Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2016.art08d
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2016
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Die Genauigkeit des Lehrerurteils bei der Identifikation von an Mobbing beteiligten Schülerinnen und Schülern
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2016
Ludwig Bilz
Jette Steger
Saskia M. Fischer
Gegenstand der Studie ist die Güte des Lehrerurteils bei der Wahrnehmung von täter- und opferbezogenem Mobbing-Verhalten. Geprüft werden das Ausmaß der Über- sowie Unterschätzung des Anteils der beteiligten Schülerinnen und Schüler, die individuelle Übereinstimmung des Fremdurteils mit den Selbstangaben und der Einfluss verschiedener Moderatoren auf die Genauigkeit des Urteils. Analysiert werden Befragungsdaten von n = 85 Klassenlehrkräften und n = 1401 Schülerinnen und Schülern. Die anteilige Verbreitung von Täter- und Opfererfahrungen pro Klasse wird durch die Lehrkräfte leicht überschätzt, die Übereinstimmung zwischen Lehrer- und Schülerurteil auf individueller Ebene fällt gering aus. Einfluss auf die Genauigkeit des Lehrerurteils zum Täterstatus haben die schulischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Die Ergebnisse werden hinsichtlich ihrer Implikationen für den Umgang mit dem Phänomen Mobbing an Schulen und für die Lehreraus- und -fortbildung diskutiert.
3_063_2016_2_0004
n Empirische Arbeit Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2016, 63, 122 -136 DOI 10.2378/ peu2016.art08d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Die Genauigkeit des Lehrerurteils bei der Identifikation von an Mobbing beteiligten Schülerinnen und Schülern Ludwig Bilz, Jette Steger, Saskia M. Fischer Hochschule Magdeburg-Stendal Zusammenfassung: Gegenstand der Studie ist die Güte des Lehrerurteils bei der Wahrnehmung von täter- und opferbezogenem Mobbing-Verhalten. Geprüft werden das Ausmaß der Übersowie Unterschätzung des Anteils der beteiligten Schülerinnen und Schüler, die individuelle Übereinstimmung des Fremdurteils mit den Selbstangaben und der Einfluss verschiedener Moderatoren auf die Genauigkeit des Urteils. Analysiert werden Befragungsdaten von n = 85 Klassenlehrkräften und n = 1401 Schülerinnen und Schülern. Die anteilige Verbreitung von Täter- und Opfererfahrungen pro Klasse wird durch die Lehrkräfte leicht überschätzt, die Übereinstimmung zwischen Lehrer- und Schülerurteil auf individueller Ebene fällt gering aus. Einfluss auf die Genauigkeit des Lehrerurteils zum Täterstatus haben die schulischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Die Ergebnisse werden hinsichtlich ihrer Implikationen für den Umgang mit dem Phänomen Mobbing an Schulen und für die Lehreraus- und -fortbildung diskutiert. Schlüsselbegriffe: Schüler-Mobbing, Viktimisierung, Lehrer, Akkuratheit von Lehrerurteilen, Gewalt an Schulen On the Accuracy of Teachers’ Identification of Pupils Involved in Bullying Summary: The subject of this study is the accuracy of teacher judgements regarding identification of perpetration and victimisation behaviour in schools. We examine whether the portion of involved pupils is overestimated or underestimated, the agreement among pupils’ and teachers’ perceptions at the individual level, and factors influencing the accuracy of teacher judgements. Participants were n = 85 class teachers and n = 1401 pupils. Results indicate that teachers are overestimating the number of pupils involved in bullying as victims or bullies slightly, while agreement between pupils’ and teachers’ judgements is