eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 63/1

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2016.art01d
11
2016
631

Editorial: Frühe Bildung als Herausforderung psychologischer Forschung

11
2016
Olaf Köller
Zu Beginn des Jahres 2016 möchte ich für einen Forschungsbereich sensibilisieren, der zunehmend an Bedeutung gewinnt und der Pädagogischen und Entwicklungspsychologie ein breites Betätigungsfeld eröffnet, das nur interdisziplinär in Kooperation mit Vertretern anderer Disziplinen (Frühpädagogik, Fachdidaktik, Bildungsökonomie, Neuropsychologie und Soziologie) zu erschließen ist. Ich meine den frühkindlichen Bereich, den ich hier auf die Phase der ersten sechs Lebensjahre vor Schuleintritt beziehen möchte. [...]
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2016, 63, 1 -2 DOI 10.2378/ peu2016.art01d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Editorial Zu Beginn des Jahres 2016 möchte ich für einen Forschungsbereich sensibilisieren, der zunehmend an Bedeutung gewinnt und der Pädagogischen und Entwicklungspsychologie ein breites Betätigungsfeld eröffnet, das nur interdisziplinär in Kooperation mit Vertretern anderer Disziplinen (Frühpädagogik, Fachdidaktik, Bildungsökonomie, Neuropsychologie und Soziologie) zu erschließen ist. Ich meine den frühkindlichen Bereich, den ich hier auf die Phase der ersten sechs Lebensjahre vor Schuleintritt beziehen möchte. Vor allem die US-amerikanische Forschung zeigt, dass Disparitäten im kognitiven und sozialen Leistungsstand bereits vorschulisch (in Familien und Kindertageseinrichtungen) auftreten. So konnte unter anderem in der US-amerikanischen Early Childhood Longitudinal Study - Birth Cohort (ECLS-B) eindrucksvoll nachgewiesen werden, dass schon mit neun Monaten signifikante Unterschiede zwischen Kleinkindern in Abhängigkeit vom familiären Hintergrund auftraten, die im Alter von zwei Jahren noch deutlich zugenommen hatten. Ähnliche Befunde ergaben sich in der in Großbritannien durchgeführten Millenium Cohort Study. Hinsichtlich der Ursachen hierfür besteht Einigkeit, dass es jenseits relevanter Kindmerkmale differenzielle formale und non-formale Entwicklungsumwelten sind, die Unterschiede in den ersten sechs Lebensjahren erzeugen. Diese starke Abhängigkeit der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung von den durch die Entwicklungsumwelt bereit gestellten Opportunitätsstrukturen ist breit dokumentiert und von Bronfenbrenner in seiner ökologischen Systemtheorie und seinem bioökologischen Entwicklungsmodell theoretisch fundiert. Grundannahme ist hier, dass Individuen in vielfältigen Situationen (ökologischen Kontexten) interagieren, die ihre Entwicklung beeinflussen. Besonders große Bedeutung kommt dabei in den ersten Lebensjahren den Mikrosystemen Familie und Bildungsinstitutionen zu, in denen die Kinder ihre meiste Zeit verbringen, sowie der Interaktion zwischen diesen Systemen (Mesosystem). Moderiert und mediiert werden diese Effekte durch Rahmenbedingungen (z. B. zahlenmäßiges Verhältnis von Erzieherinnen bzw. Erziehern zu Kindern in Kindergärten), Voraussetzungen der Kinder (z. B. Entwicklungsstatus) sowie die Kenntnisse, die Eltern und Erzieherinnen bzw. Erzieher über gelingende Interaktionsprozesse mit Kindern haben. Basierend auf diesen Annahmen haben sich in den USA bereits vor vielen Jahren Programme durchgesetzt (u. a. Folgeprogramme des HighScope Perry Preschool Project), die im Kindergartenbereich zur Förderung der kognitiven und sozioemotionalen Entwicklung ansetzen und die neben dem Erziehungsauftrag auch den Bildungsauftrag des Kindergartens betonen. Aus den amerikanischen Untersuchungen wissen wir auch relativ genau, unter welchen Bedingungen Interventionsprogramme wirksam sind: - Zeitintensivere und früh einsetzende Maßnahmen (in den ersten 3 Lebensjahren) sind in der Regel erfolgreicher. - Generell sind solche Programme am erfolgreichsten, in denen Maßnahmen in Familien (Home-based Interventions) mit Maßnahmen in