eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 63/1

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2016.art07d
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2016
631

Stichwort: Die Bund-Länder Initiative "Bildung durch Sprache und Schrift (BISS)"

11
2016
Michael Becker-Mrotzek
Marcus Hasselhorn
Hans-Joachim Roth
Petra Stanat
Ausgangssituation Sprache und sprachliche Bildung gelten als Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und somit für die allgemeine Lebenszufriedenheit. Spätestens seit Programme for International Student Assessment (PISA 2000) ist bekannt, dass ein erheblicher Teil der Kinder und Jugendlichen ebenso wie der Erwachsenen nur über unzureichende schriftsprachliche Fertigkeiten verfügt, was ihre Teilhabe am beruflichen und gesellschaftlichen Leben gefährdet. Fast die Hälfte aller 15-Jährigen erreicht nicht die Mindeststandards der Kultusministerkonferenz im Bereich Lesen, die als Voraussetzung für eine berufliche Ausbildung bzw. einen weiterführenden Schulbesuch gelten dürfen (Naumann, Artelt, Schneider & Stanat, 2010). Und bei den -Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter (18 – 64 Jahre) können 14,5 % oder 7,5 Mio. Erwachsene zu den sog. funktionalen Analphabeten gezählt werden (Grotschlüschen & Riekmann, 2012).
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2016, 63, 75 -77 DOI 10.2378/ peu2016.art07d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Ausgangssituation Sprache und sprachliche Bildung gelten als Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und somit für die allgemeine Lebenszufriedenheit. Spätestens seit Programme for International Student Assessment (PISA 2000) ist bekannt, dass ein erheblicher Teil der Kinder und Jugendlichen ebenso wie der Erwachsenen nur über unzureichende schriftsprachliche Fertigkeiten verfügt, was ihre Teilhabe am beruflichen und gesellschaftlichen Leben gefährdet. Fast die Hälfte aller 15-Jährigen erreicht nicht die Mindeststandards der Kultusministerkonferenz im Bereich Lesen, die als Voraussetzung für eine berufliche Ausbildung bzw. einen weiterführenden Schulbesuch gelten dürfen (Naumann, Artelt, Schneider & Stanat, 2010). Und bei den Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter (18 - 64 Jahre) können 14,5 % oder 7,5 Mio. Erwachsene zu den sog. funktionalen Analphabeten gezählt werden (Grotschlüschen & Riekmann, 2012). Vor diesem Hintergrund haben Bund, Länder und Kommunen zahlreiche Programme und Initiativen gestartet, um insbesondere Kinder und Jugendliche in besonderen Problemlagen zu fördern und zu unterstützen; zu nennen sind hier Offensive Frühe Chancen, Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration, Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, ProLesen, Niemanden zurücklassen, Netzwerk für Deutsch als Zweit- und Bildungssprache, Mehrsprachigkeit und Interkulturelle Kompetenz oder ProDaz: Deutsch als Zweitsprache in allen Fächern. Diese Maßnahmen dürften dazu beigetragen haben, dass sich die Zahl der schwachen Leserinnen und Leser von 21,9 % (PISA 2000) auf 18,5 % (PISA 2009) verringert hat. Allerdings mangelt es an einer systematischen Evaluation der eingesetzten Programme sowie an einer nachhaltigen Implementation erfolgreicher Konzepte. Vor diesem Hintergrund haben das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), die Kultusministerkonferenz (KMK) und die Konferenz der Jugend- und Familienminister (JFMK) die gemeinsame Initiative Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS) auf den Weg gebracht. Im September 2012 hat die Steuerungsgruppe Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich eine entsprechende Programmskizze beschlossen, in der die wesentlichen Ziele und Maßnahmenpakete beschrieben werden: Das fünfjährige Programm zielt […] auf die wissenschaftliche Überprüfung der Wirksamkeit und Effizienz sowie die Weiterentwicklung von bereits eingesetzten und die Erprobung von innovativen