eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 60/3

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2013
603

Die Lesemotivation von Grundschülerinnen und -schülern der sechsten Klassenstufe

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2013
Ulrich Schiefele
Ellen Schaffner
Basierend auf den Arbeiten von Wigfield und Guthrie (1997) entwickelten Möller und Bonerad (2007) sowie Schaffner und Schiefele (2007) Fragebögen zur Erfassung der Lesemotivation von Schülerinnen und Schülern. Mit der vorliegenden Studie sollte geprüft werden, in welchem Ausmaß die in diesen Fragebögen unterschiedenen Komponenten der Lesemotivation mit den subjektiven Rekonstruktionen der Adressaten übereinstimmen. Um diese Frage zu beantworten, wurde eine Interviewstudie mit 26 Grundschülerinnen und -schülern durchgeführt. Die Ergebnisse der inhaltsanalytischen Auswertung der Interviews bestätigen zwar einige der in den Fragebögen enthaltenen Komponenten, legen darüber hinaus aber nahe, dass wichtige Aspekte der Lesemotivation vernachlässigt worden sind (z. B. Lesen zur Regulation von Gefühlen, Lesen zur Entspannung). Abschließend werden Konsequenzen für die Weiterentwicklung von Fragebögen zur Lesemotivation diskutiert.
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n Empirische Arbeit Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2013, 60, 214 -233 DOI 10.2378/ peu2013.art17d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die Lesemotivation von Grundschülerinnen und -schülern der sechsten Klassenstufe Ergebnisse einer Interviewstudie Ulrich Schiefele, Ellen Schaffner Universität Potsdam Reading Motivation of Sixth-Grade Elementary School Students - Results from an Interview Study Summary: Based on research by Wigfield and Guthrie (1997), Möller and Bonerad (2007) as well as Schaffner and Schiefele (2007) have developed questionnaires to assess students’ reading motivation. The goal of the present study was to examine whether these instruments coincide with students’ subjective views of their own reading motivation. In order to clarify this question, we conducted interviews with 26 elementary school students and applied content analysis to examine the interview protocols. Although the results support some of the theoretically postulated components, they suggest that questionnaire measures have neglected some important aspects of reading motivation (e. g., reading to regulate one’s feelings, reading to relax). Finally, consequences for the revision of reading motivation questionnaires were discussed. Keywords: Reading motivation, interview method, elementary school Zusammenfassung: Basierend auf den Arbeiten von Wigfield und Guthrie (1997) entwickelten Möller und Bonerad (2007) sowie Schaffner und Schiefele (2007) Fragebögen zur Erfassung der Lesemotivation von Schülerinnen und Schülern. Mit der vorliegenden Studie sollte geprüft werden, in welchem Ausmaß die in diesen Fragebögen unterschiedenen Komponenten der Lesemotivation mit den subjektiven Rekonstruktionen der Adressaten übereinstimmen. Um diese Frage zu beantworten, wurde eine Interviewstudie mit 26 Grundschülerinnen und -schülern durchgeführt. Die Ergebnisse der inhaltsanalytischen Auswertung der Interviews bestätigen zwar einige der in den Fragebögen enthaltenen Komponenten, legen darüber hinaus aber nahe, dass wichtige Aspekte der Lesemotivation vernachlässigt worden sind (z. B. Lesen zur Regulation von Gefühlen, Lesen zur Entspannung). Abschließend werden Konsequenzen für die Weiterentwicklung von Fragebögen zur Lesemotivation diskutiert. Schlüsselbegriffe: Lesemotivation, Interview-Methode, Grundschule Die habituelle Lesemotivation (LM) von Schülerinnen und Schülern wird gegenwärtig fast ausschließlich mithilfe von Fragebögen erfasst. Dabei hat sich der Motivations for Reading Questionnaire (MRQ) von Wigfield und Guthrie (1997) als besonders einflussreich erwiesen (Möller & Schiefele, 2004; Schiefele, Schaffner, Möller, & Wigfield, 2012). Er bildete auch die Grundlage für die Entwicklung ähnlicher, deutschsprachiger Verfahren (Möller & Bonerad, 2007; Schaffner & Schiefele, 2007). Eine wichtige, bislang nur wenig geklärte Frage betrifft dabei die Übereinstimmung der in den genannten Instrumenten postulierten Motiva- Autorenhinweis: Wir danken Kathrin Läufer für die Mitarbeit bei der Entwicklung des Interviewleitfadens und die Durchführung der Interviews. Lesemotivation im Grundschulalter 215 tionsdimensionen mit der subjektiven Sicht der betroffenen Schülerinnen und Schüler. Obwohl Wigfield und Guthrie (1997) ihren Fragebogen auch auf eine qualitative Befragung gestützt haben, fehlen entsprechende Untersuchungen im deutschsprachigen Raum. Diese Lücke soll in einem ersten Schritt mithilfe der vorliegenden Studie geschlossen werden. Dimensionen der habituellen Lesemotivation (LM) in Fragebogenverfahren Die LM im Sinne eines habituellen Personenmerkmals bezeichnet die relativ stabile bzw. über einen längeren Zeitraum hinweg auftretende Bereitschaft, Leseaktivitäten zu initiieren (vgl. Möller & Schiefele, 2004; Schiefele et al., 2012). Dabei können je nach verhaltensbestimmendem Anreiz (z. B. Erleben von Spannung, soziale Anerkennung) verschiedene Dimensionen der LM unterschieden werden. Die Konzeptualisierung dieser Dimensionen ist in der bisherigen Forschung strittig und die bislang vorgelegten Fragebögen unterscheiden sich hinsichtlich der erfassten Dimensionen der LM. Der von Wigfield und Guthrie (1997; s. a. Baker & Wigfield, 1999; Wang & Guthrie, 2004) entwickelte MRQ wurde bislang bei Schülerinnen und Schülern der dritten bis achten Klassenstufe eingesetzt. Er basiert auf einer multidimensionalen Konzeption der LM, die eine Reihe verschiedener theoretischer Ansätze berücksichtigt (z. B. Zieltheorie, Selbstbestimmungstheorie). Als Komponenten intrinsischer LM beinhaltet der MRQ das Lesen aus Neugier 1 (um etwas über persönlich interessante Themen zu erfahren) und das Lesen aufgrund innerer Beteiligung (um fantasievolle Handlungen mitzuerleben und sich in die Charaktere einer Geschichte hineinzuversetzen). Während intrinsisch motiviertes Lesen aufgrund von Anreizen erfolgt, die während des Lesens auftreten, richtet sich extrinsisch motiviertes Lesen auf Anreize, die als Konsequenzen auf das Lesen folgen (vgl. Schiefele et al., 2012). Folglich werden die MRQ-Skalen Wettbewerb (Lesen, um bessere Leseleistungen zu erreichen als andere), Anerkennung (Lesen, um von Lehrern, Eltern oder Freunden für gute Leseleistungen anerkannt zu werden) und Noten (Lesen, um in der Schule bzw. im Lesen gute Noten zu erhalten) der extrinsischen LM zugeordnet (Wigfield & Guthrie, 1997). Neben den Faktoren der intrinsischen und extrinsischen LM unterscheiden Wigfield und Guthrie (1997) noch folgende Komponenten: Selbstkonzept (der eigenen Lesefähigkeit) 2 , Herausforderung (Präferenz für herausfordernde bzw. schwierige Texte), Wichtigkeit (ein guter Leser zu sein), Lese-Arbeitsvermeidung (Vermeidung komplizierter oder schwieriger Texte), soziales Lesen (z. B. jemandem eine Geschichte vorlesen oder mit anderen über die Inhalte von Texten sprechen) und schulische Verpflichtung (Lesen, um schulischen Verpflichtungen nachzukommen, insbesondere im Rahmen von Hausaufgaben). Während Selbstkonzept und Wichtigkeit eher als Bedingungen der LM anzusehen sind, kann die Präferenz für herausfordernde Texte als mögliche Folge der LM gelten (vgl. Schiefele et al., 2012). Diese Faktoren stellen daher keine Formen der LM dar. Dagegen lassen sich das Lesen aus sozialen Gründen und aufgrund schulischer Verpflichtung relativ eindeutig der extrinsischen LM zuordnen. Während Faktorenanalysen von Wigfield und Guthrie (1997) die dimensionale Struktur des MRQ scheinbar bestätigen, kommen Watkins und Coffey (2004) zu einem abweichenden Ergebnis, das eine achtfaktorielle Struktur des MRQ nahelegt. Watkins und Coffey (2004) weisen darauf hin, dass Wigfield und Guthrie (1997) keine faktorenanalytische Prüfung des MRQ auf der Grundlage aller Items vorgenommen haben, sondern nur getrennte Faktoren- 1 Die Übersetzung der originalen Skalenbzw. Dimensionsbezeichnungen erfolgte hier wie im Folgenden immer möglichst wörtlich, außer wenn es darum ging, inhaltliche Unterschiede zwischen verschiedenen Studien hervorzuheben. 2 Wigfield und Guthrie (1997) verwenden für diesen Faktor den Begriff reading efficacy. De facto erheben sie jedoch das Selbstkonzept der Lesefähigkeit (z. B. „I am a good reader“). 