Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2015.art23d
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2015
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Rezension: Wisniewski, B. & Vogel, A. (Hrsg.). (2013). Schule auf Abwegen. Mythen, Irrtümer und Aberglaube in der Pädagogik. Hohengehren: Schneider.
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2015
Buchbesprechung Wisniewski, B. & Vogel, A. (Hrsg.). (2013). Schule auf Abwegen. Mythen, Irrtümer und Aberglaube in der Pädagogik. Hohengehren: Schneider. 164 Seiten, ISBN-10: 3834012564 (€ 16)
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316 Buchbesprechung Wisniewski, B. & Vogel, A. (Hrsg.). (2013). Schule auf Abwegen. Mythen, Irrtümer und Aberglaube in der Pädagogik. Hohengehren: Schneider. 164 Seiten, ISBN-10: 3834012564 (€ 16,-) Die acht Autoren - allesamt Schulpraktikerinnen bzw. -praktiker und/ oder Wissenschaftlerinnen bzw. Wissenschaftler - bieten mit ihrer Schrift einen wertvollen und durchaus überfälligen Überblick über beliebte und in der pädagogischen Praxis weit verbreitete Annahmen und Ansätze, die sich bei näherer Betrachtung als unhaltbar oder zumindest äußerst fragwürdig erweisen. In insgesamt 12 Aufsätzen stellen die Autoren aus ihrer Sicht klassische Irrtümer und Mythen vor, die sich in der hiesigen Schullandschaft etabliert haben und diskutieren diese kritisch unter Gesichtspunkten wie Plausibilität, wissenschaftliche Evidenz und möglichen Konsequenzen. Nicht immer bleibt der Stil dabei nüchtern-sachlich; zuweilen kommen die Autoren nicht umhin (wie sie in der Einleitung selbst anmerken) auch ironisch-erzählend zu werden. Nichtsdestotrotz erfolgt die Argumentation immer unter Rückgriff auf wissenschaftliche Quellen und Studien, die entsprechend angeführt werden. Da die Schrift nicht in Inhaltsbereiche oder Kapitel gegliedert ist, wird nachfolgend der Übersicht halber eine zusammenfassende inhaltliche Darstellung für jeweils vier Texte vorgenommen: Text 1 -4 Benedikt Wiesniewski (S. 11) befasst sich mit der unter Pädagoginnen und Pädagogen weit verbreiteten - aber irrigen - Annahme, dass schulisches Lernen idealerweise „mit allen Sinnen“ zu erfolgen hat und Lernerfolg vom Einsatz möglichst vieler Sinne in Lernprozessen abhängt. In diesem Zusammenhang beleuchtet er auch die häufig gestellte Forderung, Kinder müssten in der Schule nach ihren bevorzugten Sinnen (sog. Lerntypen) unterrichtet werden. Andreas Vogel (S. 27) thematisiert anschließend die in der deutschen Schulpädagogik beinahe schon dogmatische Ablehnung jeglicher Form lehrerzentrierten Unterrichts und die damit korrespondierende Überzeugung von der mangelnden Effektivität oder gar Schädlichkeit des Frontalunterrichts, der Kindern angeblich keine Freiheit zum selbstständigen Denken ermöglicht. Dahinter steht die Idee, dass schulisches Lernen nur dann funktioniert, wenn es Spaß macht, nicht anstrengend ist und Schülerinnen und Schüler vor allem selbstorganisiert und möglichst ohne Lehrerin bzw. Lehrer arbeiten. Auch die häufig ablehnende Haltung gegenüber schulischen Leistungsnachweisen kommt zur Sprache und wird von Andreas Schöps (S. 39) im Lichte der Ergebnisse empirischer Unterrichtsforschung diskutiert. Franz Glaser (S. 97) plädiert für eine stärker evidenzbasierte Pädagogik, bei der Handlungsanweisungen nicht mehr überwiegend das Ergebnis persönlicher Erfahrungen oder Überzeugungen sind, sondern auf dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgen. Text 5 -8 Benedikt Wiesniewski (S. 65) beklagt die teilweise halbherzige Nutzung empirischer Forschung seitens der Pädagoginnen und Pädagogen im Hinblick auf das Thema Unterrichtsqualität. Als Beispiel nennt er Hilbert Meyers populäre zehn Prinzipien guten Unterrichts, die sich bei genauerer Betrachtung als eine eher inkonsequente Mischung aus wissenschaftlichen Erkenntnissen und persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen des Erziehungswissenschaftlers erweisen. Schulpädagoginnen bzw. -pädagogen und selbsternannte Expertinnen bzw. Experten formulieren laut Wiesniewski allzu häufig normative Aussagen darüber, wie guter Unterricht zu sein hat, ohne dabei den entscheidenden Nachweis für das zu erbringen, was wirklich zählt: der Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler. Auch die in der deutschen Schullandschaft häufig anzutreffende skeptisch-ablehnende Haltung gegenüber jeglicher Form von Disziplin wird kritisch hinterfragt und von Andreas Vogel (S. 89) im Lichte wissenschaftlicher Forschungsergebnisse diskutiert. Ludwig Kreuzpointer (S. 77) bespricht im anschließenden Text Missverständnisse und Mythen unter Lehrkräften, die das Konstrukt Intelligenz betreffen. Allen