eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 62/2

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2015
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Die Bedeutung der Schule für die Entwicklung moralischer Motivation unter besonderer Berücksichtigung des Geschlechts

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2015
Bettina Doering
Marie Christine Bergmann
Michael Hanslmaier
Der Schule wird nicht nur eine bedeutsame Rolle bei der Ausbildung von Kindern und Jugendlichen zugesprochen, sondern sie wird auch in Bezug auf die moralische Entwicklung in die Pflicht genommen. Dabei ist es nicht nur relevant, moralisches Wissen zu vermitteln, sondern auch moralisches Verhalten zu motivieren. Ob Schule dieser Aufgabe nachkommen kann, wird in der hier vorgestellten Studie (NSchüler = 2891, NKlassen = 145) am Beispiel des Klassenklimas überprüft. Dabei wurde das Klassenklima anhand verschiedener Klimaindikatoren (Schüler-Schüler-Beziehungen, Partizipationsmöglichkeiten, Schulidentifikation, Schüler-Lehrer-Beziehungen) untersucht. Mittels Mehrebenenanalysen konnte der Einfluss des subjektiv wahrgenommenen Klassenklimas auf moralische Motivation im Jugendalter nachgewiesen werden. Das auf Klassen-ebene aggregierte Klima zeigt hingegen keine Zusammenhänge mit moralischer Motivation. Darüber hinaus zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede: Lediglich Jungen profitieren von einem positiven subjektiv wahrgenommenen Klassenklima.
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n Empirische Arbeit Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2015, 62, 136 -146 DOI 10.2378/ peu2015.art07d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die Bedeutung der Schule für die Entwicklung moralischer Motivation unter besonderer Berücksichtigung des Geschlechts Bettina Doering 1 , Marie Christine Bergmann 2 , Michael Hanslmaier 2 1 Universität Hannover 2 Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, Hannover Zusammenfassung: Der Schule wird nicht nur eine bedeutsame Rolle bei der Ausbildung von Kindern und Jugendlichen zugesprochen, sondern sie wird auch in Bezug auf die moralische Entwicklung in die Pflicht genommen. Dabei ist es nicht nur relevant, moralisches Wissen zu vermitteln, sondern auch moralisches Verhalten zu motivieren. Ob Schule dieser Aufgabe nachkommen kann, wird in der hier vorgestellten Studie (N Schüler = 2891, N Klassen = 145) am Beispiel des Klassenklimas überprüft. Dabei wurde das Klassenklima anhand verschiedener Klimaindikatoren (Schüler-Schüler-Beziehungen, Partizipationsmöglichkeiten, Schulidentifikation, Schüler-Lehrer-Beziehungen) untersucht. Mittels Mehrebenenanalysen konnte der Einfluss des subjektiv wahrgenommenen Klassenklimas auf moralische Motivation im Jugendalter nachgewiesen werden. Das auf Klassenebene aggregierte Klima zeigt hingegen keine Zusammenhänge mit moralischer Motivation. Darüber hinaus zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede: Lediglich Jungen profitieren von einem positiven subjektiv wahrgenommenen Klassenklima. Schlüsselbegriffe: Moralische Entwicklung, moralische Motivation, Klassenklima, Geschlecht The Importance of School for the Development of Moral Motivation: Are the Effects Gender-Specific? Summary: School is important for the academic education of children and adolescents, but also for their moral development. The development of moral motivation is equally necessary compared to the communication of moral knowledge. This study (N students = 2891, N classes = 145) investigated whether a school environment is able to facilitate these demands. School environment was measured by different climate indicators: student-student-relations, opportunities to participate, school identification, and student-teacher-relationships. Multi-level analyses revealed a significant relation of subjectively perceived school climate and adolescents’ moral motivation. However, class level aggregates of school climate showed no influence on moral motivation. Furthermore, gendered effects were identified: For boys the perceived school climate has an effect on moral motivation, but not for girls. Keywords: Moral development, moral motivation, school climate, gender Aufgrund der veränderten gesellschaftlichen und familiären Bedingungen in Form eines wahrgenommenen Wertewandels und labilisierter familiärer Beziehungen wird der Schule eine zunehmende Bedeutung bei der moralischen Bildung von Kindern und Jugendlichen zugesprochen. Um diesem Bildungsauftrag gerecht zu werden, zeigt sich ein Wandel der Schulstrukturen. Zum Beispiel werden Schülerinnen und Schülern häufiger Partizipationsmöglichkeiten eingeräumt (z. B. Streitschlichterprogramme) und die Bedeutung des Schulklimas wird von den Verantwortlichen zunehmend stärker wahrgenommen. Diese Veränderungen können möglicherweise einen stärkeren Einfluss auf das moralische Urteilsvermögen von Kindern und Die Bedeutung der Schule 137 Jugendlichen besitzen. In der Vergangenheit hat sich allerdings gezeigt, dass ein ausgeprägtes moralisches