eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 60/3

Psychologie in Erziehung und Unterricht
3
0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2013
603

Kompositionseffekte auf den schulischen Wissenserwerb

71
2013
Olaf Köller
In den letzten zwanzig Jahren sind in Deutschland viele Forschungsarbeiten in der pädagogischen Psychologie entstanden, die sich sys¬tematisch mit Wissenserwerbsprozessen in unterschiedlichen Schulfächern beschäftigen. Dominierten in der eher psychologisch orientierten Forschung seit jeher individuelle Determinanten – seien es motivationale Merkmale oder die Intelligenz der Schülerinnen und Schüler – so hat sich nicht zuletzt in Folge der großen Schulleistungsstudien wie TIMSS, PIRLS oder PISA die Überzeugung durchgesetzt, dass die Rolle des (schulischen) Kontextes, in dem die Kinder und Jugendlichen lernen, nicht ignoriert werden kann. [...]
3_060_2013_003_0161
Editorial Kompositionseffekte auf den schulischen Wissenserwerb Olaf Köller In den letzten zwanzig Jahren sind in Deutschland viele Forschungsarbeiten in der pädagogischen Psychologie entstanden, die sich systematisch mit Wissenserwerbsprozessen in unterschiedlichen Schulfächern beschäftigen. Dominierten in der eher psychologisch orientierten Forschung seit jeher individuelle Determinanten - seien es motivationale Merkmale oder die Intelligenz der Schülerinnen und Schüler - so hat sich nicht zuletzt in Folge der großen Schulleistungsstudien wie TIMSS, PIRLS oder PISA die Überzeugung durchgesetzt, dass die Rolle des (schulischen) Kontextes, in dem die Kinder und Jugendlichen lernen, nicht ignoriert werden kann. Hattie (2009; vgl. auch Köller & Baumert, 2012) schätzt, dass rund 40 Prozent der Leistungsunterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern durch institutionelle Einflüsse (Unterrichtsvariablen, Schulfaktoren, Schulformunterschiede) erklärt werden können. Während wir auch mittlerweile wissen, dass Unterrichtsvariablen wie kognitive Aktivierung, Classroom Management und Unterstützung in der Tat zentrale Antezedenzien des schulischen Lernerfolgs sind, sind Arbeiten zur Rolle der Klassenzusammensetzung (Komposition) für Wissenserwerbsprozesse unterbelichtet. Am ehesten findet man zu diesem Thema viele Arbeiten, die sich mit der Rolle der Leistungsstärke der Klasse auf schulische Selbstkonzepte beschäftigen. Sehr prominent ist hier der Big-Fish-Little-Pond-Effekt, wonach (bei Konstanthaltung der individuellen Leistungsfähigkeit) in leistungsstarken Klassen das individuelle Fähigkeitsselbstkonzept sinkt. Welche Rolle die Zusammensetzung der Klasse für die Leistungsentwicklung spielt, ist weit weniger klar und Gegenstand dieses Themenschwerpunktes. In drei Beiträgen wird die Frage aufgeworfen, ob die Leistungsstärke der Klasse, die soziale Zusammensetzung und die Schulform einen Effekt auf die Leistungsveränderung deutscher Schülerinnen und Schüler in der Sekundarstufe I haben. Im ersten Beitrag von Dumont, Neumann, Maaz und Trautwein wird ein umfangreicher Überblick über die internationale und nationale Forschung zu Kompositionseffekten auf die Schulleistungsentwicklung gegeben. Schon in diesem Beitrag wird die Frage aufgeworfen, inwieweit es bei nationalen Untersuchungen die Zusammensetzung der Schülerschaft oder eher die Schulform ist, die über das Ausmaß des Lernerfolges entscheidet. Tenor ist, dass beide Faktoren erheblich konfundiert sind, gegenüber Faktoren der sozialen, migrationsbedingten und geschlechtsspezifischen Zusammensetzung aber dominieren. Im Beitrag von Köller, Schütte, Zimmermann, Retelsdorf und Leucht wird dementsprechend ein Schwerpunkt auf die Leistungsstärke der Klasse und die Schulform als Prädiktoren der Leistungsveränderung gelegt. Die Arbeit macht deutlich, dass im Bereich des Lesens individuelle gegenüber Kompositionseffekten oder der Schulform dominieren. Die Entwicklung der Leseleistung scheint demnach wenig durch die Leistungsstärke der Mitschülerinnen und Mitschüler beeinflusst zu sein. Ganz anders stellt sich das Bild im Fach Mathematik dar. Hier zeigen sich substanzielle Effekte der Schulform und der Leistungsstärke der Mitschülerinnen und Mitschüler. Weniger eindeutig sind die Effekte im dritten Beitrag von Dumont, Neumann, Nagy, Becker, Rose und Trautwein. Kontexteffekte erweisen sich in dieser Studie als weitgehend irrelevant, dies mag allerdings auch dem Umstand geschuldet sein, dass die Stichprobe keine Schülerinnen und 162 Editorial Schüler aus Gymnasien umfasst. Insgesamt machen aber alle drei Beiträge deutlich, dass es sich bei der Untersuchung von Kompositionseffekten um ein Forschungsfeld handelt, das keineswegs erschöpfend untersucht wurde und in dem sich nach wie vor viele Fragen stellen, deren empirische Beantwortung aussteht. Literatur Hattie, J. A. C. (2009). Visible learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. Oxon: Routledge. Köller, O. & Baumert, J. (2012). Schulische Leistungen und ihre Messung. In W. Schneider & U. Lindenberger (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (7. Aufl., S. 645 - 661). Weinheim: Beltz/ PVU.