Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
11
2015
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Editorial: Sozialer Einschluss und schulische Inklusion
11
2015
Luciano Gasser
Annette Tettenborn
In europäischen Ländern treffen Kinder und Jugendliche in ihrer Klasse vermehrt auf Gleichaltrige mit sonderpädagogischem Förderbedarf (European Agency for Development in Special Needs Education, 2010). Eine zentrale Hoffnung inklusiver Bemühungen liegt darin, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf von Anfang an am gemeinschaftlichen Leben teilhaben und sich als sozial zugehörig wahrnehmen können (United Nations, 2006). Allerdings skizziert soziometrische Forschung ein eher düsteres Bild ihrer sozialen Position in inklusiven Schulklassen. So werden diese Kinder häufiger abgelehnt, werden seltener als Freunde gewählt und sind häufiger Opfer von Aggression als ihre Gleichaltrigen ohne sonderpädagogischem Förderbedarf (Bless, 2007; Si-perstein, Norins & Mohler, 2007).
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2015, 62, 1 -3 DOI 10.2378/ peu2015.art01d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Editorial Sozialer Einschluss und schulische Inklusion Luciano Gasser, Annette Tettenborn Pädagogische Hochschule Luzern In europäischen Ländern treffen Kinder und Jugendliche in ihrer Klasse vermehrt auf Gleichaltrige mit sonderpädagogischem Förderbedarf (European Agency for Development in Special Needs Education, 2010). Eine zentrale Hoffnung inklusiver Bemühungen liegt darin, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf von Anfang an am gemeinschaftlichen Leben teilhaben und sich als sozial zugehörig wahrnehmen können (United Nations, 2006). Allerdings skizziert soziometrische Forschung ein eher düsteres Bild ihrer sozialen Position in inklusiven Schulklassen. So werden diese Kinder häufiger abgelehnt, werden seltener als Freunde gewählt und sind häufiger Opfer von Aggression als ihre Gleichaltrigen ohne sonderpädagogischem Förderbedarf (Bless, 2007; Siperstein, Norins & Mohler, 2007). Die vorherrschende individuumszentrierte Konzeptualisierung dieser Befunde fokussiert auf die Zuschreibung sozialer und kognitiver Defizite. Fehlende soziale Kompetenzen wie eine wenig entwickelte Perspektivenübernahme, geringe Problemlösefertigkeiten und mangelnde kommunikative Fähigkeiten seien verantwortlich dafür, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf selten soziale Erfolge erzielen und von Gleichaltrigen abgelehnt werden (Kavale & Foreness, 1996). Entsprechend liegen die Empfehlungen zur Verbesserung der sozialen Einbindung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Förderung individueller sozialer Kompetenzen. Solche Förderprogramme haben sich allerdings als wenig effektiv erwiesen (Gresham, Sugai & Horner, 2001). In den letzten Jahren hat sich innerhalb der Entwicklungspsychologie eine alternative Interpretation soziometrischer Befunde etabliert, welche die Rolle des sozialen Kontextes für sozialen Ein- und Ausschluss in den Mittelpunkt stellt (Mikami, Lerner & Lun, 2010). Aus dieser stärker systemischen Perspektive wird soziale Ablehnung nicht nur aus der Sicht des Ausgeschlossenen, sondern immer auch aus der Sicht der Ausschließenden beschrieben. Damit rücken insbesondere soziale und moralische Normen im Klassenzimmer in den Fokus, und es stellen sich Fragen, die bisher wenig systematisch untersucht wurden: Was für ein soziales Klima zeigt sich in inklusiven Schulklassen? Sind sozialer Zusammenhalt und Kooperation charakteristische Merkmale einer Schulklasse? Wird sozialer Einschluss von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf als eine Frage der Fairness und Fürsorge verstanden? Und vor allem: Welche Rolle kommt den Lehrpersonen zu, wenn man danach