Urteilsvermögen nicht hinreichend ist, um moralisches Verhalten zu motivieren. Dementsprechend stellt sich die Frage, ob Schule innerhalb ihrer Möglichkeiten in der Lage ist, die moralische Motivation von Jugendlichen positiv zu beeinflussen. Aus diesem Grund befasst sich der vorliegende Artikel zunächst mit der Bedeutung von Klimaindikatoren im Schulkontext für die moralische Motivation von Jugendlichen. Im Anschluss soll ebenso die Frage beantwortet werden, ob Mädchen und Jungen in ihrer moralischen Entwicklung gleichermaßen von der Schule profitieren oder ob diesbezüglich Unterschiede bestehen. Moralische Motivation Moralische Motivation im Vergleich zum moralischen Urteilsvermögen bezieht sich nicht auf konkurrierende moralische Werte und Normen, sondern auf Situationen, in denen sich persönliche Bedürfnisse und moralische Überzeugungen widersprechen (Nunner-Winkler, Meyer- Nikele & Wohlrab, 2006). Dementsprechend ist moralische Motivation „die Bereitschaft des Handelnden, das, was er als richtig erkannt hat, auch unter persönlichen Kosten zu tun“ (Nunner-Winkler, 2008, S. 103 - 104). Es geht demzufolge um die Verbindlichkeit, die das moralisch Gebotene für das jeweilige Individuum besitzt, wobei diesbezüglich interindividuelle Unterschiede bestehen (Nunner-Winkler et al., 2006). Verschiedene Autoren haben in den vergangenen Jahren darauf hingewiesen, dass die Einflussfaktoren moralischer Motivation kaum erforscht sind (Malti & Buchmann, 2010). Darüber hinaus lassen sich die Ergebnisse der Vielzahl bestehender Untersuchungen zu Einflussfaktoren auf moralisches Urteilsvermögen nicht einfach auf moralische Motivation übertragen. So zeigte sich beispielsweise, dass moralische Motivation und moralisches Urteilsvermögen keinen identischen Entwicklungsverlauf besitzen (Doering, 2013; Krettenauer, 2011). Des Weiteren zeigen Studien, dass der Bildungsgrad von Kindern und Jugendlichen keinen Einfluss auf die moralische Motivation besitzt (Malti & Buchmann, 2010; Nunner-Winkler, 2008), wohingegen moralische Urteilsfähigkeit Unterschiede in Abhängigkeit verschiedener Intelligenz- und Bildungsniveaus aufweist (Hoffman, 1977). Die wenigen publizierten Studien, die sich auf moralische Motivation beziehen, haben sich mit der Bedeutung familiärer und freundschaftlicher Beziehung für die Entwicklung moralischer Motivation auseinandergesetzt. Ebenso wurden Persönlichkeitseigenschaften und das Geschlecht als Einflussfaktoren untersucht (Doering, 2013; Krettenauer, 2011; Malti & Buchmann, 2010; Nunner-Winkler, 2008; Nunner-Winkler et al., 2006, Nunner-Winkler, Meyer-Nikele & Wohlrab, 2007). Schule als Entwicklungskontext moralischer Motivation Schule als wichtiger Entwicklungskontext wurde bisher nicht als möglicher Einflussfaktor moralischer Motivation untersucht. Es existieren zwar Informationen über den Einfluss des Bildungsgrades (Schulform) und des Intelligenzniveaus (Malti & Buchmann, 2010; Nunner- Winkler, 2008); darüber hinausgehende Eigenschaften des komplexen Sozialisationsfaktors Schule (Schulklima etc.) wurden bisher kaum untersucht. Dass Schule auf verschiedene Einstellungen und Verhaltensweisen im Kindes- und Jugendalter Einfluss nehmen kann, wurde bereits in einer Reihe von Studien nachgewiesen (u. a. Eder, 1996; Gottfredson, Gottfredson, Payne & Gottfredson, 2005; Jerusalem & Mittag, 1997). Hier ergab sich, dass vor allem weiche Einflussfaktoren des sogenannten hidden curriculums (Snyder, 1971) besondere Bedeutung besitzen. Damit sind vor allem Eigenschaften der Schule und Klasse gemeint, die nicht Teil des Lehrplans sind, wie zum Beispiel das Schulbzw. Klassenklima. Ein wichtiger Aspekt des Klassenklimas sind Lehrer-Schüler-Beziehungen. Positive Beziehungen zwischen Lehrerinnen bzw. Lehrern und Schülerinnen bzw. Schülern zeichnen sich durch 138 Bettina Doering et al. gegenseitigen Respekt und Anerkennung aus. Gleichzeitig sind vertrauensvolle und fürsorgliche Bindungen der Lehrkraft gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern von Bedeutung. Das engagierte Auftreten der Lehrperson und die Beteiligung der Schülerschaft stellen weitere Indikatoren für positive Lehrer-Schüler-Beziehungen dar (König, 2006). Ebenso wie bei den Lehrer-Schüler-Beziehungen spielen Kooperation und Vertrauen innerhalb einer Klasse eine bedeutende Rolle für die Entwicklung moralischer Motivation. Durch das Erlernen kooperativen Verhaltens kann die Empathie von Jugendlichen gegenüber anderen zum Teil schwächeren Schülerinnen und Schülern gestärkt werden (Keller, 1996; Nunner- Winkler et al., 2006). Gute Beziehungen der Schülerinnen und Schüler untereinander zeichnen sich durch respektvollen Umgang, gegenseitiges Vertrauen und Hilfsbereitschaft aus. Neben der Beziehungsstruktur der Hauptakteure innerhalb des Klassenkontextes können zwei weitere bedeutsame Aspekte der Schule für die Entwicklung moralischer Motivation genannt werden. Partizipations- und Mitbestimmungsmöglichkeiten sowie die Übernahme von Statusrollen können einen positiven Einfluss auf die moralische Motivation besitzen. Des