216 Ulrich Schiefele, Ellen Schaffner analysen für jede einzelne Motivationsdimension durchführten (als Begründung dient eine geringe Stichprobengröße). Darüber hinaus wird das Vorgehen der Arbeitsgruppe um Wigfield und Guthrie bemängelt, in den eigenen Studien entweder nur einzelne Skalen oder veränderte Versionen des MRQ eingesetzt zu haben (z. B. Cox & Guthrie, 2001; Wang & Guthrie, 2004). Die von Watkins und Coffey (2004) ermittelten acht Faktoren stimmen weitgehend mit den folgenden, von Wigfield und Guthrie postulierten Faktoren überein: Neugier, Beteiligung, Wettbewerb, Anerkennung, Selbstkonzept, Lese-Arbeitsvermeidung und soziales Lesen. Den achten Faktor bilden die ursprünglich getrennten Komponenten Noten und schulische Verpflichtung. Die MRQ- Faktoren Herausforderung und Wichtigkeit fanden zudem in der Faktorenlösung von Watkins und Coffey (2004) keine Berücksichtigung. Dies stützt unsere Überlegung, wonach beide Faktoren nicht als Komponenten der LM zu betrachten sind (s. o.). Möller und Bonerad (2007) sowie Schaffner und Schiefele (2007) haben für den deutschsprachigen Raum an den MRQ angelehnte, einander deutlich überlappende Fragebögen zur Erfassung der LM entwickelt. Beide Autorenteams unternahmen den Versuch, im Rahmen von Pilotstudien den Original-MRQ zu adaptieren. Dabei gelang es übereinstimmend nicht, die Vielzahl der von Wigfield und Guthrie postulierten Motivationskomponenten zu replizieren. So umfasst der Fragebogen zur habituellen Lesemotivation (FHLM) von Möller und Bonerad (2007) neben dem lesebezogenen Selbstkonzept zwei Dimensionen der intrinsischen LM, nämlich Leselust (Freude am Lesen; keine Entsprechung im MRQ) und Lesen aus Interesse an bestimmten Themen (entspricht Neugier im MRQ), und eine Dimension der extrinsischen LM, nämlich Wettbewerb (besser lesen zu können als andere; entspricht der gleichnamigen MRQ-Komponente). In dem Lesemotivations-Fragebogen (LMF) von Schaffner und Schiefele (2007) wurden selbstkonzeptbezogene Items nicht berücksichtigt. Der LMF umfasst die folgenden fünf Subskalen: objektbezogene LM (Interesse an bestimmten Themen als Leseanreiz), erlebnisbezogene LM (stellvertretendes Erleben 3 als Leseanreiz), leistungsbezogene LM (Kompetenzerweiterung bzw. Aufgabenbewältigung als Leseanreiz), wettbewerbsbezogene LM (positives Abschneiden im sozialen Vergleich als Leseanreiz) und soziale LM (soziale Anerkennung als Leseanreiz). Es gibt dabei wesentliche Entsprechungen mit den MRQ-Skalen Neugier (objektbezogene LM), Beteiligung (erlebnisbezogene LM), Noten (leistungsbezogene LM) und Wettbewerb (wettbewerbsbezogene LM). Die soziale LM stellt dagegen eine Kombination der MRQ- Komponenten Anerkennung und soziales Lesen dar. Die MRQ-Faktoren Herausforderung, Wichtigkeit, Lese-Arbeitsvermeidung und Verpflichtung fanden keine Berücksichtigung im LMF. Interessanterweise waren Herausforderung und Wichtigkeit auch in der modifizierten MRQ-Version von Watkins und Coffey (2004) nicht enthalten; und die Verpflichtung bildete gemeinsam mit Noten einen gemeinsamen Faktor. Somit ist festzuhalten, dass die Faktorenstrukturen von LMF und MRQ, in der Version von Watkins und Coffey (2004), weitgehend übereinstimmen. Lediglich die Lese-Arbeitsvermeidung und die Verpflichtung (die allerdings bei Watkins und Coffey keinen eigenen Faktor bildet) fehlen im LMF (siehe Schiefele et al., 2012, für eine eingehende Gegenüberstellung der aufgeführten Instrumente). Qualitative Studien zu den Dimensionen der Lesemotivation (LM) Wigfield und Guthrie (1997) stützten die Entwicklung des MRQ auf eine qualitative Befragung von Schülerinnen und Schülern (Guthrie et al., 1996). Als Stichprobe der Studie von Guthrie et al. (1996) dienten 24 Schülerinnen 3 Stellvertretendes Erleben meint, dass man sich z. B. mit einer Figur in einer Geschichte oder einem Roman identifiziert und an den Erlebnissen dieser Figur Anteil nimmt. Lesemotivation im Grundschulalter 217 und Schüler verschiedener dritter und fünfter Klassen, die an dem Programm Concept-Oriented Reading Instruction (CORI) zur Förderung von Lesekompetenz und -motivation teilnahmen. Die inhaltsanalytische Auswertung der Interviews ergab 14 Kategorien, wovon zehn den Dimensionen des MRQ entsprechen. Die Wichtigkeit (ein guter Leser zu sein) gehört nicht zu den 14 Kategorien und wurde aufgrund theoretischer Überlegungen, ohne Bestätigung durch die Interviewergebnisse, in den MRQ aufgenommen. Umgekehrt wurden vier Kategorien ermittelt, die keine Aufnahme in den MRQ fanden: 4 Investition für zukünftige Ziele (Lesen, um viel zu lernen und damit das Erreichen langfristiger Ziele - z. B. ein Studium aufzunehmen oder einen bestimmten Beruf auszuüben - zu erleichtern), emotionales Einstimmen (Lesen, um Traurigkeit, Einsamkeit oder Langeweile zu reduzieren oder um sich zu erholen und zu entspannen), Belohnungen (Lesen, um in der Schule oder zu Hause bestimmte Belohnungen oder Privilegien zu erhalten, z. B. Lob, freie Zeit oder soziale Zuwendung) und Nutzanwendung (Lesen von Anweisungen oder Manualen, um bestimmte Geräte, Werkzeuge, Programme etc. verwenden zu können). Bei den Ergebnissen der Studie von Guthrie et al. (1996) ist zu beachten, dass nur Schülerinnen und Schüler befragt wurden, die gleichzeitig an dem CORI-Programm teilnahmen. Nolen (2007, S. 221) hat darauf hingewiesen, dass in diesem Programm bestimmte Gründe für das Lesen nahegelegt werden (z. B. Lesen aus fachlichem Interesse) und das Antwortverhalten der Befragten auf diese Weise beeinflusst worden sein könnte. Neben der Arbeit von Guthrie et al. (1996) liegen bislang nur wenige qualitative Studien zur Ermittlung von Dimensionen der LM vor. Ein bedeutsames Beispiel stellt die Studie von Greaney und Neuman (1990) dar. Sie gingen der Frage nach, welche Gründe die Leseabsichten von Schülerinnen und Schülern bestimmen. Zu diesem Zweck ließen die Autoren 8bis 13-jährige Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Nationalitäten Aufsätze darüber schreiben, warum sie lesen. In den Aufsätzen identifizierten sie anschließend zehn Funktionen des Lesens: Allgemeines Lernen (Lesen, um zu lernen, um besser lesen zu können oder um klüger zu werden), Vergnügen (Lesen, weil es Spaß macht oder interessant ist), Flucht (Lesen, um den Alltag zu vergessen bzw. um in eine andere Welt einzutauchen), Stimulation (Lesen, um sich mit Charakteren einer Geschichte zu identifizieren bzw. um sich in eine fremde Welt hineinzuversetzen), Vermeidung von Langeweile (Lesen, um Langeweile zu vermeiden bzw. wenn man nichts anderes zu tun hat), Ziele (Lesen, um einen Beruf ergreifen zu können oder um anderen zu helfen), Moralität (Lesen, um in moralischer Hinsicht zu lernen bzw. um sich richtig zu verhalten), Selbstachtung (Lesen, um von anderen Anerkennung zu bekommen), Annehmlichkeit/ Flexibilität (Lesen, weil es zu jeder beliebigen Zeit und auf individuelle Weise ausgeführt werden kann) und leistungsbezogener Nutzen (Lesen, um bestimmte Lern- und Leistungsziele zu erreichen). 5 Im Rahmen einer Längsschnittstudie hat Nolen (2007) eine Gruppe von 67 Grundschulkindern zu ihrer Lese- und Schreibmotivation in den Klassenstufen 1 bis 3 befragt. Die inhaltliche Analyse der Interviews ergab acht Kategorien der LM: Interesse (z. B. sich in eine Geschichte und ihre Charaktere hineinversetzen; Bevorzugen bestimmter Genres, Autoren oder Themen), Vergnügen (z. B. Lesen macht Spaß; bildliches Vorstellen bzw. Imagination), Bewältigung (z. B. schwierige Bücher als Herausforderung; Lesekompetenz verbessern; Neues lernen), Lesen als schulische Aufgabe (z. B. als Teil von Hausauf- 4 In den betreffenden Publikationen (Guthrie et al., 1996; Wigfield & Guthrie, 1997) findet sich dafür keine Begründung. 5 Greaney und Neuman (1990) konstruierten auf der Grundlage der Schüleräußerungen einen Fragebogen zur Erfassung der ermittelten Funktionen des Lesens. Dabei ergab sich eine Struktur mit vier Faktoren, auf die sich die meisten Items verteilten. Da der Fragebogen unseres Wissens nur eine geringe Verbreitung fand und nicht zur Klärung unserer Forschungsfrage beiträgt, gehen wir an dieser Stelle nicht weiter darauf ein (siehe jedoch die ausführliche Darstellung bei Schiefele et al., 2012). 