fragt, wie Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf von ihren Gleichaltrigen wahrgenommen und behandelt werden? Allerdings lassen sich soziale Kontexte wie die Schule oder die Schulklasse kaum angemessen über einheitliche Normorientierungen beschreiben (Oser, 1998; Turiel, 2002). Soziale Kontexte sind facettenreich und komplex, in dem Sinne wie unterschiedliche Interessen aufeinander treffen, welche Aushandlungen und Priorisierungen von Ansprüchen erforderlich machen. Im Allgemeinen wird kaum jemand das Recht auf sozialen Einschluss und die Bedeutung des sozialen Zusammenhalts in inklusiven Schulklassen anzweifeln. In konkreten 2 Luciano Gasser, Annette Tettenborn Situationen aber stehen moralische Ansprüche wie Fairness und Fürsorge in Konflikt mit gewichtigen Ansprüchen hinsichtlich Autonomie, Identität oder Leistung. Beispielsweise wollen Kinder selbst entscheiden, mit wem sie zusammenarbeiten oder mit wem sie Freundschaften eingehen. Auch beurteilen sie den Ein- und Ausschluss von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in eine Gruppenaktivität nicht nur im Lichte moralischer Prinzipien, sondern auch unter Kriterien von Identität und Effizienz schulischer Zusammenarbeit (Gasser, Malti & Buholzer, 2014). Solche Konflikte bedürfen einer expliziten Benennung und Analyse, um Enttäuschungen und Verletzungen von Beteiligten einordnen und adäquat begegnen zu können. Der vorliegende Themenschwerpunkt fokussiert auf soziale und moralische Normen des schulischen Umfeldes als wichtige kontextuelle Einflussgröße für sozialen Ein- und Ausschluss. Dabei werden auch mögliche Konflikte zwischen verschiedenen Ansprüchen in Peer-Welten und der Institution Schule aufgezeigt und auf die Kluft zwischen normativen Ansprüchen und psychologisch-pädagogischer Realität hingewiesen. Schließlich werden vor dem Hintergrund empirischer Befunde Möglichkeiten aufgezeigt, wie sozialer Einschluss in inklusiven Klassen gefördert werden kann. Die ersten beiden Beiträge fokussieren auf konzeptuelle Analysen des Rechts auf inklusive Bildung sowie auf Konflikte zwischen verschiedenen Bedürfnissen, Ansprüchen, Rechten und Pflichten in der Umsetzung inklusiver Bildung. Der erste Beitrag von Nunner-Winkler thematisiert konzeptuelle Probleme der UN-Konventionen und beschreibt Interessenskonflikte wie beispielsweise derjenige zwischen individueller Förderung und Selektion, die sich durch die Forderung inklusiver Bildung verschärfen. Vor dem Hintergrund moralpsychologischer Konzepte und Befunde werden förderliche Kontextbedingungen für die Gleichachtung und den sozialen Einschluss von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf durch ihre Gleichaltrigen diskutiert. Im zweiten Beitrag geht Felder ausgehend von der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Frage nach, was konkret unter einem Recht auf inklusive Bildung zu verstehen ist. Der Beitrag zeigt auf, dass sich ein Recht auf sozialen Einschluss nicht ohne Weiteres einfordern lässt, weil soziale Beziehungen wie Freundschaften auf Freiwilligkeit beruhen und Gefühle wie Empathie und Sympathie sich nicht normativ verordnen lassen. In den folgenden vier empirischen Beiträgen werden kontextuelle Einflüsse auf sozialen Einschluss untersucht, wobei zwei Beiträge auf die Gleichaltrigen und zwei Beiträge auf die Rolle der Lehrperson fokussieren. Im Beitrag von Chilver-Stainer, Perrig-Chiello und Gasser wird mittels hypothetischer Konfliktsituationen die subjektive Sicht von Kindern ohne Behinderungen auf sozialen Ein- und Ausschluss von Kindern mit einer Hörschädigung untersucht. Die Studie zeigt, dass Kinder grundsätzlich sozialen Ausschluss auf Basis von Behinderung aus Gründen der Fairness als moralisch falsch verurteilen. In konkreten Konfliktsituationen werden allerdings moralische Implikationen mit Überlegungen zu effektivem