Weiteren können diese Prozesse zu einer positiven Identifikation mit der Organisation Schule beitragen. Eine hohe Identifikation und Mitbestimmungsmöglichkeiten können die moralische Motivation stärken, da positive Emotionen mit dem eigenen Beitrag an einem kollektiven System verbunden werden. Die Mehrzahl der Autoren definiert das Klassenklima als subjektives Phänomen (Klauer & Leutner, 2012) und verweist primär auf die Wahrnehmung der Beziehung zwischen den Lehrerinnen bzw. Lehrern und Schülerinnen bzw. Schülern und die Beziehungen der Schülerschaft untereinander. Neben dem individuell wahrgenommenen Schulbzw. Klassenklima kann auch das Klima auf Schulbzw. Klassenebene als intersubjektives Aggregatmerkmal bedeutsam für die Entwicklung moralischer Motivation sein. Damit ist gemeint, dass das Klima in einer Schule bzw. Klasse, über den Effekt auf die individuelle Wahrnehmung des Klimas hinaus, zusätzlich einen Effekt auf die individuelle moralische Motivation hat. Studien haben darüber hinaus gezeigt, dass der Kontext Klasse - und damit das Klassenklima - einen größeren Einfluss auf Einstellungen und Verhalten hat als der übergeordnete Kontext der Schule. So weist Eder (1998) darauf hin, dass das Klassenklima im Vergleich zum Schulklima den maßgeblicheren Bezugsrahmen für Schülerinnen und Schüler bildet. Neben der Unterscheidung zwischen dem subjektiv wahrgenommenen Klassenklima und dem Klassenklima als Aggregatmerkmal wird auch eine differenzielle Wirkung des subjektiv wahrgenommenen Klassenklimas auf Jungen und Mädchen berücksichtigt. Kuperminc, Blatt und Leadbeater (1997) untersuchten das subjektiv wahrgenommene Schulklima u. a. mittels innerschulischer Fairness, der Beziehungen der Schülerinnen und Schüler untereinander und der Lehrer-Schüler-Beziehungen. Hierbei zeigten sich in Bezug auf externalisierendes Problemverhalten erheblich stärkere Effekte für Jungen. Erklärt werden diese Unterschiede mit einem bidirektionalen Prozess, wonach Jungen häufiger durch externalisierendes Problemverhalten auffallen und somit auch häufiger in den Fokus von Lehrerinnen und Lehrern geraten. Ebenso konnten Untersuchungen zeigen, dass Schulklimaindikatoren vor allem bei bereits auffälligen Jugendlichen positive Effekte haben können und somit als Schutzfaktor fungieren (Haynes, Emmons & Ben-Avie, 1997; Kuperminc et al., 1997). Diesen Befunden folgend wird auch in den folgenden Analysen ein besonderer Fokus auf die differenziellen Geschlechtereffekte des subjektiv wahrgenommenen Klassenklimas auf die moralische Motivation gelegt. Basierend auf diesen theoretischen Überlegungen und bisherigen empirischen Befunden lassen sich drei Hypothesen ableiten. Die erste Hypothese bezieht sich auf die Bedeutung der Lehrer-Schüler-Beziehungen, der Schüler-Schüler-Beziehungen, der Partizipationsmöglichkei- Die Bedeutung der Schule 139 ten und der Identifikationsprozesse als Facetten des Klassenklimas für die moralische Motivation im Jugendalter. Es wird davon ausgegangen, dass alle vier Teilkomponenten des subjektiv wahrgenommenen Klassenklimas in einem positiven Zusammenhang mit moralischer Motivation stehen (Hypothese 1). Die zweite Hypothese postuliert einen Einfluss des Klassenklimas als Aggregatmerkmal (bzw. dessen Teilkomponenten) auf moralische Motivation. Es wird angenommen, dass das Klassenklima als Aggregatmerkmal, dessen Einfluss alle Schülerinnen und Schüler in einer Klasse unterliegen, zusätzlich zur subjektiven Wahrnehmung des Klassenklimas Varianzanteile der abhängigen Variablen erklären kann. Da die subjektive Wahrnehmung der Klimaindikatoren als bedeutsamer eingestuft wird, wird ein positiver, aber geringerer Zusammenhang der Teilkomponente des Klassenklimas als Aggregatmerkmal mit moralischer Motivation erwartet (Hypothese 2). Die dritte Hypothese befasst sich mit der differenziellen Bedeutung des Klassenklimas für Jungen und Mädchen in Bezug auf die Entwicklung moralischer Motivation. Da für Jungen stärkere Zusammenhänge zwischen verschiedenen subjektiv wahrgenommenen Klimaindikatoren und Einstellungen bzw. Verhaltensweisen festgestellt wurden (Haynes et al., 1997; Kuperminc et al., 1997), wird auch im Hinblick auf moralische Motivation angenommen, dass das subjektiv wahrgenommene Klassenklima für Jungen einen stärkeren positiven Zusammenhang mit moralischer Motivation aufweist, als dies für Mädchen der Fall ist (Hypothese 3). Methode Eine repräsentative, standardisierte und testleiteradministrierte Schülerbefragung der neunten Jahrgangsstufe in einem deutschen Landkreis dient als Datengrundlage 1 , um die dargestellten Forschungsfragen zu überprüfen. Ausschließlich Schülerinnen und Schüler, deren Eltern ihr Einverständnis für die Teilnahme an der Studie erklärten, nahmen an der Untersuchung teil. Die Befragung erfolgte mittels Fragebögen im Klassenkontext. Stichprobe Die Grundgesamtheit der neunten Jahrgangsstufe betrug im Schuljahr 2009/ 2010 4014 Schülerinnen und Schüler. Aufgrund der Nicht-Teilnahme einiger Schulen reduzierte sich die Bruttostichprobe auf 3270 Jugendliche. Da