218 Ulrich Schiefele, Ellen Schaffner gaben), zukunftsbezogener Nutzen (Lesen ist wichtig für das spätere Leben, z. B. um ein Studium aufzunehmen oder als Teil des Berufs), Wettbewerb (z. B. ein besserer Leser als andere zu werden; sich nicht für schwache Leistungen schämen müssen), soziale Motive (Lesen mit anderen macht Freude; man kann über die Inhalte sprechen und sich gegenseitig helfen) und Lesevermeidung (Lesen kostet viel Zeit und manche Texte sind schwer zu verstehen). Die in den Studien von Guthrie et al. (1996), Greaney und Neuman (1990) und Nolen (2007) ermittelten Kategorien der LM sind in Tabelle 1 vergleichend gegenübergestellt. Trotz bestehender Unterschiede in der Kategorienbezeichnung und -bildung (wobei insbesondere die unterschiedliche Breite der Kategoriendefinitionen auffällt) ergeben sich bedeutsame Übereinstimmungen. Dies betrifft insbesondere die Ergebnisse von Guthrie et al. (1996) und Nolen (2007). Gleichzeitig lassen sich vier Kategorien bestimmen (Belohnungen, Nutzanwendung, Annehmlichkeit/ Flexibilität, Moralität), die aufgrund ihres Vorkommens in jeweils nur einer der drei Studien (vgl. Tab. 1) als randständig einzustufen sind. Kategorien der Lesemotivation nach Guthrie et al. (1996) a Entsprechungen der Kategorien von Guthrie et al. (1996) bei Greaney & Neuman (1990) Nolen (2007) Vorliegende Studie Beteiligung Flucht, Stimulation, Vergnügen Interesse, Vergnügen Imagination, Absorption, Spannung, Lesefreude, Entspannung Investition für zukünftige Ziele Ziele Zukunftsbezogener Nutzen - Anerkennung Selbstachtung - Soziales Umfeld Noten Leistungsbezogener Nutzen - Kompetenzsteigerung Emotionales Einstimmen Vermeidung von Langeweile - Gefühlsregulation, Langeweile Wettbewerb - Wettbewerb Schulischer Wettbewerb Schulische Verpflichtung - Schulische Aufgabe Schule Neugier - Interesse, Bewältigung - Herausforderung - Bewältigung - Lese-Arbeitsvermeidung - Lesevermeidung - Soziales Lesen - Soziale Motive - Belohnungen - - - Nutzanwendung - - - Selbstkonzept - - - Kategorien ohne Entsprechung bei Guthrie et al. (1996) Annehmlichkeit/ Flexibilität - Einschlafhilfe b Moralität - - - - Zeitfüllung Tab. 1: Gegenüberstellung der Ergebnisse qualitativer Studien zur Lesemotivation Anmerkungen: a Die Reihenfolge der aufgeführten Kategorien ergibt sich aus der Zahl ihrer Entsprechungen in den anderen Studien. b Lesen als Einschlafhilfe entspricht bei Greaney und Neuman (1990) einer spezifischen Schüleräußerung, die der breiteren Kategorie Annehmlichkeit/ Flexibilität zugeordnet wurde. Lesemotivation im Grundschulalter 219 Geschlechtsunterschiede Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen spielen in der Forschung zur Lesemotivation eine große Rolle. In zahlreichen Studien sind übereinstimmend Geschlechtsunterschiede dokumentiert worden (z. B. Baker & Wigfield, 1999; Marinak & Gambrell, 2010; Artelt, Naumann & Schneider, 2010). Philipp (2011) kommt in seinem Überblick zu dem Ergebnis, dass Mädchen insbesondere stärker intrinsisch lesemotiviert sind als Jungen, während Letztere höhere Ausprägungen der wettbewerbsorientierten LM aufweisen. Darüber hinaus besteht die Tendenz, dass die Unterschiede zugunsten der Mädchen im Laufe der Schulzeit zunehmen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Befund von Möller und Bonerad (2007) sowie Schaffner und Schiefele (2007), wonach der Vorsprung der Mädchen die erlebnisbezogene stärker als die objektbezogene intrinsische LM betrifft. Hinweise für geschlechtsbedingte Unterschiede im lesebezogenen Selbstkonzept waren nicht nachweisbar (Philipp, 2011). In den oben dargestellten qualitativen Studien von Greaney und Neuman (1990), Guthrie et al. (1996) und Nolen (2007) wurden Geschlechtsunterschiede nicht analysiert. Fragestellung Die geschilderten qualitativen Arbeiten können im Großen und Ganzen als Bestätigung für die im MRQ (Wigfield & Guthrie, 1997) repräsentierten Dimensionen gewertet werden. Lediglich die Dimension Wichtigkeit (s. o.) konnte in keiner der Studien ermittelt werden. Zusätzlich fällt auf, dass die von Guthrie et al. (1996) identifizierte Dimension emotionales Einstimmen nicht im MRQ berücksichtigt worden ist. Dennoch überwiegt die Evidenz für eine weitgehende Entsprechung der MRQ- Skalen mit den subjektiven Rekonstruktionen der Adressaten des Fragebogens. Die kritische Frage ist nun, inwiefern die an dem MRQ orientierten deutschsprachigen Instrumente zur Erfassung der LM (FHLM, LMF, s. o.) die gleiche Evidenz für sich beanspruchen können. Nach unserer Auffassung ist dies nur in eingeschränkter Weise möglich, denn die Befunde der bisherigen US-amerikanischen qualitativen Studien können aufgrund kultureller Unterschiede hinsichtlich des gesellschaftlichen Stellenwerts des Lesens sowie der schulischen und elterlichen Förderung von Leseaktivitäten nicht ohne Weiteres auf deutsche Schülerinnen und Schüler übertragen werden (s. dazu auch den Überblick zu Unterschieden zwischen ethnischen Gruppen bei Philipp, 2011). Dies belegen Studien, die bedeutsame Unterschiede in der Ausprägung, Dimensionalität, Entwicklung und in der Wirkung von Lesemotivation zwischen ethnischen Gruppen in den USA (z. B. Guthrie, Coddington, & Wigfield, 2009; Wang & Guthrie, 2004) sowie zwischen Stichproben aus unterschiedlichen Ländern (z. B. Chiu & Chow, 2010; Greaney & Neuman, 1990) beobachtet haben. Auch die Veränderungen der deutschsprachigen Adaptionen des MRQ (in Form des FHLM bzw. LMF) gegenüber dem Original unterstützen die Annahme kultureller Differenzen. Es schien daher wünschenswert, für eine Stichprobe deutscher Schülerinnen und Schüler zu prüfen, ob die in den deutschsprachigen Instrumenten enthaltenen Dimensionen der LM mit der Sichtweise der Betroffenen bzw. deren Wahrnehmung der eigenen LM übereinstimmen. Dabei ging es uns nicht um die Frage, ob die Ausprägungen der mit Fragebögen und der mit Interviews erfassten Motivationsdimensionen kovariieren, sondern ob die interviewten Schülerinnen und Schüler überhaupt die in den Fragebögen enthaltenen Dimensionen nennen und darüber hinaus auch neue, bislang nicht beachtete Dimensionen ansprechen. Um diese Fragen zu klären, führten wir ein leitfadengestütztes Interview durch. Die Ergebnisse unserer Studie können somit möglicherweise wichtige Hinweise für die Weiterentwicklung von LM-Fragebögen liefern. 220 Ulrich Schiefele, Ellen Schaffner Ein zusätzliches Ziel der Interviews bestand in der Analyse von Geschlechtsunterschieden. Während aus quantitativen Studien Ergebnisse zu solchen Unterschieden vorliegen (s. o.), haben die dargestellten qualitativen Studien von Greaney und Neuman (1990), Guthrie und Kollegen (1996) und Nolen (2007) nicht den Versuch unternommen, Geschlechtsunterschiede zu analysieren. Es schien daher lohnenswert zu prüfen, inwiefern sich die beobachteten quantitativen Ausprägungsunterschiede zwischen Mädchen und Jungen in der Nennung von Lesegründen in den Interviews wiederfinden lassen. Methode Stichprobe und Durchführung An der Studie nahmen 16 Mädchen und 10 Jungen der sechsten Klassenstufe aus zwei verschiedenen Brandenburger Grundschulen teil (Schule A: 11 Mädchen, 6 Jungen; Schule B: 5 Mädchen, 4 Jungen). Die Schülerinnen und Schüler aus Schule A stammten aus zwei verschiedenen Klassen, diejenigen aus Schule B aus der gleichen Klasse. Das Durchschnittsalter betrug für die Jungen 11.7 und für die Mädchen 11.6 Jahre. Alle Personen waren entweder 11 oder 12 Jahre alt. Bei der Auswahl der Interviewten, die mithilfe der jeweiligen Lehrkraft für das Fach Deutsch erfolgte, wurde zum einen darauf geachtet, dass eine einwandfreie Beherrschung der deutschen Sprache vorlag. Zum anderen sollten möglichst Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichem Leistungsvermögen einbezogen werden, um eine heterogene Gruppe zu erhalten. Die im Interview selbstberichteten durchschnittlichen Noten in den Fächern Deutsch und Mathematik des letzten Zeugnisses betrugen 2.34 (SD = 0.89; Wertebereich: 1 - 4) bzw. 2.79 (SD = 0.83; Wertebereich: 1.5 - 4). Die durchschnittliche Gesamtnote (bezogen auf alle Fächer) lag bei 2.33 (SD = 0.64; Wertebereich: 1.3 - 3.5). Zusätzlich erhoben wir eine Selbsteinschätzung der Lesefähigkeit („Wie gut kannst du lesen? “) auf einer vierstufigen Skala (sehr gut, gut, mäßig/ mittel, eher schlecht). Hier lag der Mittelwert bei 2.19 (SD = 0.62; Wertebereich: 1 - 3). Da uns gleichzeitig aus einer anderen Studie (Schiefele, 2013) Daten von 380 Grundschülerinnen und -schülern der sechsten Klassenstufe aus Brandenburg vorlagen, konnten wir zumindest annäherungsweise prüfen, ob unsere Stichprobe von der zugrunde liegenden Population abweicht. Die Vergleichsstichprobe (Alter: M = 11.9) zeigte Notenmittelwerte von 2.33 (SD = 0.81) für das Fach Deutsch und 2.40 (SD = 0.98) für das Fach Mathematik. Während die mittlere Deutschnote und die Streuungen beider Notenmittelwerte zwischen den Stichproben kaum variieren, ergab sich für die mittlere Mathematiknote eine Abweichung um ca. eine halbe Standardabweichung. Dennoch ist festzustellen, dass die von uns befragten Schülerinnen und Schüler keine untypische bzw. keine zu homogene Stichprobe darstellten und das Leistungsniveau und -spektrum ihrer Altersgruppe in der sechsten Klasse der Grundschule widerspiegelten. Erwartungsgemäß zeigten die Mädchen bessere Deutschnoten (M = 2.13, SD = 0.72 vs. M = 2.69, SD = 1.05; d = .63), Gesamtnoten (M = 2.13, SD = 0.49 vs. M = 2.65, SD = 0.75; d = .84) und