voran steht das im pädagogischen Bereich populäre Konzept der Multiplen Intelligenzen. Eine andere Art populärer Mythen beleuchtet Franz Glaser (S. 97): Er widmet sich den Neuromythen, also Vorstellungen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns, die sich bei näherem Hinsehen als unhaltbar erweisen. Unter Buchbesprechung 317 Lehrkräften weit verbreitet sind beispielsweise Fehlannahmen zu den Funktionsweisen der Gehirnhälften („Links logisch - rechts kreativ“, S. 101). Neuromythen spielen im Schulalltag eine große Rolle und leider werden aus ihnen allzu oft unsinnige Handlungsanweisungen für die Unterrichtspraxis abgeleitet. Text 9 -12 Helmut Lukesch (S. 111) bringt sodann die in Schulen weit verbreiteten, sich auf angebliche neurowissenschaftliche Erkenntnisse berufenden esoterischen Techniken, wie etwa das Neurolinguistische Programmieren oder die Edu-Kinestetik (Brain-Gym), zur Sprache, die trotz fehlender Wirksamkeitsnachweise verführerisch einfache Lösungen für Schulprobleme versprechen und damit einen unzulässigen Machbarkeitswahn postulieren. Als fragwürdig erachtet Andreas Vogel (S. 139) die hierzulande typische Fixierung auf methodische Aspekte im Unterricht. Am Beispiel des bekannten Methodentrainings nach Klippert demonstriert er, welches Ausmaß diese Fixierung angenommen hat: Fast scheint es, als spielten ausgefeilte und ungewöhnliche Methoden im Unterricht inzwischen die Hauptrolle, während Inhalte und die Frage, was Schülerinnen und Schüler eigentlich gelernt haben, in den Hintergrund geraten. Benedikt Wiesniewski (S. 153) diskutiert eine weitere „Heilige Kuh“ der deutschen Schulpädagogik, die durchaus fragwürdig erscheint: Die sog. Individuelle Förderung ist in aller Munde. Aus wissenschaftlicher Sicht ist aber kaum klar, was darunter genau zu verstehen ist, wenn es heißt, Lehrkräfte sollen Schülerinnen und Schüler da abholen, wo sie stehen, und wie 25 Kinder einer Schulklasse individuell gefördert werden können. Im letzten Text der Schrift hinterfragt Joseph-Emich Rasch (S.125) die unerschütterliche Begeisterung von Pädagoginnen und Pädagogen für die alternativen Montessori- und Waldorfansätze, die sich aus seiner Sicht bei genauerer Betrachtung vielmehr durch esoterische Ideen als durch überzeugende Erfolgsnachweise auszeichnen. Die in der Schrift diskutierten Annahmen und Ansätze sind bedauerlicherweise keine exotischen Einzelmeinungen, sondern für die deutsche Schulpädagogik und Didaktik durchaus konstitutiv. In nicht unerheblichem Umfang werden Lehrkräfte in der Aus- und Fortbildung mit Weisheiten konfrontiert, für die es oft keinerlei wissenschaftliche Evidenz gibt. Die Autoren gehen sicher ein bisschen zu weit, wenn sie einleitend schreiben, dass sich das deutsche Schulsystem alleine wegen der Persistenz pädagogischer Mythen in einer Krise befinde. Richtig ist aber, dass die Hartnäckigkeit, mit der sich diese Mythen in der Pädagogik halten, dazu führt, dass Lehrkräfte allzu häufig zweifelhafte Handlungsempfehlungen erhalten und bildungspolitische Entscheidungen zuweilen eher wohlklingender Ideologie statt wissenschaftlicher Evidenz folgen. Die Popularität pädagogischer Irrtümer ist aber nicht nur deshalb beklagenswert, weil dadurch falsche Annahmen in pädagogische Arbeitsfelder gelangen, sondern auch, weil die ohnehin um wissenschaftliche Anerkennung ringende Pädagogik damit bestätigt, dass sie es häufig vorzieht, an liebgewonnenen Ideen festzuhalten, statt sich um wissenschaftliche Erkenntnis und Evidenz zu bemühen. Es liegt auf der Hand, dass diese Tatsache auch für die Frage nach der Professionalisierung im Lehrberuf relevant ist. Wenn in der Lehrerausbildung vermittelte Erkenntnisse nicht auf Forschungsergebnissen beruhen, sondern das Resultat subjektiver oder politischer Einstellungen sind, verwundert es nicht, wenn Pädagoginnen und Pädagogen in der öffentlichen Wahrnehmung nur wenig Expertise zuerkannt wird. Wertvoll ist die Schrift von daher nicht nur, weil hier populäre pädagogische Annahmen als zweifelhaft oder unhaltbar entlarvt werden. Der Verdienst der Autoren liegt vor allem auch darin, dass Pädagoginnen und Pädagogen durch die Publikation dafür sensibilisiert werden, dass viele der in der pädagogischen und didaktischen Landschaft mit Inbrunst vertretenen Annahmen durchaus kritisch hinterfragt werden dürfen. Die Schrift kann deshalb auch als ein Plädoyer dafür betrachtet werden, dass die Erziehungswissenschaft sich endlich davon verabschieden sollte, Annahmen und Handlungsanweisungen auf dem Hintergrund von Ideologien zu formulieren, statt auf der Basis wissenschaftlicher Evidenz. Dr. Barbro Walker Universität Koblenz-Landau DOI 10.2378/ peu2015.art23d