einige Eltern ihr Einverständnis zur Studienteilnahme nicht erklärten oder Schülerinnen und Schüler wegen Krankheit und anderen Verhinderungsgründen fehlten, beläuft sich die Stichprobe auf insgesamt 2891 Schülerinnen und Schüler aus 145 Klassen. Dies entspricht einer Rücklaufquote von 72,0 %. Die mittlere Clustergröße beträgt 19.72 Schülerinnen und Schüler pro Klasse. Im Durchschnitt waren die Jugendlichen 15.18 Jahre alt (SD = 0.56; 51,3 % Mädchen). Der überwiegende Anteil der Jugendlichen war deutscher Herkunft (84,2 %); 8,9 % kamen aus einem Teil der ehemaligen Sowjetunion. Weitere 7,0 % kamen aus anderen Ländern (vgl. Doering & Baier, 2011). Messinstrumente Moralische Motivation In Anlehnung an Malti und Buchmann (2010) wurden zwei bereits validierte moralische Konflikte ausgewählt. Für den ersten Konflikt (Fahrradkonflikt) wurde den Studienteilnehmern folgender Wortlaut vorgelegt: „Stell dir vor, du möchtest dein Fahrrad verkaufen und dafür 400 Euro haben. Ein Schüler interessiert sich für das Fahrrad und handelt den Preis mit dir auf 320 Euro herunter. Er erklärt: ,Ich habe im Moment leider kein Geld bei mir. Ich gehe schnell nach Hause und bin in einer halben Stunde wieder da.‘ Du sagst: ,Abgemacht. Ich warte auf dich.‘ Kaum ist er weg, kommt ein anderer Kunde und bietet dir den vollen Preis, 400 Euro, für das Fahrrad.“ Bei dem zweiten Konflikt (Geldkonflikt) wurde folgende Formulierung gewählt: „Stell dir vor, du bist gerade auf dem Heimweg. Plötzlich siehst du einen Geldbeutel vor dir auf dem Gehweg liegen. In dem Geldbeutel findest du den Ausweis des Besitzers und 100 Euro.“ Im Anschluss an die Darbietung der moralischen Konflikte wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gebeten, anzugeben, was sie selbst in der vorgegebenen Situation tun würden, wie sie ihre Handlungsentscheidung begründen, welche Emotionen sie dabei hätten und warum sie diese Emotionen haben würden. 1 Die Studie wurde am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführt. 140 Bettina Doering et al. In Anlehnung an die von Nunner-Winkler et al. (2006) und Malti und Buchmann (2010) vorgestellten Auswertungsstrategien wurden die offenen Antworten der Jugendlichen kodiert und ausgewertet. Da die moralischen Konflikte zum ersten Mal nicht in einem mündlichen Interview, sondern in einer schriftlichen Befragung eingesetzt wurden, wurde ein Manipulationscheck verwendet, mit dem überprüft werden konnte, ob die Jugendlichen die Konflikte gelesen und verstanden hatten. Innerhalb des Fahrradkonfliktes antworteten 2,2 % der Neuntklässler falsch auf die Frage, worum es in der Fallvignette ging. Dies galt innerhalb des Geldkonfliktes lediglich für 0,8 % der Neuntklässler. Die erhobenen Daten wurden von zwei geschulten studentischen Hilfskräften kodiert und in SPSS übertragen. Die Kodierungen wurden mittels eines induktiv abgeleiteten Kategoriensystems vorgenommen. Das Kategoriensystem und dessen Reliabilität wurde vor der Anwendung an 9,5 % der Fälle überprüft. Die Interraterreliabilität (Cohens k ) lag für alle Kategorien über .70, was in gängigen Klassifikationen als gute Übereinstimmung bezeichnet wird (Bortz & Döring, 2005). Für die nachfolgenden Berechnungen wurde ein dreistufiges Globalrating gebildet. Die erste Kategorie, d. h. niedrige moralische Motivation, umfasst alle Jugendlichen, die sich in beiden Konflikten für die persönliche Nutzenmaximierung entschieden. Im Fahrradkonflikt bedeutet dies, das Fahrrad für 400 Euro an den zweiten Kunden zu verkaufen. Im Geldkonflikt würden Jugendliche in dieser Kategorie das Geld aus dem Portemonnaie behalten. Die mittlere Kategorie (mittlere moralische Motivation) umfasst alle Jugendlichen, die in einem der beiden Konflikte der persönlichen Nutzenmaximierung folgten und in dem anderen Konflikt sich entsprechend dem moralischen Wert verhalten würden (d. h. auf den zweiten Kunden warten bzw. das Portemonnaie der Besitzerin bzw. dem Besitzer überbringen). Die Kategorie der hohen moralischen Motivation liegt dann vor, wenn beide Konflikte im Sinne der moralischen Handlungsalternative entschieden wurden. Alle Personen, die im Folgenden in die Analysen einbezogen wurden, hatten auf mindestens einem der beiden Konflikte einen gültigen Wert. Falls nur ein Konflikt bearbeitet wurde, wurden die Jugendlichen jeweils in die niedrigste oder höchste Kategorie eingeordnet. Dieses Vorgehen wurde gewählt, um zusätzliche, fehlende Werte zu vermeiden. Dies gilt auch für die Verwendung der Handlungsentscheidungen und den Ausschluss der Handlungsbegründungen aus dem verwendeten Globalrating. Da die Entscheidungen und Begründungen hohe Korrelationen aufwiesen und die Begründungen mehr fehlende Werte produzierten, wurde die Entscheidung als Grundlage für das Globalrating verwendet. Insgesamt konnten 28,8 % der Jugendlichen aufgrund fehlender Werte nicht in eine der drei Kategorien eingeteilt werden. Subjektiv wahrgenommenes Klassenklima Die Anerkennungsbeziehung im Sinne einer positiven Beziehungsausgestaltung der Schülerinnen und Schüler untereinander