Selbsteinschätzungen der Lesefähigkeit (M = 2.09, SD = 0.61 vs. M = 2.35, SD = 0.63; d = .42). Auch die Mathematiknoten erwiesen sich bei den Mädchen gegenüber den Jungen als etwas besser (M = 2.72, SD = 0.82 vs. M = 2.90, SD = 0.88; d = .21). Keiner der genannten Unterschiede erreichte, vermutlich wegen der kleinen Stichprobe, ein signifikantes Niveau (geprüft mit t-Tests). Die angegebenen Effektstärken sind jedoch insbesondere bzgl. der Deutsch- und Gesamtnoten in mittlerem bzw. hohem Ausmaß (d > .50) als praktisch bedeutsam einzuschätzen. Der Vergleich mit der oben erwähnten zusätzlichen Stichprobe bestätigt die besseren Deutschnoten für die Mädchen (M = 2.24, SD = 0.80 vs. M = 2.43, SD = 0.81 für die Jungen; d = .23), nicht jedoch deren bessere Mathematiknoten (M = 2.43, SD = 0.95 vs. M = 2.37, SD = 1.01 für die Jungen; d = .06). Der Unterschied bei den Mathematiknoten ist allerdings auch in unserer Stichprobe als so gering einzustufen, dass hier kaum von einer nennenswerten Abweichung unserer Stichprobe von der Vergleichsstichprobe gesprochen werden kann. Alle Interviews wurden von einer geschulten Studentin der Psychologie in den Schulen durchgeführt und auf Tonband aufgezeichnet. Die Durchführung erfolgte anstelle regulärer Unterrichtsstunden. Es war jeweils eine Dauer von ca. 30 Minuten geplant. Die Mindestdauer betrug tatsächlich ca. 20 und die Höchstdauer ca. 40 Minuten. Die Durchschnittswerte lagen bei ca. 33 Minuten für die Mädchen und ca. 27 Minuten für die Jungen. Lesemotivation im Grundschulalter 221 Leitfadeninterview Zu Beginn wurde den Befragten kurz der Gegenstand des Interviews erläutert: „Wir interessieren uns für das Thema Lesen. Uns interessiert besonders, welche Bücher Du gerne liest und wie viel Du liest. Wir möchten gerne wissen, was Dir daran gefällt und auch was Dir dabei nicht so gefällt. Dabei gibt es keine richtigen oder falschen Antworten.“ Der Leitfaden besteht im Wesentlichen aus vier Teilen: Leseinhalt und -häufigkeit, LM, Lesevermeidung und Leseumgebung. Im Vordergrund der hier berichteten Auswertung steht der Teil zur LM. Die Fragen sollten die Befragten anregen, über ihre Gründe und Motivationen zum Lesen nachzudenken und diese dann zu äußern. Der Leitfaden wurde in einem Probeinterview mit einer 12-jährigen Grundschülerin erprobt und danach geringfügig modifiziert. Die Fragen des endgültigen Leitfadens mit Bezug zur LM sind in Tabelle 2 zusammengefasst. Es sind dabei vier Fragen bzw. Fragenbereiche zu unterscheiden. Es beginnt mit einer offenen Frage nach den Gründen für das Lesen. Um möglichst differenzierte und umfassende Antworten anzuregen, wurde die erste allgemeine Frage von zwei Fragenbereichen ergänzt, die dezidiert auf das Erleben (und somit mögliche Gründe) intrinsisch motivierten Lesens und die Gründe für das Lesen bei extrinsischer Motivation (bzw. bei fehlender intrinsischer Motivation) eingehen. Schließlich folgten direkte Fragen nach den im LMF (s. o.) enthaltenen Dimensionen der LM. 6 Hier wurden die Befragten um eine Einschätzung gebeten, ob diese Dimensionen auf sie zutreffen. Dabei ging es vor allem darum, herauszufinden, ob Lesegründe, die z. B. bei offener Antwortmöglichkeit nicht genannt werden, gleichwohl bei expliziter Vorgabe als eigene Gründe „wiedererkannt“ werden. Die Schülerinnen und Schüler wurden zusätzlich nach Beispielen gefragt, um die Nennung bzw. Bestätigung von Lesegründen zu validieren. Auswertung der Interviews: Kategorienbildung Die Auswertung erfolgte in enger Anlehnung an die Vorgaben von Mayring (2008). Das zentrale Ziel der Auswertung bestand darin, inhaltliche Katego- 1. Gründe zum Lesen Man kann aus den unterschiedlichsten Gründen lesen. Welche Gründe für das Lesen kommen denn bei Dir vor? 2. Vertiefung zur intrinsischen Lesemotivation Kannst Du mir Deine drei Lieblingsbücher nennen? Was gefällt Dir besonders an diesen Büchern? Wie bist Du darauf gekommen, sie zu lesen? Was hast Du so beim Lesen dieser Bücher erlebt, gedacht etc.? 3. Vertiefung zur extrinsischen Lesemotivation Kommt es vor, dass Du etwas liest (z. B. ein Buch), obwohl Du keinen Spaß daran hast oder Dich gar nicht so richtig dafür interessierst? Wenn ja: Was sind dann Deine Gründe zum Lesen? 4. Direkte Abfrage der Dimensionen des LMF Ist es vorgekommen, dass Du gelesen hast, weil … jemand anderer wollte bzw. erwartet hat, dass du (etwas Bestimmtes) liest? (soziale LM) … Du dadurch im Unterricht besser mitkommst als andere? (wettbewerbsbezogene LM) … Du im Lesen möglichst gut sein möchtest? (leistungsbezogene LM) … Dich ein spezielles Thema interessiert? (objektbezogene LM) … Du dabei in eine andere Welt eintauchen und alles andere vergessen kannst? (erlebnisbezogene LM) Tab. 2: Interviewleitfaden (Ausschnitt zur Lesemotivation) Anmerkungen: LMF = Lesemotivations-Fragebogen von Schaffner und Schiefele (2007). LM = Lesemotivation. 6 Diese überschneiden sich, wie oben dargestellt, mit den Dimensionen aus dem FHLM, mit Ausnahme des Selbstkonzepts und der Leselust. Während das Selbstkonzept u. E. nicht als Motivationsform gelten kann, stellt die Leselust ein eher unspezifisches Maß der intrinsischen Lesemotivation dar, das sich nicht für eine direkte Nachfrage eignet, denn uns ging es ja gerade darum, die genauen Gründe für die Freude am Lesen herauszufinden. 222 Ulrich Schiefele, Ellen Schaffner Kategorie a Definition Ankerbeispiele Kodierregeln 1. Lesefreude Die Tätigkeit des Lesens wird positiv bzw. freudvoll erlebt, ohne dass eine weitere Spezifizierung erfolgt. „Ich finde Bücher toll und Lesen ist wunderschön.“ (Fall 1) „… aber eigentlich lese ich einfach gerne.“ (Fall 12) Lesefreude wird kodiert, wenn eher allgemeine und emotional positive Attribute genannt werden (z. B. Lesen macht Spaß). 2. Imagination Es wird gelesen, um die Handlung in einem Buch mitzuerleben bzw. sich bildlich vorzustellen oder sich mit den Figuren zu identifizieren. „Und meine Lesegründe sind eigentlich eher so …ich lese mich eher in die Person rein und erlebe die Abenteuer mit dem, so gesagt will ich Abenteuer erleben.“ (Fall 4) „Man ist selber die Hauptperson und hat alle Bilder vor Augen. Das ist wie Kino.“ (Fall 19) Hier werden Äußerungen kodiert, die auf verschiedene Weise zum Ausdruck bringen, dass es der Person um das Miterleben (stellvertretende Erfahrung) in der Vorstellung geht. Auch die Anregung der Phantasie wird genannt. 3. Absorption Lesen erfolgt, weil man dadurch in einen versunkenen, absorbierten (flow-ähnlichen) Zustand kommt, bei dem alle anderen Dinge in den Hintergrund geraten. „Ich bin dann irgendwie weg, wenn ich lese und man muss mich dann erst drei vier Mal ansprechen, bis ich dann voll reagiere.“ (Fall 4) „… also ich lese und vergesse dann alles andere.“ (Fall 17) Es geht hier um Zustände wie „im Buch versinken“, „alles andere vergessen“, „darin aufgehen“, „voll dabei sein“ etc. Wichtig ist dabei die Abgrenzung zur Imagination, bei der das Miterleben im Vordergrund ist. 4. Spannung Lesen erfolgt, weil ein Buch gerade sehr spannend ist und man weiterlesen möchte bzw. neugierig ist, wie es weitergeht. „… aber auch, wenn ich wissen muss, wie es weiter geht, also bei Neugier.“ (Fall 9) „Ich lese gerne spannende Stellen…“ (Fall 21) Es wird in der Regel explizit angeführt, dass man wissen will, wie es in einem Buch, das man schon begonnen hat zu lesen, weitergeht. Auch eine Präferenz für spannende Literatur kann hier kodiert werden. 5. Entspannung Als Grund für das Lesen wird die Entspannung angegeben, die durch das Lesen möglich wird. „Na ich weiß nicht…na zum Abschalten und so.“ (Fall 5) „… und wenn ich mich entspannen will.“ (Fall 6) Entspannung wird in der Regel explizit genannt. Alternative Formulierungen sind bspw. „Ruhe haben wollen“, „einfach nur rumliegen wollen“ etc. 6. Gefühlsregulation Lesen erfolgt bei Traurigkeit oder Ärger, um Abstand zu gewinnen und in eine bessere Stimmung zu kommen. „… wenn ich dann traurig bin oder verärgert, ziehe ich mich auch mit einem Buch zurück.“ (Fall 17) „Manchmal lese ich, wenn ich schlechte Noten bekommen habe oder Ärger zu Hause habe. Wenn ich mal traurig bin, lese ich oft.“ (Fall 20) Am häufigsten wird Traurigkeit als Folge von Streit (z. B. mit den Eltern) genannt, ganz selten Ärger. Auch wenn beides vorkommt, wird hier nur einmal kodiert. Tab. 3: Kodierleitfaden Lesemotivation im Grundschulalter 223 Kategorie a Definition Ankerbeispiele Kodierregeln 7. Langeweile Lesen erfolgt bei erlebter Langeweile. Weder das Lesen selbst noch der Inhalt sind als Ursache zu erkennen. „… oder wegen der Langeweile. Dann hab ich nichts zu tun. Manchmal lese ich dann einfach nur so.