low at the individual level. Teachers’ judgements of perpetration behaviour are influenced by pupils’ school performance. Results are discussed in terms of their implications for handling bullying in schools and for teacher education and training. Keywords: Bullying, victimisation, teacher, accuracy of teacher judgements, school violence Autorenhinweis: Die vorliegende Studie entstand im Rahmen eines Kooperationsprojekts zwischen der Hochschule Magdeburg-Stendal (Dr. Ludwig Bilz) und der Universität Potsdam (Prof. Dr. Wilfried Schubarth). Das Forschungsprojekt Lehrerhandeln bei Gewalt und Mobbing wurde mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt (Geschäftszeichen: BI 1046/ 6-1). Die Autorinnen und der Autor danken den anonymen Gutachterinnen bzw. Gutachtern für wertvolle Hinweise und Kommentare. Mobbing als eine Form wiederholt auftretender körperlicher, psychischer oder relationaler Gewalt unter Schülerinnen und Schülern ist ein Phänomen, das aufgrund seiner hohen Prävalenz und bedeutsamer negativer Folgen für die psychosoziale Entwicklung von Kindern schon seit langer Zeit im Fokus der Forschung steht (vgl. Olweus, 1978). Laut einer Meta-Analyse von Modecki, Minchin, Harbaugh, Guerra und Runions (2014) sind weltweit im Schnitt 35 % aller Schülerinnen und Schüler in traditionelles Mobbing und 15 % in Cyber-Mobbing involviert. Sowohl für die Opfer als auch für die Täter kann Mobbing mit schwerwiegenden Folgeerscheinungen wie Depressivität, Suizidalität Die Identifikation von an Mobbing beteiligten Schülerinnen und Schülern 123 oder psychosomatischen Symptomen einhergehen (vgl. Bilz, 2008; Gini & Pozzoli, 2009; Klomek et al., 2013). Eine zentrale Rolle bei der Eindämmung von Mobbing im schulischen Kontext spielen Lehrkräfte (vgl. Donat, Umlauft, Dalbert & Kamble, 2012). Um adäquat reagieren zu können, sollten Lehrerinnen und Lehrer in der Lage sein, relevante Situationen sowie die beteiligten Schülerinnen und Schüler zuverlässig zu identifizieren. Ausgehend von dem Modell professioneller Handlungskompetenz nach Baumert und Kunter (2006) verstehen wir unter Interventionskompetenz „das bei Lehrkräften verfügbare oder durch sie erlernbare professionelle Wissen, ihre motivationalen Orientierungen, Überzeugungen und selbstregulativen Fähigkeiten, die sie befähigen, Anforderungen in variablen Gewalt- und Mobbing-Situationen zu bewältigen“ (Bilz, Schubarth & Ulbricht, 2015, S. 101). Hierbei ist die Wahrnehmungsfähigkeit für Mobbing-Verhalten als Teil des Professionswissens von Lehrkräften anzusehen. Ausgehend von den Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie handelt es sich bei der Wahrnehmung des Schülerverhaltens durch Lehrpersonen nicht um eine passive Aufnahme externer Reize, sondern es müssen aufseiten der Lehrkräfte aktive Prozesse der selektiven Aufmerksamkeit, der Sinngebung und die Rolle von Erwartungen berücksichtigt werden. Die Lehrerforschung hat sich insbesondere mit der Bedeutung impliziter Persönlichkeitstheorien für die Wahrnehmung von Schülerinnen und Schülern durch Lehrpersonen beschäftigt. Als wichtige Beurteilungsdimensionen wurden auf der einen Seite die Arbeitshaltung (Anstrengung, Mitarbeit) und auf der anderen Seite die Begabung (Intelligenz, schulische Leistungen) der Schülerinnen und Schüler identifiziert (Hofer, 1997). Höhn (1980) zeigt auf, wie diese Beurteilungsdimensionen auch die Wahrnehmung anderer Merkmale, wie z. B. die Disziplin, prägen. Offenbar scheinen Lehrkräfte Wahrnehmungen, die ihren Verhaltenserwartungen (leistungsschwache Schülerinnen