wurde mittels einer Skala aus dem Projekt Politische Orientierungen bei Schülern im Rahmen schulischer Anerkennungsbeziehungen erhoben (Böhm-Kasper, Fritzsche, Krappidel & Siebholz, 2004). Den Schülerinnen und Schülern wurde eine Skala bestehend aus vier Items (z. B. Ich habe zu meinen Mitschülern großes Vertrauen) und einem fünfstufigen Antwortformat von 1 = stimme gar nicht zu bis 5 = stimme voll und ganz zu vorgelegt. Die Skala besitzt einen Mittelwert von 3.26 und eine Standardabweichung von 0.93. Die interne Konsistenz der Skala liegt bei a = .67. Die Möglichkeiten zur Teilhabe innerhalb der Schule wurde mittels fünf Items aus zwei verschiedenen Skalen zu Partizipationsmöglichkeiten konstruiert (Böhm-Kasper et al., 2004; Lind, 2002). Die Schülerinnen und Schüler wurden gebeten, diese fünf Items (z. B. Wir Schüler können Verhaltensregeln und Entscheidungen in der Schule mitbestimmen) auf einer fünfstufigen Skala von 1 = stimme gar nicht zu bis 5 = stimme voll und ganz zu zu bewerten (M = 2.61, SD = 0.82, a = .78). Die gute Meinung von der Schule wurde mit der gleichnamigen Skala aus dem Moralischen Atmosphäre-Fragebogen (Lind, 2002) erfasst und wird im Folgenden als allgemeine Schulidentifikation bezeichnet. Die Skala enthält drei Items (z. B. Wir fühlen uns als Teil dieser Schule und sind stolz auf unsere Schule) mit einem abermals fünfstufigen Antwortformat von 1 = stimme gar nicht zu bis 5 = stimme voll und ganz zu (M = 2.95, SD = 0.88, a = .85). Die Skala zur Messung der Beziehungen zwischen Schülerinnen bzw. Schülern und Lehrerinnen bzw. Lehrern umfasst insgesamt vier Items (Doering & Baier, 2011; Lind, 2002) mit einem fünfstufigen Antwortformat von 1 = stimme gar nicht zu bis 5 = stimme voll und ganz zu (z. B. Lehrer an unserer Schule gehen mit uns meistens gerecht um und achten uns). Der Mittelwert liegt bei 3.57 (SD = 0.86) und Cronbachs a beträgt .73. Die Bedeutung der Schule 141 Weitere Einflussvariablen Um die bereits bestehenden Ergebnisse hinsichtlich des Bildungsgrades (Hoffman, 1977) noch einmal zu prüfen, werden die Schulnoten und die Schulform als Kontrollvariablen in den nachfolgenden Analysen berücksichtigt. Für die Schulnote wurden die Zeugnisnoten in den Fächern Deutsch, Mathe und Geschichte des ersten Schulhalbjahres abgefragt und eine Mittelwertskala aus diesen Noten gebildet (M = 3.05, SD = 0.71). Die Variable Schulform wurde in drei Gruppen zusammengefasst. Insgesamt 7,9 % aller befragten Schülerinnen und Schüler besuchten Förder- oder Hauptschulen, 60,1 % sind Schülerinnen und Schüler von Haupt- und Realschulen, Realschulen oder integrierten Gesamtschulen (IGS), 32,0 % sind Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Klima auf Klassenebene Um die Merkmale des Kontexts zu berücksichtigen, wurden alle unabhängigen Variablen auf Klassenebene aggregiert, sodass in den Analysen die mittleren wahrgenommenen Klimaindikatoren (Schüler-Schüler-Beziehungen, Partizipationsmöglichkeiten, Schulidentifikation, Schüler-Lehrer-Beziehungen) pro Klasse aufgenommen werden. Dies gilt gleichermaßen für den Anteil männlicher Schüler einer Klasse und das Leistungsniveau einer Klasse. Ergebnisse Die Korrelationstabelle (Tab. 1) zeigt erste positive Zusammenhänge zwischen moralischer Motivation und den Schüler-Schüler-Beziehungen, den Partizipationsmöglichkeiten, der Schulidentifikation und den Schüler-Lehrer-Beziehungen an. Erwartungsgemäß liegen die Korrelationen zwischen Schulnoten bzw. Schulform und moralischer Motivation auf sehr niedrigem Niveau. Die Klimaindikatoren weisen untereinander positive Korrelationen mittlerer Stärke auf. Dies kann als Indikator dafür gelten, dass sie ein gemeinsames Konstrukt abbilden. Moralische Motivation korreliert negativ mit dem Geschlecht, d. h. Jungen weisen eine signifikant niedrigere moralische Motivation auf als Mädchen. Des Weiteren zeigen sich niedrige signifikant negative Korrelationen zwischen Geschlecht und den Schüler-Schüler-Beziehungen sowie der Schulidentifikation. Um Hypothese 1 zu prüfen, wurden lineare Mehrebenenregressionsmodelle mit moralischer Motivation als abhängiger Variable geschätzt. In Tabelle 2 sind die Ergebnisse mittels unstandardisierter Koeffizienten abgebildet. Die Intra-Klassen-Korrelation (ICC) des Nullmodells (nicht gezeigt in Tab. 2) liegt bei 0.03. Dies bedeutet, dass ca. 3 % der unerklärten Varianz der abhängigen Variable auf dem Klassenlevel liegt. Nach Hox (2010) ist es ab einem Wert von 3 % sinnvoll, die Clusterstruktur der Daten zu berücksichtigen. Wird die hierarchische Datenstruktur (hier: Schülerinnen und Schüler in Klassen) nicht berücksichtigt, kann es zu verzerrten Standardfehlern kommen, somit zu ungültigen Inferenzstatistiken (Hox, 2010). Daher werden für die anschließenden Analysen Mehrebenenmodelle gerechnet. In Modell 1 wird der Effekt der Variablen auf der 1 2 3 4 5 6 7 8 1. Moralische Motivation 2. Schüler - Schüler 3. Partizipation 4. Schulidentifikation 5. Schüler - Lehrer 6. Schulnoten 7. Schulform* 8. Geschlecht* (1 = männlich) - .19** - .12** .29** - .18** .42** .49** - .17** .42** .37** .49** - -.07** -.06** -.01 -.14** -.05* - .05* .09** -.06** .15** -.03 -.18** - -.25** -.09** -.01 -.07** -.04 .08** -.09** - Tab. 1: Bivariate Korrelationen der Untersuchungsvariablen (Pearson Korrelationen; ** p < .01; * p < .05) Anmerkung: * Für die Berechnung der Korrelationen mit Schulform und Geschlecht wurde Spearmans r verwendet. 