“ (Fall 14) „Also ich lese bei Langeweile …“ (Fall 25) In der Regel wird Langeweile explizit als Grund erwähnt. Abzugrenzen ist die Kodierung von Kategorie 8 (Zeitfüllung), die beinhaltet, dass der primäre Grund für das Lesen darin besteht, dass ein Mangel an attraktiveren Alternativen herrscht. 8. Zeitfüllung Lesen erfolgt, wenn andere bzw. beliebtere Beschäftigungen nicht verfügbar sind. „… weil ich sonst nichts Besseres zu tun habe.“ (Fall 5) „Gründe sind, dass ich eigentlich mal keine Lust habe am Internet zu hocken … oder … wenn die [Freunde] alle mal nicht können, dann lese ich auch.“ (Fall 3) Der Mangel an Alternativen wird explizit zum Ausdruck gebracht, manchmal direkt im Zusammenhang mit Kategorie 7 (Langeweile). Beides ist immer getrennt zu kodieren. 9. Kompetenzsteigerung Lesen erfolgt, um bestimmte Kompetenzen zu verbessern. „Ich lese immer laut, damit ich besser werde darin.“ (Fall 11) „Außerdem habe ich eine kleine Rechtschreibschwäche und glaube, das Lesen hilft.“ (Fall 12) Es sind Äußerungen zu kodieren, die erkennen lassen, dass gelesen wird, weil man damit entweder allgemein etwas (für die Schule) lernen kann oder aber spezifisch bestimmte Fertigkeiten (z. B. Lesen) verbessern kann. 10. Schule Lesen erfolgt aufgrund schulischer Aufgabenstellung. „… also wenn wir Hausaufgaben aufhaben, muss ich lesen.“ (Fall 14) „Na meistens lese ich für die Schule.“ (Fall 16) Hier geht es darum, dass gelesen werden muss, einerseits allgemein „für die Schule“ oder im Rahmen von Hausaufgaben. 11. Schulischer Wettbewerb Lesen erfolgt, um damit in der Schule das Ziel zu verfolgen, bessere Leistungen als andere zu zeigen. „…ich lese … auch wenn wir Geographie haben, dann weiß ich was und T. eben nicht. Der gibt ja sonst auch immer so an. Aber in Geographie bin ich eben besser.“ (Fall 25) Es geht hier nicht nur darum, gute Leistungen zu zeigen, sondern explizit um Wettbewerb bzw. den Wunsch, besser als andere zu sein. 12. Soziales Umfeld Lesen erfolgt auf Anregung der Eltern oder um sich mit den Peers (z. B. über ein bestimmtes Buch) austauschen zu können. „… und ich will meine Mutter weiterhin so stolz halten, weil sie ist gerade sehr stolz auf mich, denn früher habe ich nie gelesen, nur gespielt.“ (Fall 7) „Außerdem kann ich dann was erzählen, wenn wir in der Schule zusammen stehen oder so …“ (Fall 8) Es sind Äußerungen zu kodieren, in denen deutlich wird, dass gelesen wird, weil Mutter oder Vater das erwarten oder für wichtig halten oder weil es für den Austausch mit den Gleichaltrigen bedeutsam ist. 13. Einschlafhilfe Lesen erfolgt, um müde zu werden und dadurch leichter einschlafen zu können. „… also zum Einschlafen lese ich.“ (Fall 2) „[Ich lese] abends wenn es dunkel ist und wenn ich müde werden will.“ (Fall 26) Das erleichterte Einschlafen muss explizit erwähnt werden und ist abzugrenzen von dem Wunsch, sich beim Lesen zu entspannen. Anmerkungen: a Es werden erst die intrinsischen Kategorien (1 - 5) und dann die extrinsischen Kategorien (6 - 13) aufgeführt. 224 Ulrich Schiefele, Ellen Schaffner rien für die von den Befragten geäußerten Motivationen zu gewinnen. Im ersten Schritt wurden für die aufgezeichneten Interviews kommentierte Transkriptionen angefertigt, die z. B. Sonderzeichen für Pausen, Lachen und gehemmtes Sprechen enthielten. Hinweise auf die Identität der Befragten (z. B. Namen von Freunden) wurden aus den Transkriptionen entfernt. Im zweiten Schritt wurde eine Zusammenfassung der Interviewprotokolle mithilfe von Paraphrasierungen, Generalisierungen und daran anschließender Reduktion redundanter Textteile durchgeführt. Es folgte der dritte Schritt, die Explikation, zur Erhellung unklarer Textstellen durch sprachliche Analyse oder durch Heranziehung anderer, erklärender Textpassagen (Kontextanalyse). Der vierte und letzte Schritt bestand in der Strukturierung bzw. Kategorienbildung auf Basis der zusammengefassten und explizierten Interviewtranskriptionen. Bei der Identifizierung der Kategorien wurde möglichst differenziert vorgegangen, um alle inhaltlich sinnvoll abgrenzbaren Kategorien von Lesegründen zu erfassen. Die Kategorienbildung stellt den wichtigsten Teil der vorliegenden Studie dar. Ausgangspunkt dafür waren die theoretisch postulierten Dimensionen der intrinsischen und extrinsischen LM, so wie sie den oben vorgestellten Fragebögen (MRQ, FHLM, LMF) zugrunde liegen. Es sollte überprüft werden, ob sich diese Kategorien wiederfinden lassen und/ oder ob weitere Kategorien zu beobachten sind. Zunächst wurden drei zufällig bestimmte Interviews von einem geschulten Beurteiler ausgewertet (Schritte 1 - 4). Auf dieser Grundlage legten die Autoren dann gemeinsam mit dem Beurteiler die Kategorien für die weitere Auswertung fest. Für jede Kategorie wurden eine Definition, Ankerbeispiele und Kodierregeln festgelegt (s. Tab. 3). Vereinzelt wurden im Verlauf der weiteren Auswertung Modifizierungen bzw. Präzisierungen vorgenommen. Nach der ersten Phase der Festlegung von Kategorien auf der Grundlage von drei Interviews wurden alle Interviews (bzw. die Antworten zu den in Tabelle 2 enthaltenen Fragen) von zwei geschulten Beurteilern ausgewertet. Die Übereinstimmung zwischen den beiden Beurteilern hinsichtlich der Zuordnung von (paraphrasierten) Schüleraussagen zu den Kategorien lag bei 91 % (143 Übereinstimmungen bei insgesamt 157 zu kodierenden Aussagen). Die Interkoderreliabilität nach Krippendorf (1980; s. a. Mayring, 2008) betrug .92. Darstellung und Interpretation der Ergebnisse Allgemeine Frage zu den Gründen des Lesens Die Antworten auf die allgemeine Frage zu den Gründen des Lesens ergaben insgesamt 13 Kategorien (s. Tab. 3 zu Definitionen, Ankerbeispielen und Kodierregeln). Als übergeordnete Dimensionen boten sich „intrinsische“ und „extrinsische“ Gründe an (im Sinne intrinsischer bzw. extrinsischer Motivation). Die erstgenannte Dimension bezieht sich auf Gründe, die primär das positive Erleben während des Lesens betreffen (z. B. Imagination, Absorption, Entspannung) und fünf Kategorien umfassen. Die extrinsische Dimension bezieht sich dagegen auf Gründe, die außerhalb der Lesetätigkeit liegen (z. B. die Reduzierung von Langeweile oder anderen negativen Gefühlen, die Verbesserung kognitiver Kompetenzen, die Erfüllung sozialer Erwartungen). Insgesamt zeigt sich, dass die Häufigkeit der Nennungen von intrinsischen und extrinsischen Kategorien mit jeweils 40 Nennungen identisch ist (vgl. Tab. 4, Spalte „Allgemeine Frage: Gründe zum Lesen“). Intrinsische Gründe Die Lesefreude stellt die häufigste intrinsische Kategorie dar. Sie äußerte sich in der Regel darin, dass das Lesen „Spaß macht“. Dies ist offensichtlich eine sehr unspezifische Festlegung, so dass sich die Frage stellt, ob die Befragten zusätzlich zur Lesefreude noch spezifischere erlebensbezogene Gründe für das Lesen angeführt haben. Tatsächlich zeigt sich, dass bis auf zwei der zehn Befragten mit der Angabe Lesefreude mindestens einen der erlebensbezogenen Gründe Spannung, Entspannung, Imagination oder Absorption angegeben haben. Dies deutet darauf hin, dass die Nennung unspezifischer Lesefreude im Einzelfall genauer bestimmt werden kann. Allerdings lässt sich das aus den Interviews nicht zweifelsfrei erschließen, sodass die Lesefreude als sepa- Lesemotivation im Grundschulalter 225 Häufigkeiten/ Prozentangaben a Allgemeine Frage: Gründe zum Lesen Vertiefungsfrage: intrinsische Motivation Vertiefungsfrage: extrinsische Motivation Gesamt b Alle Mädchen Jungen Alle Mädchen Jungen Alle Mädchen Jungen Alle Mädchen Jungen Kategorien Intrinsische Gründe 1. Imagination 7 27 % 5 31 % 2 20 % 22 85 % 13 81 % 9 90 % - 24 92 % 15 89 % 9 90 % 2. Absorption 7 27 % 6 38 % 1 10 % 13 50 % 11 69 % 2 20 % - 15 58 % 12 75 % 3 30 % 3. Spannung 8 31 % 4 25 % 4 40 % 10 38 % 4 25 % 6 60 % - 14 54 % 7 44 % 7 70 % 4. Lesefreude 10 38 % 9 56 % 1 10 % - - 10 38 % 9 56 % 1 10 % 5. Entspannung 8 31 % 6 38 % 2 20 % - - 8 31 % 6 38 % 2 20 % Extrinsische Gründe 1. Langeweile 12 46 % 8 50 % 4 40 % - 10 38 % 6 38 % 4 40 % 16 62 % 10 63 % 6 60 % 2. Schule 2 8 % 1 6 % 1 10 % - 9 35 % 6 38 % 3 30 % 10 38 % 6 38 % 4 40 % 3. Soziales Umfeld 4 15 % 2 13 % 2 20 % - 5 19 % 3 19 % 2 20 % 9 35 % 5 31 % 4 40 % 4. Gefühlsregulation 8 31 % 8 50 % 0 0 % - - - - 8 31 % 8 50 % 0 0 % 5. Zeitfüllung 7 27 % 4 25 % 3 30 % - 2 8 % 1 6 % 1 10 % 8 31 % 5 31 % 3 30 % 6. Kompetenzsteigerung 4 15 % 3 19 % 1 10 % - 2 8 % 2 13 % 0 0 % 5 19 % 4 25 % 1 10 % 7. Einschlafhilfe 2 8 % 2 13 % 0 0 % - 1 4 % 1 6 % 0 0 % 3 12 % 3 19 % 0 0 % 8. Schulischer Wettbewerb 1 4 % 1 6 % 0 0 % - - 1 4 % 1 6 % 0 0 % Tab. 4: Häufigkeit der Nennungen in den ermittelten Kategorien der Lesemotivation Anmerkungen: n = 26 (16 Mädchen, 10 Jungen). a Die Prozentangaben bezeichnen den Prozentsatz der Personen der jeweiligen Gruppe, die eine Nennung in der jeweiligen Kategorie aufweisen (z. B. berichteten insgesamt 12 Mädchen bzw. 75 % dieser Gruppe den Zustand der Absorption). b Die über die drei Fragen summierten Häufigkeiten enthalten keine Dopplungen, d. h. jede der Kategorien wurde hier pro Person nur einmal gezählt. 