Gruppenfunktionieren genauer abgewogen und der Ausschluss häufiger befürwortet. Der Beitrag von Grütter, Meyer und Glenz setzt sich mit der heterogenen Befundlage zur soziometrischen Position von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf auseinander. Insbesondere zeigt der Beitrag, dass die Ergebnisse zur sozialen Inklusion von der methodischen Erfassung abhängig sind. Zudem stellt die Heterogenität in der Klasse einen wichtigen Kontextfaktor für den sozialen Einschluss der Kinder dar. Huber, Gebhardt und Schwab untersuchen vor dem Hintergrund der sozialen Referenzierungstheorie anhand einer experimentellen Studie die Rolle von positivem oder negativem Lehrpersonenfeedback für die soziale Akzeptanz von Schülerinnen und Schülern. Die Studie zeigt, dass sich Kinder in der sozialen Beurteilung bestimmter Gleichaltriger wesentlich vom Feedback der Lehrperson gegenüber diesen Kindern beeinflussen lassen. Schließlich zeigen Gasser und Tettenborn, dass die moralische Sensibilität von Lehrperson und Editorial: Sozialer Einschluss und schulische Inklusion 3 Klassenkameraden gegenüber sozialem Ausschluss von Kindern mit Behinderungen für das Ausschlussverhalten der Kinder prädiktiv ist. Kinder aus Klassen, in welchen Lehrpersonen und Klassenkameraden Ausschluss auf Basis von Behinderung ablehnen, zeigen weniger Ausschlussverhalten. Dieser Befund weist wiederum auf die bedeutende Rolle der moralischen Orientierung von Gleichaltrigen und ihren Lehrpersonen für den sozialen Ein- und Ausschluss von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf hin. Literatur Bless, G. (2007). Zur Wirksamkeit der Integration. Bern: Haupt. European Agency for Development in Special Needs Education. (2010). Special needs education. Country data 2010. Zugriff am 22. 3. 2012 unter http: / / www.euro pean-agency.org/ publications/ ereports/ special-needs education-country-data-2010/ SNE-Country-Data- 2010.pdf Gasser, L., Malti, T. & Buholzer, A. (2014). Swiss children’s moral and psychological judgments about exclusion of children with disabilities. Child Development, 85, 532 - 548. http: / / dx.doi.org/ 10.1111/ cdev.12124 Gresham, F. M., Sugai, G. & Horner, R. H. (2001). Interpreting outcomes of social skills training for students with high-incidence disabilities. Exceptional Children, 67, 331 - 344. Kavale, K. A. & Forness, S. R. (1996). Social skill deficits and learning disabilities: A meta-analysis. Journal of Learning Disabilities, 29, 226 - 237. http: / / dx.doi.org/ 10.1177/ 002221949602900301 Mikami, A. Y., Lerner, M. D. & Lun, J. (2010). Social context influences on children’s rejection by their peers. Child Development Perspectives, 4, 123 - 130. http: / / dx. doi.org/ 10.1111/ j.1750-8606.2010.00130.x Oser, F. (1998). Ethos - Die Vermenschlichung des Erfolgs. Zur Psychologie der Berufsmoral von Lehrpersonen. Opladen: Leske + Budrich. http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ 978- 3-322-97398-6 Siperstein, G. N., Norins, J. & Mohler, A. (2007). Social acceptance and attitude change: Fifty years of research. In J. W. Jacobson, J. A. Mulick & J. Rojahn (Eds.), Handbook of intellectual and developmental disabilities (pp. 133 - 154). New York, NY: Springer. http: / / dx. doi.org/ 10.1007/ 0-387-32931-5_7 Turiel, E. (2002). The culture of morality: Social development, context, and conflict. Cambridge: Cambridge University Press. http: / / dx.doi.org/ 10.1017/ CBO97805116135 00 United Nations. (2006). Convention on the rights of persons with disabilities. Zugriff am 22. 3. 2012 unter http: / / www.un.org/ disabilities/ documents/ convention/ con voptprot-e.pdf Prof. Dr. Luciano Gasser Prof. Dr. Annette Tettenborn Pädagogische Hochschule Luzern Töpferstrasse 10 CH-6004 Luzern E-Mail: luciano.gasser@phlu.ch E-Mail: annette.tettenborn@phlu.ch