142 Bettina Doering et al. Individualebene auf moralische Motivation geschätzt. Nach Kontrolle der im Modell enthaltenen Variablen auf der Individualebene liegt die ICC bei 0.01. Drei der vier gemessenen subjektiven Klassenklimaindikatoren erweisen sich als signifikant: Die Schüler-Schüler-Beziehung, die Schulidentifikation und die Schüler- Lehrer-Beziehung. Dabei handelt es sich um positive Zusammenhänge, d. h. positive Beziehungen und eine hohe Schulidentifikation gehen mit einem Anstieg moralischer Motivation einher. Im Vergleich zu den bivariaten Zusammenhangsanalysen zeigt sich, dass die Partizipationsmöglichkeiten unter Kontrolle der anderen subjektiven Klimaindikatoren keinen signifikanten Einfluss auf moralische Motivation besitzen. Dies gilt gleichermaßen für die Schulnoten. Das Geschlecht leistet den höchsten Beitrag zur Varianzaufklärung moralischer Motivation, wobei Jungen eine niedrigere moralische Motivation aufweisen als Mädchen. Dementsprechend kann Hypothese 1 weitestgehend beibehalten werden. Die Beziehungs- und Identifikationsprozesse in der Klasse stehen in einem positiven Zusammenhang mit moralischer Motivation. Im nächsten Schritt (Modell 2 in Tab. 2) soll geprüft werden, ob nicht nur die subjektive Wahrnehmung des Klassenklimas in einem positiven Zusammenhang mit moralischer Motivation steht, sondern auch inwieweit die Teilkomponenten des Klassenklimas auf der Aggregatebene (Level 2 Variablen) relevante Einflussfaktoren auf moralische Motivation bilden. Hierbei werden auch die Schulform, die aggregierten Schulnoten sowie der Anteil der Jungen innerhalb einer Klasse als Kontrollvariablen auf der Aggregatebene aufgenommen. Zunächst zeigt sich, dass die Effekte auf der Individualebene (Level 1) stabil bleiben. Schüler-Schüler- Beziehungen, Partizipationsmöglichkeiten, die Schulidentifikation und die Schüler-Lehrer- Beziehungen auf Kontextebene (Level 2) besitzen jedoch keinen signifikanten Einfluss auf die Stärke moralischer Motivation. Inhaltlich bedeutet dies, dass beispielsweise Klassen, in denen Modell 1 Modell 2 Level 1 Schüler - Schüler Partizipation Schulidentifikation Schüler-Lehrer Schulnoten Geschlecht (1 = männlich) .07** .02 .06** .05* -.02 -.31** .06** .02 .06** .06** -.02 -.30** Level 2 Schüler - Schüler Partizipation Schulidentifikation Schüler-Lehrer Schulnoten Anteil Jungen einer Klasse Förder-/ Hauptschule Realschule/ Haupt- und Realschule/ IGS Gymnasium R 2 N (Anzahl der Klassen) 0.11 1972 (145) .07 .01 -.02 -.12 -.04 -.04 Ref. .02 < .01 0.10 1972 (145) Tab. 2: Multilevel-Regressionsmodelle mit moralischer Motivation als abhängige Variable (unstandardisierte Koeffizienten; ** p < .01; * p < .05) Anmerkung: IGS: integrierte Gesamtschulen. Die Bedeutung der Schule 143 die Beziehungen der Schülerinnen und Schüler untereinander positiv sind, nicht zusätzlich die moralische Motivation des Einzelnen erklären. Lediglich die Wahrnehmung des einzelnen Individuums der Schüler-Schüler-Beziehungen erhöht die moralische Motivation. Ebenso findet sich kein zusätzlicher Effekt der mittleren Schulnote innerhalb einer Klasse, des Anteils der Jungen oder der Schulform auf die moralische Motivation. Insofern wird keine empirische Unterstützung für Hypothese 2 gefunden. Hypothese 3 nimmt an, dass die Auswirkungen des subjektiv wahrgenommenen Klassenklimas in Bezug auf moralische Motivation für Jungen im Vergleich zu Mädchen stärker ausgeprägt sind. Um dies zu überprüfen, wurden erneut lineare Mehrebenenmodelle berechnet. Wobei die einzelnen Interaktionen der Schüler- Schüler-Beziehungen, der Partizipationsmöglichkeiten, der Schulidentifikation und der Schüler-Lehrer-Beziehung mit Geschlecht zunächst in getrennten Modellen berücksichtigt wurden und abschließend ein Gesamtmodell berichtet wird (Tab. 3). Das schrittweise Vorgehen bietet sich an, da besonders die Korrelationen zwischen den Klimaindikatoren eher hoch sind (Tab. 1) und damit die Gefahr der Multikollinearität besteht. Alle intervallskalierten Variablen werden für diese Modelle am Gesamtmittelwert (grand mean) zentriert. Lediglich die Interaktion zwischen Partizipationsmöglichkeiten und Geschlecht erweist sich als nicht signifikant (Modell 2 in Tab. 3). Die Modelle 1, 3 und 4 zeigen signifikante Interaktionen zwischen den Schüler-Schüler-Beziehungen, der Schulidentifikation und den Schüler- Lehrer-Beziehungen und Geschlecht. Diese Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass die Schüler-Schüler-Beziehungen, die Schulidentifikation und die Lehrer-Schüler-Beziehungen lediglich für Jungen die moralische Motivation signifikant erhöhen, da die Haupteffekte der Variablen unter Berücksichtigung der Interaktionsterme nicht