entsprechenden Bildungsbzw. Erzie- Frühe Bildung als Herausforderung psychologischer Forschung Olaf Köller Geschäftsführender Herausgeber 2 Editorial hungseinrichtungen (Center-based Interventions) gekoppelt werden (z. B. Perry Preschool Program). - Der Programmerfolg hängt sehr stark vom Umfang und der Güte des Trainings der Caregivers (Eltern und/ oder Erzieher) ab. - In Center-based Interventions wird der Erfolg durch die Größe der trainierten Gruppe (group size) und den Erzieherinnen-Kind- Schlüssel (Child-to-staff ratio) moderiert. - Einzelmaßnahmen haben oft sehr kleine Effekte. - Größere Effekte der Maßnahmen treten vor allem bei entwicklungsverzögerten Kindern auf. - Die Effekte der Programme nehmen häufig im Follow-up-Zeitraum ab. Dementsprechend sind langanhaltende Programme erfolgreicher. In Deutschland fehlt es leider weitgehend an vergleichbaren empirischen Arbeiten, die systematisch die längerfristigen Effekte der vorschulischen Förderung auf kognitive, motorische, emotionale und soziale Merkmale von sozial und kulturell benachteiligten Kindern und Jugendlichen untersuchen. Zu den kognitiven Merkmalen zählen neben den kognitiven Grundfähigkeiten auch sprachliche, mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen. Für die Psychologie ergibt sich hier somit die Chance, viel systematischer Ansätze zur frühen Förderung zu erproben und diese in ihrer langfristigen Wirksamkeit zu erforschen. In diesem Zusammenhang bieten sich wenigstens vier Themenfelder an, für die ich werben möchte: (a) Theorienentwicklung im Bereich domänenspezifischer (mathematischer, naturwissenschaftlicher, sprachlicher) Vorläuferfähigkeiten, die Voraussetzungen erfolgreichen schulischen Lernens sind, (b) Identifikation häuslicher (familialer) Faktoren, die die kindliche Entwicklung beeinflussen, (c) institutionelle Faktoren, die die kindliche Entwicklung beeinflussen, und schließlich (d) professionelle Kompetenzen und die Professionalisierung des Fachpersonals in Betreuungseinrichtungen. Zum Schluss etwas in eigener Sache Die Psychologie in Erziehung und Unterricht (PEU) hat nach wie vor sehr viele Einreichungen, die angesichts des begrenzten Volumens der Hefte und des Einstreuens von Themenheften ein strenges Begutachtungssystem zur Folge haben. Im abgelaufenen Jahr 2015 war die Zahl der Einreichungen wieder so hoch, dass wir viele durchaus gute Manuskripte ablehnen mussten und aktuell bei einer Annahmequote von unter 40 % liegen. Die Zahl der Manuskripte, die in der ersten Begutachtungsrunde akzeptiert werden, ist sehr gering (unter 20 %) und signalisiert die hohen Qualitätsstandards, die wir an Beiträge anlegen. Hinsichtlich der Sichtbarkeit der PEU-Beiträge können wir erfreulicherweise feststellen, dass der Impact-Factor im Journal Citation Report, der sich aktuell auf Zitationen im Jahre 2014 bezieht, gestiegen ist. Mit einem aktuellen Wert von 0,488 liegt die Zeitschrift kaum hinter der Zeitschrift für Pädagogische Psychologie (0,585) und der Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie (0,710). Gleichzeitig erreicht die PEU einen höheren Impact als die Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (0,299) und die Zeitschrift für Pädagogogik (0,295). Der Wert für die PEU belegt, dass die Scientific Community unsere Artikel nicht nur liest, sondern es auch für Wert erachtet sie zu zitieren. Für das neue Jahr möchte ich auch einen Wechsel in der Herausgeberschaft verkünden. Gottfried Spangler (Universität Erlangen-Nürnberg) verlässt nach mehreren Jahren erfolgreicher Mitarbeit das Herausgeberteam. Gottfried Spangler hatte auch über mehrere Jahre die Geschäftsführung der PEU, wofür ich ihm herzlich danke. Seine Nachfolge wird Henrik Saalbach (Universität Leipzig) antreten. Mit ihm gewinnt das PEU-Team einen Herausgeber, dessen Forschungsaktivitäten im Schnittbereich von Pädagogischer und Entwicklungspsychologie liegen und der mit seiner Expertise ebenso wie sein Vorgänger für eine hohe Qualität der Artikel sorgen wird.