Verfahren und Instrumenten (‚Tools‘) zur Sprachförderung, Sprachdiagnostik und Leseförderung. Darüber hinaus soll die erforderliche Fortbildung und Weiterqualifizierung des pädagogischen Personals in Kindertageseinrichtungen und Schulen unterstützt werden. Im zentralen Bereich dieser Initiative sollen Maßnahmen in ausgewählten Modulen weiterentwickelt, durchgeführt und evaluiert werden, die eine durchgängige wirksame Förderung von Kindern vom Beginn institutioneller Betreuung bis zum Ende der Sekundarstufe I in den für den individuellen Bildungserfolg zentralen sprachlichen Kompetenzen erlauben. […] Die im Programm realisierten Ansätze im Elementar-, Primar- und Sekundarbereich werden durch vom Bund auszuschreibende Forschungsprojekte einer aussagekräftigen Evaluation unterzogen.‘ (Programmskizze 2012, S. 1) n Stichwort Die Bund-Länder Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift (BISS)“ Michael Becker-Mrotzek 1 , Marcus Hasselhorn 2 , Hans-Joachim Roth 1 , Petra Stanat 3 1 Universität Köln 2 Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt a. M. 3 Humboldt-Universität Berlin 76 Stichwort Grundkonzeption Ziel von BiSS ist es also, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, welche Maßnahmen der Sprach- und Leseförderung in den verschiedenen Etappen des institutionellen Bildungsweges - vom Elementarbereich über die Grundschule bis zur Sekundarstufe - sich in der pädagogischen Praxis bewähren und Wirkungen zeigen. Auf Wunsch der Initiatoren sollten dabei Ansätze der Förderung aufgegriffen, gebündelt und evaluiert werden, die bereits umgesetzt werden. Um eine Bündelung solcher Maßnahmen zu ermöglichen, wurden in einem ersten Schritt in einer Expertise (Schneider et al., 2012) sog. Module definiert, die für alle Bildungsetappen und für unterschiedliche Bereiche Maßnahmen beschreiben, deren Wirksamkeit entweder empirisch belegt oder aber theoretisch plausibel zu erwarten ist. Diese Module sind so konzipiert, dass vorhandene Maßnahmen daran anschließen können. Im Elementarbereich gibt es z. B. ein Modul für die gezielte alltagsintegrierte Sprachbildung und ein Modul für die intensive Förderung im Bereich sprachlicher Strukturen, die sich als grundlegende Fertigkeit für den späteren Schriftspracherwerb erwiesen hat. Im Primarbereich umfassen die Module unter anderem die gezielte sprachliche Bildung in alltäglichen und fachlichen Kontexten und die Diagnose und Förderung der Leseflüssigkeit und ihrer Voraussetzungen. In der Sekundarstufe zeichnen sich die Module durch einen Fokus auf den weiteren Aus- und Aufbau der sog. bildungssprachlichen Kompetenzen aus, etwa die sprachliche Bildung in fachlichen Kontexten oder Lese- und Schreibstrategien im Verbund vermitteln. In der Praxis werden die Module in sog. Verbünden umgesetzt. Das sind Zusammenschlüsse von jeweils drei bis zehn Bildungseinrichtungen, also Kindertageseinrichtungen und Schulen gemeinsam mit weiteren Partnern wie beispielsweise Universitäten oder Bibliotheken. Sie entscheiden sich für ein oder zwei Module, entwickeln ein entsprechendes Förderkonzept und nutzen dafür ihre eigenen oder die in den Modulen beschriebenen Diagnose- und Förderwerkzeuge (Tools). Bei der Entwicklung und Umsetzung ihrer Konzepte werden die Verbünde durch das Trägerkonsortium unterstützt, das hierfür Beratungen und Fortbildungen anbietet. Aktuell arbeiten im Rahmen von BiSS bundesweit über 100 Verbünde. Das Trägerkonsortium, bestehend aus dem Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität zu Köln, dem Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt sowie der Humboldt-Universität zu Berlin in Kooperation mit dem Institut zur Qualitätssicherung im Bildungswesen (IQB), ist für die Gesamtkoordination der Initiative verantwortlich. Es übernimmt die Organisation, Koordination und Aufsicht über alle Serviceaktivitäten im Programm, pflegt den einzurichtenden Server, auf dem u. a. ausführliche Toolbeschreibungen zu finden