und Schüler sind auch undiszipliniert) widersprechen, eher zu ignorieren. Die wenigen existierenden Studien zur Sensitivität von Lehrpersonen bei der Identifikation von an Mobbing beteiligten Schülerinnen und Schülern stammen ausschließlich aus dem englischsprachigen Raum. Dabei werden typischerweise die folgenden drei an Mobbing beteiligten Schülergruppen unterschieden: Täter, Opfer sowie kombinierte Täter/ Opfer (manchmal auch bezeichnet als provozierende Opfer). Von der letztgenannten Gruppe gehen oftmals die schwersten Mobbinghandlungen aus und sie vereinen zugleich die negativen Eigenschaften von Tätern als auch Opfern in sich (Olweus, 2002). Methodisch handelt es sich bei diesen Studien häufig um einen Abgleich der nach Täter- und Opferrollen differenzierten Prävalenzangaben aus Schüler- und Lehrersicht. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass Lehrkräfte eine oft einseitig verzerrte Sicht vom Mobbinggeschehen an ihrer Schule haben. Demnach nehmen Lehrerinnen und Lehrer vermehrt Tätererfahrungen wahr (Ronning et al., 2009; Wienke Totura, Green, Karver & Gesten, 2009), während die Verbreitung von Opfererfahrungen bei den Schülerinnen und Schülern unterschätzt wird (Bradshaw, Sawyer & O’Brennan, 2007; Demaray, Malecki, Secord & Lyell, 2013; Ronning et al., 2009; Wienke Totura et al., 2009). Ein Großteil der von Mobbing betroffenen Kinder und Jugendlichen wird also erst gar nicht von einer Lehrkraft als Opfer identifiziert. Sie sind daher zunehmend auf sich selbst gestellt, wodurch das Risiko einer dysfunktionalen Verarbeitung der erlebten Konflikte und einer Gefährdung der weiteren Entwicklung steigt (s. o.). Dass sich die Perspektive der Lehrkräfte oft stark von derjenigen ihrer Schülerinnen und Schüler unterscheidet, wird auch deutlich, wenn Lehrereinschätzungen auf individueller Ebene mit den Schülerselbstangaben zu Täter- und Opfererfahrungen korreliert werden. Diese Analysen erlauben Aussagen über die Genauigkeit der Lehrerwahrnehmung. Generell zeigen sich hierbei eher niedrige Interrater-Übereinstimmungen (Ahn, Rodkin & Gest, 2013; Bradshaw et al., 2007; Demaray et al., 2013; Liau, Flannery & Quinn-Leering, 2004; Lohre, Lydersen, 124 Ludwig Bilz, Jette Steger, Saskia M. Fischer Paulsen, Maehle & Vatten, 2011; Monks & Smith, 2010; Ronning et al., 2009; Wienke Totura et al., 2009). Die Genauigkeit der Lehrerwahrnehmung unterscheidet sich auch in Abhängigkeit davon, ob Täter oder Opfer schulischen Mobbings identifiziert werden. Neben Studien, die vergleichbare Übereinstimmungsraten für die Täter- und Opfererkennung berichten (Ronning et al., 2009; Wienke Totura et al., 2009), lassen andere Arbeiten einen höheren Übereinstimmungsgrad zwischen Lehrer- und Schülerurteil bei Tätererfahrungen vermuten (Nuijens, Teglasi & Hancock, 2009). In der letztgenannten Studie sind die Selbst- und Fremdangaben zum Opferstatus gar nicht korreliert. Bei der Untersuchung der Akkuratheit von Lehrereinschätzungen stellt sich darüber hinaus die Frage nach relevanten Außenkriterien, anhand derer die Fremdwahrnehmung der Lehrkräfte validiert werden kann. Einige wenige Studien nutzen hierbei zusätzlich zum Selbstreport auch Angaben der Mitschülerinnen und Mitschüler. Im Ergebnis zeigt sich eine etwas höhere Übereinstimmung des Lehrerurteils mit den Mitschülerangaben (Ladd & Kochenderfer- Ladd, 2002; Leff, Kupersmidt, Patterson & Power, 1999; Monks & Smith, 2010). Verschiedene Fremdbeurteilungen scheinen also häufig eher kongruent zu sein, als dies beim Vergleich mit Selbsteinschätzungen der Fall ist. Obwohl