226 Ulrich Schiefele, Ellen Schaffner rate Kategorie beibehalten wurde. Diese Kategorie könnte auch Ausdruck dafür sein, dass einzelne Personen ihre spezifischeren Beweggründe für das Lesen nicht verbalisieren können. Zur weiteren Klärung dieser Frage erwies sich die Vertiefungsfrage zur intrinsischen LM als hilfreich (s. u.). Nach der Lesefreude folgen etwa gleichauf die Kategorien Spannung, Entspannung, Imagination und Absorption. Diese vier Kategorien sind vermutlich weitgehend kompatibel und es ist gut vorstellbar, dass sie verschiedene Seiten des gleichen Erlebens darstellen. Demnach könnte eine gute Kriminalgeschichte nicht nur das Erleben von Spannung begünstigen, sondern auch zu ausgeprägter Imagination und Absorption führen. Auch eine enge Verbindung von Imagination und Absorption scheint sehr plausibel zu sein. Möglicherweise rücken unterschiedliche Personen trotz ähnlicher Erlebensformen bzw. ähnlicher LM unterschiedliche Aspekte des Erlebens in den Vordergrund. Extrinsische Gründe Die extrinsischen Gründe sind insgesamt vielfältiger und verteilen sich auf acht Kategorien. Am häufigsten wurde die Langeweile als Lesegrund angegeben. Eine große Nähe ist dabei zur (dritthäufigsten) Kategorie Zeitfüllung zu erkennen. In diesem Fall besteht der Grund zum Lesen vor allem darin, dass attraktivere Alternativen (Internet, Freunde) nicht verfügbar sind. Bei einigen Schülerinnen und Schülern wird deutlich, dass das eine mit dem anderen verbunden ist, d. h. die Langeweile ergibt sich aus der Abwesenheit beliebterer Aktivitäten (z. B. Fall 5: „Na Langeweile, … weil ich sonst nichts Besseres zu tun habe“). Interessant ist dabei die Frage, ob und welche positiven Anreize (z. B. Absorption) diejenigen Befragten angeben, die vor allem aus Langeweile oder mangels besserer Alternativen lesen. Dazu ist festzustellen, dass es nur zwei Personen gab (beides Jungen), die Langeweile und/ oder Zeitfüllung als Lesegrund angegeben und keine weitere Erlebenskategorie genannt haben. Dies könnte bedeuten, dass Langeweile und der Mangel an attraktiven Alternativtätigkeiten für die meisten Befragten nur äußerliche Leseanlässe darstellen, während die eigentliche LM auf positiven Aspekten des Leseerlebens (z. B. Absorption) beruht. Lesen ist offensichtlich eine sehr gut geeignete Tätigkeit, wenn es darum geht, Phasen von Langeweile oder fehlenden attraktiven Freizeitaktivitäten zu überwinden. Dies gilt sowohl für Schülerinnen und Schüler, die häufig intrinsisch motiviert lesen, als auch für solche, die eher extrinsisch motiviert lesen. Es scheint daher ratsam, das Lesen aus Langeweile oder zur Zeitfüllung nicht per se als extrinsisch motiviert zu bezeichnen, denn die Langeweile (oder das Fehlen bzw. Ausbleiben attraktiver Freizeittätigkeiten) kann als Auslöser einer Lesephase wirksam werden, die durch intrinsische Anreize (d. h. positives Erleben) gekennzeichnet ist. Nach der Langeweile erwies sich die Gefühlsregulation als häufigste extrinsische Motivation. Hier geht es darum, dass das Lesen eingesetzt wird, um negative Gefühle oder Stimmungen zu reduzieren. In dieser Kategorie gibt es interessanterweise ausschließlich Nennungen von Mädchen. Eventuell setzen Jungen andere Strategien ein, um ihre Gefühle zu regulieren. Die Verwendung des Lesens als Mittel zur Gefühlsregulation impliziert, dass das Lesen für das Erleben der betreffenden Person ausreichend positive Aspekte hat. Darüber hinaus gab es je vier Nennungen in den Kategorien Kompetenzsteigerung und soziales Umfeld. Zwei Personen erwähnten, dass Lesen Freude macht und sie dabei auch etwas (für die Schule) lernen. Zwei weitere Befragte benannten direkt mögliche Verbesserungen in der Rechtschreibung (in einem Fall noch zusätzlich in der Lesefähigkeit) als Lesegrund. Die durch das soziale Umfeld bedingte LM äußerte sich zum einen als elterlicher Einfluss, zum anderen als Bestreben, in der Schule bzw. in der Gleichaltrigengruppe mitreden zu können, wenn eine bestimmte Lektüre gerade aktuell ist. Lesemotivation im Grundschulalter 227 Von besonders geringer Bedeutung scheint die wettbewerbsbezogene LM zu sein, die nur von einer Person genannt wird, die sich zudem nicht generell auf die Mitschülerinnen und -schüler in der Klasse bezieht, sondern allein auf einen bestimmten Mitschüler. Ebenfalls sehr wenige Nennungen entfallen auf die Einschlafhilfe als Lesegrund, die vermutlich eine relativ bedeutungslose Kategorie darstellt und auch bei den Vertiefungsfragen nur einmal erwähnt wird. Auch die Schule bzw. schulische Anforderungen (z. B. Lesen als Teil von Hausaufgaben) scheinen als Lesegrund nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Allerdings zeigt in diesem Fall die Vertiefungsfrage zur extrinsischen Motivation, dass die Schule evtl. bedeutsamer ist, als die Antworten auf die ungerichtete Frage nach den Lesegründen vermuten lassen (s. u.). Geschlechtsunterschiede Die Ergebnisse zu den Nennungen in den einzelnen Kategorien (vgl. Tab. 4) lassen neben vielen Gemeinsamkeiten auch einige Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen erkennen. Als besonders deutlich erwiesen sich die Unterschiede zugunsten der Mädchen bei der Lesefreude, der Gefühlsregulation und der Absorption. In der Gruppe der Mädchen ist Lesefreude, die von 56 % der Schülerinnen genannt wird, zusammen mit der Gefühlsregulation und der Langeweile (jeweils 50 %) der häufigste Lesegrund. Bei den Jungen dominieren hingegen neben der Langeweile (40 %) das Lesen aus Spannung (40 %) und Mangel an Alternativen (30 %). Zur genaueren Prüfung von geschlechtsbedingten Differenzen wurden t-Tests durchgeführt (vgl. Tab. 5). Auf die Anwendung nichtparametrischer Verfahren wurde verzichtet, da keine nennenswerten Abweichungen der abhängigen Variablen von der Normalverteilung festzustellen waren (Kolmogorov-Smirnov- Tests: alle p > .10; Schiefe und Kurtosis in allen Fällen kleiner als das Zweifache ihrer jeweiligen Standardabweichung). Dabei zeigte sich über alle Kategorien hinweg ein signifikanter und sehr starker Effekt des Geschlechts auf die Nennungshäufigkeit (vgl. obere Hälfte von Tab. 5). Die Analyse der intrinsischen Kategorien ergab ebenfalls einen signifikanten und starken Geschlechtseffekt. Bei der extrinsischen Motivation verfehlte der Unterschied zwischen Mädchen und Jungen knapp das Signifikanzniveau, zeigte aber ebenfalls eine hohe Effektstärke. In allen Fällen hatten die Mädchen höhere Werte als die Jungen. Mädchen (n = 16) Jungen (n = 10) Geschlechtsunterschiede (t-Tests) Kategorien M (SD) M (SD) t (24) d Offene Frage zu den Lesegründen Alle 3.69 (1.40) 2.10 (0.88) 3.20** 1.33 Intrinsisch 1.88 (0.96) 1.00 (0.82) 2.39* 0.97 Extrinsisch 1.81 (1.05) 1.10 (0.74) 1.88 + 0.76 Vertiefungsfrage zur intrinsischen und extrinsischen Lesemotivation a Alle 2.94 (1.00) 2.70 (1.06) 0.58 0.24 Intrinsisch 1.75 (0.86) 1.70 (0.68) 0.16 0.06 Extrinsisch 1.19 (0.91) 1.00 (0.94) 0.50 0.21 Tab. 5: Geschlechtsunterschiede in der mittleren Nennungshäufigkeit Anmerkungen: a Bei der Vertiefungsfrage gab es keine Nennungen zu Lesefreude und Entspannung (intrinsisch) sowie zu Gefühlsregulation und schulischem Wettbewerb (extrinsisch). ** p < .01. * p < .05. + p = .073 (zweiseitige Fragestellung). 