sind, und koordiniert sämtliche Evaluationen und Forschungsaktivitäten. Außerdem ist es verantwortlich für die Ausarbeitung und Weiterentwicklung der in den Modulvorschlägen initiierten Tools. Und schließlich organisiert und koordiniert das Trägerkonsortium alle Qualifikationsmaßnahmen für das pädagogische Personal, die für das Gesamtprogramm erforderlich sind. Die Gesamtsteuerung von BiSS liegt in der Verantwortung eines Lenkungsausschusses, in dem neben den Initiatoren auch die kommunalen Spitzenverbände sowie die Träger der freien Wohlfahrtspflege vertreten sind. Umdie Praxistauglichkeit,Implementationsqualität und Wirksamkeit der eingesetzten Fördermaßnahmen zu ermitteln, werden bis zu sechs Evaluationsvorhaben die Arbeit in den Verbünden begleiten und untersuchen. Ausgewählte Verbünde mit vergleichbaren Förderkonzepten sollen dabei formativ und in Teilen auch summativ evaluiert werden, um Erkenntnisse über die Qualität von Diagnose- und Förderkonzepten zu erhalten, die sich auf die BiSS- Module beziehen. Neben den Evaluationsvorhaben soll es pro Etappe ein Entwicklungsvorhaben geben, das spezifische Fragestellungen bearbeitet, etwa Fragen zur Wortschatzentwicklung oder zur Entwicklung der Lese- und Schreibflüssigkeit. Diese Stichwort 77 Vorhaben zielen darauf ab, durch die Bearbeitung besonderer Herausforderungen einzelne Module in BiSS systematisch weiterzuentwickeln. Ausblick Das Programm BiSS, dessen Laufzeit bis Ende 2019 verlängert wurde, bietet die herausragende Möglichkeit, substanzielle Fortschritte im Bereich der Sprachdiagnose und Sprachförderung zu erzielen: - In den Ländern und Kommunen entstehen durch die Verbundarbeit Netzwerke von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren mit einer fundierten Expertise im Bereich der sprachlichen Bildung. - Durch die Evaluationsvorhaben werden neue Erkenntnisse über die Qualität und Wirksamkeit unterschiedlicher Förderkonzepte in der praktischen Umsetzung und über die Brauchbarkeit von Diagnose- und Fördertools gewonnen. - Mit der Tooldatenbank steht künftig ein Instrument bereit, das Praxis und Wissenschaft über die Funktionsweise und Qualität unterschiedlicher Werkzeuge der Sprachdiagnose und -förderung informiert. - Mit den derzeit entwickelten Blended- Learning-Kursen zu zentralen Aspekten der Sprachbildung und Sprachförderung stehen den Ländern und Kommunen nach Fertigstellung umfangreiche Fortbildungskonzepte zur Verfügung, die sie in ihre eigenen Weiterbildungsprogramme integrieren können. Literatur Grotlüschen, A. & Riekmann, W. (2012). Hauptergebnisse der leo. - Level-One Studie. In A. Grotlüschen & W. Riekmann (Hrsg.), Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo. - Level-One Studie (S. 13 - 53). Münster: Waxmann. Naumann, J., Artelt, C., Schneider, W. & Stanat, P. (2010). Lesekompetenz von PISA 2000 bis PISA 2009. In E. Klieme, C. Artelt, J. Hartig, N. Jude, O. Köller, M. Prenzel,… P. Stanat (Hrsg.), PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt (S. 23 - 71). Münster: Waxmann. Schneider, W., Baumert, J., Becker-Mrotzek, M., Hasselhorn, M., Kammermeyer, G., Rauschenbach, T.,… Stanat, P. (2012). Expertise „Bildung durch Sprache und Schrift (BISS)“ (Bund-Länder-Initiative zur Sprachförderung, Sprachdiagnostik und Leseförderung). Zugriff am 29. 6. 2015 unter http: / / www.bmbf.de/ pubRD/ BISS_Expertise.pdf Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek Prof. Dr. Hans-Joachim Roth Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache Universität zu Köln Albertus-Magnus-Platz D-50923 Köln E-Mail: becker.mrotzek@uni-koeln.de E-Mail: hans-joachim.roth@uni-koeln.de Prof. Dr. Marcus Hasselhorn Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) Schloßstraße 29 D-60486 Frankfurt a. M. E-Mail: hasselhorn@dipf.de Prof. Dr. Petra Stanat Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) Humboldt-Universität zu Berlin Unter den Linden 6 D-10099 Berlin E-Mail: petra.stanat@iqb.hu-berlin.de