signifikant sind. Im letzten Modell liegen keine signifikanten Interaktionen vor und lediglich die Schüler-Schüler-Beziehungen und das Geschlecht beeinflussen die Stärke der moralischen Motivation. Diskussion Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die subjektive Wahrnehmung der Beziehungen zwischen den Schülerinnen und Schülern untereinander und zwischen der Schülerschaft und den Lehrerinnen bzw. Lehrern sowie die Identifikation mit der Schule die moralische Motivation erhöhen. Dies gilt hingegen nicht für die subjektiv wahr- Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Modell 5 Schüler - Schüler Partizipation Schulidentifikation Schüler - Lehrer Schulnoten Geschlecht (1 = männlich) .04 .02 .06** .04* -.03 -.31** .07** < -.01 .06** .05* .03 -.31** .07** .01 .02 .04* -.03 -.31** .07** .02 .06** -.01 -.02 -.31** .06** .02 .03 .03 -.03 -.31** Interaktionen (subjektiv wahrgenommenes Klassenklima * Geschlecht) Schüler-Schüler * Geschlecht Partizipation * Geschlecht Schulidentifikation * Geschlecht Schüler-Lehrer * Geschlecht R 2 N (Anzahl der Klassen) .06* .11 1972 (145) .05 .11 1972 (145) .09** .11 1972 (145) .08** .11 1972 (145) .03 .01 .07 .04 .11 1972 (145) Tab. 3: Multilevel-Regressionsmodelle mit Interaktionen und moralischer Motivation als abhängige Variable (unstandardisierte Koeffizienten; ** p < .01; * p < .05) 144 Bettina Doering et al. genommenen Partizipationsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler. Die untersuchten Teilkomponenten des Klassenklimas auf der Aggregatebene der Klasse zeigen keine Einflüsse auf moralische Motivation. Im Hinblick auf die differenziellen Auswirkungen der Schule auf die moralische Motivation von Jungen und Mädchen zeigt sich, dass die Schüler-Schüler-Beziehungen, die Schulidentifikation und die Lehrer- Schüler-Beziehung lediglich für Jungen die moralische Motivation erhöhen. Dies zeigt sich aber nur, wenn alle bedingten Effekte in einzelnen Modellen betrachtet werden. Im Gesamtmodell ergeben sich keine signifikanten Interaktionen zwischen den Indikatoren des subjektiv wahrgenommenen Klassenklimas und dem Geschlecht. Diese Ergebnisse bestätigen die Annahme, wonach subjektiv positiv wahrgenommene horizontale und vertikale Beziehungen innerhalb des Schulkontextes die moralische Motivation erhöhen. Vertrauensvolle und kooperative Beziehungen zwischen Gleichaltrigen fördern die Wahrnehmung von Gleichheit, Gerechtigkeit und Reziprozität (Keller, 1996). Ebenso können Lehrerinnen und Lehrer als positive Modelle die moralische Motivation fördern, wobei in diesem Zusammenhang die positive Verstärkung moralischer Handlungstendenzen ebenfalls eine Rolle spielen kann (Nunner-Winkler et al., 2006). Ebenso wurde angenommen, dass Verantwortungsübernahme innerhalb des Schulkontextes im Sinne von Gestaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten einen zentralen Bedingungsfaktor für moralische Motivation darstellt. Dass dies in der hier vorliegenden Untersuchung keine Auswirkungen hat, wertet die Bedeutung partizipativer Strukturen keineswegs ab. Es ist z. B. durchaus möglich, dass diese Möglichkeiten zunächst als anstrengend und zeitintensiv wahrgenommen werden und erst später zu einer Erhöhung moralischer Motivation führen. Innerhalb der neunten Jahrgangsstufe ist insbesondere die Abgrenzung von bestehenden Strukturen ein zentraler Bestandteil der Identitätsentwicklung (Moffitt, 1993), sodass die Unterstützung schulischer Strukturen in dieser Altersspanne auch grundsätzlich abgelehnt werden könnte. Entgegen der Annahme konnte kein signifikanter Effekt der Teilkomponenten des Klassenklimas auf Aggregatebene gezeigt werden. Dies steht der postulierten Hypothese 2 entgegen. Allerdings weisen andere Autoren darauf hin, dass die subjektive Wahrnehmung des Klassenklimas bedeutungsvoller für die Erklärung moralischer Motivation ist (Klauer & Leutner, 2012). Darüber hinaus wurde in den Analysen deutlich, dass die durch Aggregatmerkmale erklärbare Varianz mit 3 % eher gering ist. Nach Kontrolle der Individualvariablen lag diese sogar noch niedriger (ICC = 0.01 für Modell 1 in Tab. 2). Möglicherweise beeinflussen die aggregierten Klimaindikatoren innerhalb einer Klasse das subjektiv wahrgenommene Klassenklima, sodass das Klima auf Klassenebene einen indirekten Einfluss auf moralische Motivation besitzt. Darüber hinaus konnte der geschlechtsspezifische Einfluss des subjektiv wahrgenommenen Klassenklimas auf moralische Motivation aufgezeigt werden: Die Schüler-Schüler-Beziehungen, die Schulidentifikation und die Schüler-Lehrer-Beziehungen haben lediglich für Jungen positive Auswirkungen im Sinne einer Stärkung der moralischen Motivation. Die Ergebnisse sprechen im Allgemeinen eher dafür, dass für Jungen eine positive Klassenatmosphäre und damit eine stärkere Bindung an die Schule sowie die Schüler-Lehrer-Beziehungen bedeutsamer sind, um moralische Motivation zu fördern. Dies geht mit anderen Studien konform, die zeigen konnten, dass das Schulklima gerade bei auffälligen Jugendlichen bzw. bei Jungen positivere Auswirkungen