228 Ulrich Schiefele, Ellen Schaffner Vertiefungsfragen zur intrinsischen und extrinsischen Lesemotivation (LM) Die allgemeine Frage nach den Lesegründen der Schülerinnen und Schüler wurde durch zwei ebenfalls offene Fragen ergänzt, die zum einen auf das Erleben bei intrinsisch motivierter Lektüre (Lieblingsbücher) und zum anderen auf die Lesegründe bei extrinsischer LM (Gründe für das Lesen beim Fehlen von Spaß und Interesse) abzielten. Auf die erste Frage gab es ausschließlich Antworten in den Kategorien Imagination, Absorption und Spannung (s. Tab. 4, Spalte „Vertiefungsfrage: intrinsische Motivation“). Es deutet sich somit an, dass bei intrinsisch motivierter Lektüre Imagination bzw. Miterleben im Vordergrund sind. Dies korrespondiert mit der Tatsache, dass Sachbücher nicht als Lieblingslektüre angegeben wurden, sondern vorwiegend Fantasy- Literatur. Darüber hinaus fällt auf, dass insgesamt 17 Befragte bei der Frage nach den Erlebnissen bei der Lieblingslektüre eine Nennung in der Kategorie Imagination haben, nicht jedoch bei der allgemeinen Frage nach den Lesegründen. Für die Kategorien Absorption und Spannung waren dies acht bzw. sechs Befragte. Die erste Vertiefungsfrage führte somit bei relativ vielen Befragten zu Nennungen, die in den Antworten zur allgemeinen Frage nach den Lesegründen noch nicht enthalten waren. Insbesondere verdeutlichen die Ergebnisse, dass Imagination, Absorption und Spannung möglicherweise die zentralen Anreize intrinsischer LM darstellen. Es ist zu vermuten, dass die Äußerung von Lesefreude sich auf diese Anreize bezieht. Für die Befragten ist es jedoch wahrscheinlich naheliegender, vom Spaß beim Lesen zu sprechen, als spontan auf relativ spezifische Aspekte ihres Erlebens einzugehen. Für die Kategorie Entspannung könnte gelten, dass sie einen Nebeneffekt der primären intrinsischen Anreize darstellt und deshalb bei der Vertiefungsfrage nicht genannt wurde. Auf die Frage nach Lesegründen beim Fehlen intrinsischer Motivation wurden mit Ausnahme der Gefühlsregulation und des schulischen Wettbewerbs alle extrinsischen Kategorien genannt (s. Tab. 4, Spalte „Vertiefungsfrage: extrinsische Motivation“). Am häufigsten führten die Befragten Langeweile und schulische Anforderungen als Gründe an, gefolgt von Einflüssen des sozialen Umfelds. Dagegen wurden Zeitfüllung, Kompetenzsteigerung und Einschlafhilfe jeweils nur von einem bzw. zwei Befragten genannt. Darüber hinaus zeigten sich als Quelle extrinsischer LM insbesondere die schulischen Anforderungen, die vielleicht wegen ihres selbstverständlichen Pflichtcharakters im Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler nur schwach verankert sind und daher bei der allgemeinen Frage nach den Lesegründen nur selten genannt wurden. Umgekehrt fällt auf, dass die Gefühlsregulation, die wir den extrinsischen Gründen zugeordnet haben und die einen der häufigsten Lesegründe darstellt, bei der Vertiefungsfrage zur extrinsischen Motivation von keinem der Befragten genannt wird. Dies ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass eine Regulation negativer Gefühle mithilfe des Lesens nur dann möglich ist bzw. angestrebt wird, wenn das Lesen selbst ein positives Erleben hervorrufen kann bzw. intrinsische Anreize besitzt. Die Analyse geschlechtsbedingter Unterschiede (vgl. Tab. 3 und 4) ergab keine signifikanten Befunde. Das Ausbleiben von Geschlechtsunterschieden könnte darauf zurückzuführen sein, dass insbesondere Jungen von den gerichteten Vertiefungsfragen profitierten, während sie bei der allgemeinen Frage nach den Lesegründen offenbar größere Probleme als die Mädchen hatten, ihre Motivationslage zu verbalisieren. Direkte Fragen zu den Fragebogendimensionen der Lesemotivation (LM) Theoretisch besteht die Möglichkeit, dass manche Komponenten der LM spontan nicht genannt werden, weil sie für die Akteure weniger vordergründig sind. Deshalb befragten wir die Schülerinnen und Schüler direkt, ob die Dimensionen der LM, so wie sie im LMF (Schaff- Lesemotivation im Grundschulalter 229 ner & Schiefele, 2007) verankert sind, für sie zutreffen (vgl. Frage 4 in Tab. 2). Zusätzlich sollten die Schülerinnen und Schüler auch konkrete, erfahrungsbasierte Beispiele anführen, sofern sie eine Dimension als zutreffend bestätigten. Wie bereits erwähnt, werden im LMF die folgenden fünf Dimensionen der LM unterschieden: die objektbezogene, die erlebnisbezogene, die leistungsbezogene, die wettbewerbsbezogene und die soziale LM. Die Ergebnisse der direkten Frage nach diesen Dimensionen sind in Tabelle 6 dargestellt. Die Ergebnisse unterstützen zum einen die hervorgehobene Bedeutung der erlebnisbezogenen LM (vgl. Tab. 6). Die große Mehrheit der Befragten (88 %) bestätigte das Zutreffen dieser Dimension. Zum anderen zeigte sich die aufgrund der offenen Fragen bereits gefundene, geringere Bedeutung der leistungs- und wettbewerbsbezogenen sowie der sozialen LM (vgl. Tab. 6). Die größte Diskrepanz zu den offenen Fragen betrifft die objektbezogene LM, deren Vorkommen bei den direkten Fragen von 81 % der Schülerschaft bestätigt wurde. Die Erläuterungen der Schülerinnen und Schüler zeigen dabei, dass vor allem das Interesse für Tiere zum Lesen von Sachbüchern oder sachbezogenen Texten führt (z. B. Fall 1: „Sachbücher lese ich auch gerne … mich interessieren Mäuse und eben Pferde.“). Die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen in den Nennungshäufigkeiten sind als geringfügig einzuschätzen und erwiesen sich als nicht-signifikant ( c 2 -Tests). Diskussion Das wichtigste Ziel der Studie bestand darin zu prüfen, inwiefern die in den Fragebögen von Möller und Bonerad (2007) sowie Schaffner und Schiefele (2007) enthaltenen Motivationsdimensionen sich durch freie Schüleräußerungen bestätigen lassen und ob nichtberücksichtigte Dimensionen identifiziert werden können. Bevor wir direkt auf diese Frage eingehen, wollen wir zuerst unsere Befunde mit denen der qualitativen Studien von Guthrie et al. (1996), Greaney und Neuman (1990) und Nolen (2007) vergleichen (vgl. Tab. 1). Zunächst sei erwähnt, dass bis auf eine Ausnahme (Zeitfüllung) alle von uns ermittelten Kategorien (vgl. Tab. 3) zumindest in einer der drei Vergleichsstudien ebenfalls vorkommen. Geht man davon aus, dass die Kategorien Zeitfüllung und Langeweile kaum voneinander zu trennen sind (s. o.), so ist die Übereinstimmung mit den anderen Studien noch größer. Umgekehrt ist festzustellen, dass einige der in den Vergleichsstudien ermittelten Kategorien von uns nicht bestätigt werden konnten. Dabei können u. E. die Kategorien Belohnung, Nutzanwendung, Annehmlichkeit/ Flexibilität und Moralität, die in unserer Studie ohne (bzw. im Falle der Annehmlichkeit/ Flexibilität weitgehend ohne) Entsprechung sind, aufgrund ihres singulären Vorkommens in der bisherigen Forschung (vgl. Tab. 1) vernachlässigt werden. Bedeutsamer ist dagegen das Fehlen der folgenden, von Guthrie et al. (1996) ermittelten Kategorien: Neugier (bzw. Interesse und Bewältigung Dimensionen der Lesemotivation Alle (n = 26) Mädchen (n = 16) Jungen (n = 10) Häufigkeit Prozent Häufigkeit Prozent Häufigkeit Prozent Objektbezogen 21 81 % 14 87 % 7 70 % Erlebnisbezogen 23 88 % 13 81 % 10 100 % Leistungsbezogen 18 69 % 12 75 % 6 60 % Wettbewerbsbezogen 10 38 % 6 38 % 4 40 % Sozial 13 50 % 7 44 % 6 60 % Tab. 6: Nennungshäufigkeit der Dimensionen des Lesemotivations-Fragebogens (LMF) bei direkter Nachfrage 230 Ulrich Schiefele, Ellen Schaffner bei Nolen, 2007), Herausforderung (bzw. Bewältigung bei Nolen), Lese-Arbeitsvermeidung (bzw. Lesevermeidung bei Nolen), soziales Lesen (bzw. soziale Motive bei Nolen) und Investition für zukünftige Ziele (bzw. zukunftsbezogener Nutzen bei Nolen). Dabei ist festzustellen, dass die Neugier (bzw. die objektbezogene LM in der Terminologie des LMF) bei den direkten Fragen zur LM deutlich bestätigt werden konnte (vgl. Tab. 5). Darüber hinaus vertreten wir die Ansicht, dass sowohl Herausforderung, soziales Lesen als auch Lese-Arbeitsvermeidung keine Lesegründe darstellen. Wie oben bereits argumentiert wurde, ist die Herausforderung (bzw. die Präferenz für schwierige Texte) eher als Folge von LM aufzufassen. Das soziale Lesen beschreibt eine Reihe von lesebezogenen Aktivitäten, die gemeinsam mit anderen durchgeführt werden (z. B. gemeinsam lesen, über Leseinhalte diskutieren; vgl. Guthrie et al., 1996; Nolen, 2007), ohne dass subjektive Gründe für das Lesen spezifiziert werden (z. B. Lesen, um sich mit Freunden darüber austauschen zu können; vgl. unsere Kategorie soziales Umfeld). Es ist auch denkbar, dass das soziale Lesen eine Folge hoher intrinsischer LM darstellt: Man liest gerne und teilt diese Freude dann gerne mit Gleichaltrigen. Schließlich ist die Lese-Arbeitsvermeidung im Sinne von Wigfield und Guthrie (1997) und Nolen (2007) nicht ganz eindeutig als Form der LM aufzufassen, denn sie drückt vor allem aus, dass eine Person das Lesen schwieriger Texte vermeidet. Diese spezifische Form der Lesevermeidung könnte z. B. eine Folge geringer Lesekompetenz darstellen. In der Interviewstudie von Guthrie und Kollegen (1996) hat die Lese- Arbeitsvermeidung vor allem die Bedeutung (im Gegensatz zur Fragebogenfassung des gleichnamigen Konstrukts bei Wigfield und Guthrie, 1997), dass das Lesen zur Vermeidung negativer Konsequenzen dient. Dies wiederum ist relativ deutlich als eine Form der (extrinsischen) LM aufzufassen, die allerdings in keiner der anderen Studien identifiziert werden konnte. Es ist somit die Investition für zukünftige Ziele (Guthrie et al., 1996; bzw. Ziele bei Greaney & Neuman, 1990; bzw. zukunftsbezogener Nutzen bei Nolen, 2007) als einzige relevante Kategorie der LM festzustellen, die nicht in unserer Studie nachweisbar war. Die Ergebnisse von Greaney und Neuman (1990) zeigen, dass für die Kategorie Ziele besonders große Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern (unter denen Deutschland nicht vertreten war) auftraten (prozentuale Nennungshäufigkeiten von 0 % bis 58 %). Es ist daher denkbar, dass kulturelle Unterschiede eine Rolle spielen und in Deutschland zumindest in der Grundschule die instrumentelle Bedeutung des Lesens für das spätere Leben und den Beruf weniger betont wird als in anderen Ländern. Ebenfalls hervorzuheben ist, dass das lesebezogene Erleben aufgrund unserer Ergebnisse differenzierter bzw. vielfältiger zu sein scheint, als die Ergebnisse der qualitativen Vergleichsstudien nahelegen. Während die Dimensionen Imagination und Lesefreude in den anderen Studien ebenfalls ermittelt wurden, ist aufgrund unserer Befunde offenbar noch das Erleben von Absorption, Spannung und Entspannung für die LM der Schülerinnen und Schüler relevant. Möglicherweise ist die größere Differenziertheit in unserer Studie auf die gezielten Vertiefungsfragen zurückzuführen. Die Bedeutung des lesebezogenen Erlebens wird darüber hinaus noch durch den Motivationsfaktor Gefühlsregulation (bzw. emotionales Einstimmen bei Guthrie et al., 1996) unterstrichen, der in unserer Stichprobe vor allem bei den Mädchen eine bedeutsame Rolle einzunehmen scheint. Die Möglichkeit der Beeinflussung der eigenen Gefühlslage durch das Lesen kann durch die in der vorliegenden Studie festgestellte breite Wirkung des (intrinsisch motivierten) Lesens auf das Erleben erklärt werden. Im Zentrum unserer Studie stand die Frage, inwiefern sich die Dimensionen der LM in den Fragebögen von Möller und Bonerad (2007) sowie Schaffner und Schiefele (2007) in frei geäußerten Lesegründen aus Schülerperspektive widerspiegeln. Ein Vergleich der anhand der Interviews ermittelten Kategorien mit den betreffenden Fragebogenmaßen zeigt wesentliche Lesemotivation im Grundschulalter 231 Übereinstimmungen. Diese betreffen insbesondere die Kategorien Lesefreude (entspricht der Leselust aus dem FHLM), Imagination bzw. Absorption (entsprechen der erlebnisbezogenen LM aus dem LMF), Kompetenzerweiterung (entspricht der leistungsbezogenen LM aus dem LMF) und soziales Umfeld (entspricht der sozialen LM aus dem LMF). Mit Ausnahme der Leselust wurden alle genannten Dimensionen auch bei den Vertiefungsfragen zur intrinsischen bzw. extrinsischen LM genannt. Da bei der Vertiefungsfrage zur intrinsischen Motivation nur für die Kategorien Imagination, Absorption und Spannung - nicht jedoch für die Kategorie Lesefreude - Nennungen zu verzeichnen waren, ist zu vermuten, dass die Lesefreude auf diese drei Kategorien zurückgeführt werden kann. Demnach könnten die Erlebnisformen der Imagination, der Absorption und der Spannung als Ursachen der geäußerten Freude am Lesen angesehen werden. Bei den offenen Fragen war keine bzw. nur eine geringe Bestätigung für die LMF-Faktoren der objektbezogenen und der wettbewerbsbezogenen LM festzustellen. Dies gilt somit auch für die entsprechenden Faktoren aus dem FHLM (Lesen aus Interesse, Wettbewerb). Allerdings deuten die direkten Fragen zu den LMF-Dimensionen darauf hin, dass die objektbezogene und die wettbewerbsbezogene Motivation doch nicht zu vernachlässigen sind. Dies gilt vor allem für die objektbezogene LM, die immerhin von 81 % der Befragten bei direkter Nachfrage bejaht und durch Beispiele belegt wurde. Für die wettbewerbsbezogene LM waren immerhin 38 % positive Antworten zu verzeichnen. Die Diskrepanz zwischen den Antworten auf die offenen Fragen und den Antworten auf die direkten Fragen kann damit erklärt werden, dass sowohl die objektbezogene als auch die wettbewerbsbezogene Motivation im Bewusstsein der Akteure weniger salient sind als z. B. die Formen des unmittelbaren Leseerlebens. Im Falle der wettbewerbsbezogenen Motivation könnte die vermutlich geringe soziale Erwünschtheit eine zusätzliche Rolle gespielt haben. Bei der prinzipiellen Nennung von Kategorien ergaben sich weitgehende Gemeinsamkeiten zwischen Mädchen und Jungen. Lediglich im Falle der Gefühlsregulation, die ausschließlich von Mädchen als Lesegrund genannt wurde, zeigte sich ein deutlicher Geschlechtseffekt. Wie oben bereits angedeutet, könnte die Nutzung des Lesens der Mädchen zur Gefühlsregulation damit zusammenhängen, dass deren lesebezogenes Erleben stärker ausgeprägt ist als das der Jungen (vgl. Philipp, 2011). Darüber hinaus korrespondiert mit unseren Ergebnissen auch der Befund, dass Mädchen stärker als Jungen fiktionale Literatur bevorzugen, die besser als Sachtexte (die wiederum eher von Jungen gelesen werden) geeignet sind, die eigene Gefühlslage zu beeinflussen (z. B. Coles & Hall, 2002; Hurrelmann, 2004). Weitere Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen betrafen vor allem die Häufigkeit von Nennungen innerhalb der einzelnen Kategorien. Dabei reflektieren die vorliegenden Ergebnisse die Befunde aus früheren quantitativen Studien (vgl. Philipp, 2011), wonach Mädchen generell höhere LM-Werte aufweisen und insbesondere hinsichtlich der erlebnisbezogenen intrinsischen LM den Jungen überlegen sind (s. Tab. 5). Dagegen konnten wir die in der Literatur ebenfalls dokumentierte größere Wettbewerbsmotivation der Jungen nicht bestätigen. Bei der Interpretation der gefundenen Geschlechtsunterschiede muss offen bleiben, ob es sich um tatsächliche Unterschiede oder eher um ein Verbalisierungsproblem aufseiten der Jungen handelt. Auf Letzteres könnten die geringen Abweichungen zwischen Mädchen und Jungen bei den Antworten auf die gerichteten Vertiefungsfragen und die direkten Fragen zu den Fragebogendimensionen hinweisen. Somit ist nicht auszuschließen, dass Jungen gegenüber den Mädchen vor allem bei der spontanen Verbalisierung von Lesegründen im Nachteil sind. Dies könnte letztlich mit der gut bestätigten Überlegenheit von Mädchen im verbal-sprachlichen Bereich zusammenhängen (vgl. die Übersichten bei Bischof-Köhler, 2006; und Rost, 2009). 232 Ulrich Schiefele, Ellen Schaffner Ein besonders wichtiges Ergebnis der Interviews stellen die Hinweise auf vernachlässigte Dimensionen bzw. Aspekte der LM dar. Dazu gehören insbesondere das Lesen aus Langeweile bzw. Mangel an Alternativen (bzw. Zeitfüllung), das Lesen aus Spannung, das Lesen zur Entspannung und zur Regulation von Gefühlen sowie das Lesen aufgrund schulischer Aufgabenstellungen. Alle diese Faktoren sind im Großen und Ganzen auch zumindest in einer der qualitativen Vergleichsstudien ermittelt worden. Dies unterstützt ihre Bedeutung und legt nahe, sie künftig stärker zu berücksichtigen. Für die Revision des von uns entwickelten LMF kommt daher die Aufnahme bzw. Konstruktion folgender zusätzlicher Skalen in Frage: Lesen aus Langeweile (und darin eingeschlossen: Mangel an Alternativen bzw. Zeitfüllung), Lesen zur Regulation von Gefühlen, Lesen aufgrund schulischer Verpflichtungen sowie Lesen zum Erleben von Spannung und Entspannung. Die Aufnahme einer weiteren Dimension, nämlich des Lesens zur Erreichung längerfristiger Ziele, erscheint erwägenswert, weil alle drei Vergleichsstudien diese Form der LM identifiziert haben (vgl. Tab. 1). Es muss an dieser Stelle natürlich offen bleiben, ob sich alle zusätzlichen Skalen als separate Faktoren in künftigen Studien bestätigen lassen werden. Alternativ ist bspw. denkbar, dass die Aspekte der Spannung und Entspannung in die Skala zur erlebnisbezogenen LM integriert werden können. Neben der Trennbarkeit der neuen Skalen wird vor allem deren prädiktive Validität bzgl. Leseverhalten und Lesekompetenz zu prüfen sein. Die vorliegende Studie stellt aus unserer Sicht einen wichtigen Baustein auf dem Weg der Entwicklung valider Instrumente zur Erfassung der LM dar. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass unsere Studie nur auf eine spezifische Altersgruppe bezogen ist. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass ältere Schülerinnen und Schüler teilweise andere Antworten auf unsere Fragen nach den Lesegründen gegeben hätten. Dennoch scheint es u. E. sinnvoll zu sein, den LMF aufgrund der vorliegenden Befunde, die ja vor allem eine Erweiterung der Lesegründe nahelegen, zu überarbeiten. Sobald die Revision des LMF empirisch geprüft worden ist, sollte eine erneute Prüfung auf der Grundlage von Interviews mit Schülerinnen und Schülern verschiedener Altersstufen erfolgen. Literatur Artelt, C., Naumann, J. & Schneider, W. (2010). Lesemotivation und Lernstrategien. In E. Klieme, C. Artelt, J. Hartig, N. Jude, O. Köller, M. Prenzel, … P. Stanat (Hrsg.), PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt (S. 73 - 112). Münster: Waxmann. Baker, L., & Wigfield, A. (1999). Dimensions of children’s motivation for reading and their relations to reading activity and reading achievement. Reading Research Quarterly, 34, 452 - 477. Bischof-Köhler, D. (2006). 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