeinsame Affinität zu Hunden einen Zugang zum Vater herzustellen und bemerkte dem Vater gegenüber, dass sie ebenfalls einen Hund besitze und gut mit Hunden umgehen könne. Der Vater bezweifelte diese Fähigkeit in Bezug auf „Graf“ und meinte, dass dieser nur ihm gehorche und auch nur mit ihm mitgehe. Die Familienhebamme ließ sich herausfordern und sagte dem Vater, sie sei sicher, „Graf“ würde auch mit ihr mitgehen, wenn sie ihn dazu auffordere. Zum Erstaunen des Vaters war dies tatsächlich der Fall. Damit hatte die Familienhebamme das Vertrauen des Vaters erworben, und die weitere Zusammenarbeit wurde von ihr als sehr konstruktiv beschrieben. Insgesamt sahen die Familienhebammen einen respektvollen Umgang miteinander, der von Akzeptanz und Wertschätzung geprägt ist, für das Herstellen einer guten (Arbeits-)beziehung zum Kindsvater als wesentlich an. Das Herstellen einer guten Arbeitsbeziehung zwischen der Familienhebamme und der Familie (Mutter, Vater und Kind) hängt von verschiedenen Einflussfaktoren ab. Zum einen liegen diese in den Charakteristika der Eltern und des Kindes wie z. B. deren Autobiografien, psychosozialen Belastungen, Partnerschaftskonflikten, Misstrauen gegenüber der Familienhebamme, unbewussten Erwartungen gegenüber der Familienhebamme, Schamund/ oder Schuldgefühlen oder dem kindlichen Temperament begründet. Zum anderen sind die Charakteristika der Familienhebamme, die aus autobiografischen Elementen, den eigenen internalen Bindungsrepräsentationen (Suess et al., 2010), dem Wunsch zu helfen oder unbewussten Erwartungen bestehen können, bedeutend. Dies mag z. B. dann der Fall sein, wenn eigene Rollenmodelle (wie z. B. das eines egalitären, in der Familie engagierten Vaters) unreflektiert auf die zu betreuenden Familien übertragen werden. Ein dritter Faktor sind die interaktionellen Aspekte, die ein Ergebnis der Dynamik innerhalb des Systems aus Familie und Familienhebamme sind. Wir nehmen an, dass insbesondere diese darüber entscheiden, ob eine vertrauensvolle Beziehung hergestellt werden kann, eine Atmosphäre von gegenseitiger Akzeptanz und Wertschätzung herrscht oder aber Geringschätzung und Dynamiken mit z. B. Entwertung und Gegenentwertung. Letztere scheint z. B. aufzutreten, wenn entweder die Väter den Familienhebammen oder die Familienhebammen den Vätern zu Beginn der Arbeit primär mit Skepsis gegenübertreten. Zur Arbeit von Familienhebammen 309 Implikationen für die Praxis und Fazit Für die aufsuchende Arbeit mit hochbelasteten Familien erscheint es uns als essenziell, die verschiedenen Aspekte des Systems und die auf dieses einwirkenden Faktoren zu betrachten. Die bestehenden spezifischen Charakteristika der Klientel sowie des Settings stellen die Familienhebammen vor besondere Herausforderungen. Beide Eltern (sofern vorhanden) sollten von Beginn an in die Arbeit mit einbezogen werden. Wie die oben dargestellte aktuelle Literatur zu der Einbeziehung und Arbeit mit hochbelasteten Vätern zeigt, ist es jedoch häufig nach wie vor schwierig, einen Zugang zu ihnen zu finden (z. B. Lloyd et al., 2003). Die Autoren der zitierten Programme beschreiben es als hilfreich, einen ebenfalls für diese Arbeit speziell ausgebildeten männlichen Helfer einzustellen, der eigens für die Väter zuständig ist (z. B. http: / / www.healthyfamiliesamerica.org/ network_resources/ is_engaging_fathers.sthml; Lloyd et al., 2003). Es erscheint essenziell, die Väter explizit mit für sie relevanten Themen anzusprechen, um ihre aktive Teilnahme an den Hausbesuchen zu ermöglichen. Uns erscheint es zudem geboten, ein Manual für die Arbeit mit hochbelasteten Vätern, dessen Vermittlung im günstigsten Fall bereits in die Ausbildung der HelferInnen integriert ist, zu entwickeln (vgl. Eickhorst et al., in Vorb.). Gelingt es der Familienhebamme, mit der gesamten Familie eine gute Arbeitsbeziehung herzustellen und ressourcenorientiert zu arbeiten, erscheint dies als eine gute Voraussetzung für ein effektives Arbeiten mit und innerhalb der Familie. Weiterhin sollten die Familienhebammen in ihrer Arbeit gut begleitet und unterstützt werden. Im Projekt „Keiner fällt durchs Netz“ wird dies z. B. durch eine regelmäßige berufsbegleitende Selbsterfahrung zur Qualitätssicherung und Psychohygiene sichergestellt. Aber auch die schon oben erwähnten Programme in den USA (wie z. B. Healthy Families America; http: / / www.healthyfamiliesamerica.org/ about_us/ cri tical_elements.shtml) legen Wert auf eine regelmäßige (teilweise sogar wöchentliche) Supervision ihrer Mitarbeiter. Anmerkungen 1 Im Projektverlauf wurden auch weitere Berufsgruppen eingesetzt wie z. B. Kinderkrankenschwestern oder Sozialmedizinische Assistentinnen. 2 Fallbesprechungen werden alle zwei Wochen unter der Leitung der lokalen KoordinatorInnen mit den Familienhebammen durchgeführt. In diesen wird jeder Fall zu Beginn, im Verlauf und zum Ende vorgestellt. Je nach Projektlandkreis finden im Rahmen dieser Fallbesprechungen auch Intervisionen statt (vgl. Eickhorst et al., in diesem Heft). 3 Erhebungszeitraum 04/ 09 - 02/ 11 4 Im Folgenden beziehen wir uns auf die biologischen Väter; Partner der Mütter (soziale Väter) werden hier nicht beschrieben. Literatur Arnott, B., Meins, E. (2007). 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