besitzt (Haynes et al., 1997; Kuperminc et al., 1997). Hierfür sollte in weiteren Untersuchungen geklärt werden, ob dies tatsächlich, wie bei Kuperminc et al. (1997) beschrieben, aus der besonderen Aufmerksamkeit der Lehrerinnen und Lehrer gegenüber Jungen resultiert, weil diese durch häufigeres Problemverhalten eher auffallen. Innerhalb des Gesamtmodells zeigen sich keine relevanten Interaktionen. Lediglich die Schüler-Schüler-Beziehungen und das Geschlecht haben hier noch einen Einfluss. Eine mögliche Ursache für diesen Befund könnten die relativ Die Bedeutung der Schule 145 hohen Korrelationen zwischen den einzelnen Klimaindikatoren sein, die die geringen bedingten Effekte bei Jungen im Gesamtmodell zusätzlich verringern. Die recht hohen korrelativen Zusammenhänge der Klimaindikatoren weisen darauf hin, dass ein gemeinsamer latenter Faktor hinter den einzelnen Indikatoren liegt. In der hier präsentierten Studie sollten aber die Auswirkungen der einzelnen Indikatoren getrennt geprüft werden, d. h. ob die Schüler-Schüler- Beziehungen, die Partizipationsmöglichkeiten, die Schulidentifikation und die Schüler-Lehrer- Beziehungen für Jungen und Mädchen differenzielle Einflussfaktoren darstellen. Aus diesem Grund scheint die Interpretation der Einzelmodelle hier bedeutsamer zu sein. Die Ergebnisse der vorgelegten Studie weisen weiterhin darauf hin, dass nicht nur das moralische Urteilsvermögen, sondern auch moralische Motivation durch ein positives Klassenklima beeinflusst werden kann. Damit schließt die Studie eine bestehende Forschungslücke. Bis zum jetzigen Zeitpunkt wurde die motivationale Bedeutung der Schule für moralisches Handeln nicht untersucht. Es zeigte sich, dass vor allem die Beziehungsgestaltung und die dadurch entstehende Identifikation mit der sozialen Institution Schule einen besonderen Beitrag leisten können. In nachfolgenden Untersuchungen sollten weitere Klimaindikatoren berücksichtigt werden und die Bedeutung Schule mit weiteren Sozialisationsinstanzen (z. B. Familie und Peers) verglichen werden. Ebenso bleibt fraglich, inwieweit die Ergebnisse auch auf jüngere bzw. ältere Altersgruppen (z. B. Grundschule, Sekundarstufe 2) übertragen werden können. Als Einschränkung der vorgelegten Untersuchung muss zunächst das Kausalitätsproblem bei querschnittlichen Untersuchungen genannt werden. Dies ließe sich ansatzweise mittels eines längsschnittlichen Untersuchungsdesigns lösen. Auch muss erwähnt werden, dass das umfangreiche, qualitative Erhebungsinstrument zu einer Reduktion des Stichprobenumfangs geführt hat. Abschließend muss auch die Aggregation von Individualmerkmalen als Kontextmerkmale kritisch reflektiert werden. Die auf der Klassenebene aggregierten Angaben der Schülerinnen und Schüler geben Auskunft über das in der Klasse vorherrschende Klima, dem alle Schülerinnen und Schüler dieser Klasse ausgesetzt sind. In diesem Fall fungieren die Schülerinnen und Schüler als Beobachter des Kollektivbzw. Aggregatmerkmales Klassenklima. Alternativ können solche Aggregatmerkmale auch anders als durch Aggregation von Individualmerkmalen (der Level-1-Einheiten) erhoben werden, in unserem Fall z. B. durch die Einschätzung von Lehrerinnen und Lehrern oder durch Beobachtung. Ob eine Erfassung der Aggregatmerkmale durch Aggregation problematisch ist, hängt auch vom Merkmal ab. Merkmale wie der Anteil der männlichen Schüler sind sicherlich unproblematisch. Gleichzeitig muss eine externe Einschätzung z. B. des Klassenklimas durch Lehrerinnen und Lehrer nicht zwingend objektiver sein. Nicht zuletzt erlegen auch die verfügbaren Daten der Forscherin bzw. dem Forscher Restriktionen auf. Die kritische Betrachtung der Befunde weist darauf hin, dass die Ergebnisse der vorgelegten Analysen einer Replikation und Erweiterung bedürfen. Dennoch zeigen die Ergebnisse, dass moralische Motivation nicht nur durch Peer- Beziehungen und Eltern-Kind-Beziehungen gefördert werden kann (Malti & Buchmann, 2010), sondern auch ein positives subjektiv wahrgenommenes Klassenklima die moralische Motivation positiv beeinflussen kann. Aus diesem Grund kann aus den Ergebnissen geschlussfolgert werden, dass Schule und ihre Akteure tatsächlich auch moralisches Verhalten motivieren können. Literatur Böhm-Kasper, O., Fritzsche, S., Krappidel, A. & Siebholz, S. (2004). Skalenhandbuch zum Schülerfragebogen aus dem Projekt „Politische Orientierungen bei Schülern im Rahmen schulischer Anerkennungsbeziehungen“ (Werkstatthefte des ZSL, H. 24). Halle: Zentrum für Schulforschung und Fragen der Lehrerbildung. Bortz, J. & Döring, N. (2005). Forschungsmethoden und Evaluation. Heidelberg: Springer. 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Dr. Bettina Doering Leibniz Universität Hannover Institut für Pädagogische Psychologie Schloßwender Str. 1 D-30159 Hannover E-Mail: Doering@psychologie.uni-hannover.de Marie Christine Bergmann Dr. Michael Hanslmaier Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen Lützerodestraße 9 D-30161 Hannover E-Mail: Marie.Bergmann@kfn.de E-Mail: Michael.Hanslmaier@kfn.de