die zusätzliche Betrachtung von Mitschülerberichten eine umfassendere Beschreibung der verschiedenen Sichtweisen zum schulischen Gewalterleben erlaubt, darf die Bedeutung der Schülerselbstberichte nicht unterschätzt werden. Denn gerade die subjektive Wahrnehmung und Bewertung von Mobbingerfahrungen dürfte eine zentrale Rolle bei der Entwicklung dysfunktionaler Erlebens- und Verhaltensmuster spielen. Für die Prüfung der Zuverlässigkeit der Wahrnehmung von Lehrerinnen und Lehrern im Bereich Mobbing ist weiterhin relevant, spezifisch wirksame Einflussfaktoren zu bestimmen, die den Zusammenhang zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung moderieren. Es ist davon auszugehen, dass hierbei die Art der beobachteten Gewalt sowie der Gewaltbegriff der Lehrkräfte eine wichtige Rolle spielen. So zeigte sich in einer Befragung von Lehrpersonen ein hohes Einverständnis, physische Angriffe, verbale Bedrohungen und Erpressungen als Gewalt anzusehen. Jedoch war diese Zustimmungsrate bei psychischen Gewaltformen deutlich niedriger und schrumpfte bei sozialer Ausgrenzung auf unter 50 % der Lehrkräfte, die dies als Gewalt ansahen (Boulton, 1997). Lehrerinnen und Lehrer, die relationale Gewalt nicht als solche beurteilen, werden sie vermutlich seltener im Schulalltag wahrnehmen und auch seltener intervenieren. Als weiterer Moderator auf Lehrkraftseite kommt die Selbstwirksamkeitsüberzeugung in Betracht. Die eigene Erwartung, erfolgreich bei Mobbing intervenieren zu können, ist ein wichtiger Prädiktor beim Eingreifen in Mobbing- Situationen mit relationaler Gewalt (Dedousis- Wallace, Shute, Varlow, Murrihy & Kidman, 2013) und vermittelt zwischen der Wahrnehmung von Mobbing-Situationen und der Intervention durch Lehrkräfte (Novick & Isaacs, 2010). Bisher wurde die Selbstwirksamkeitserwartung von Lehrkräften nicht im Zusammenhang mit der Identifikation von an Mobbing beteiligten Schülerinnen und Schülern untersucht. Vor dem Hintergrund der o. g. Befunde erwarten wir, dass eine hohe Ausprägung der Selbstwirksamkeit mit einer höheren Genauigkeit von Lehrereinschätzungen zum Mobbing- Verhalten einhergeht. Weitere Moderator-Effekte sind für das Ausmaß an Aggressivität der Schülerinnen und Schüler, die Zurückweisung durch Mitschülerinnen bzw. Mitschüler und Lernprobleme zu erwarten. In vorherigen Studien gelang Lehrpersonen die Identifikation von Tätern, die Drohverhalten anwenden, besser bei wenig aggressiven sowie wenig zurückgewiesenen Schülerinnen und Schülern (Liau et al., 2004). Wird die Lehrerwahrnehmung getrennt für den Opfer- und Täterstatus betrachtet, zeigt sich darüber hinaus, dass Tätererfahrungen eher bei lernschwächeren Schülerinnen und Schülern erkannt werden (Wienke Totura et al., 2009). Die Identifikation von an Mobbing beteiligten Schülerinnen und Schülern 125 Die Vorhersagegenauigkeit wird ferner durch die Schulstufe moderiert (bessere Übereinstimmung an Primarim Vergleich zu Sekundarschulen), wohingegen Schüler- und Lehrergeschlecht sowie die Berufserfahrung keine relevanten Moderatoren zu sein scheinen (Leff et al., 1999). Auf nationaler Ebene liegen unseres Wissens noch keine empirischen Befunde zur Wahrnehmung an Mobbing beteiligter Schülerinnen und Schüler vor. Jenseits der diagnostischen Kompetenz von Lehrpersonen im Bereich der Schülerleistungen (vgl. z. B. Klug, Bruder, Kelava, Spiel & Schmitz, 2013) gibt es einige wenige Studien zur Einschätzung nichtleistungsbezogener Schülermerkmale wie Motivation, Interesse, Leistungsängstlichkeit, psychische Auffälligkeit oder Fähigkeitsselbstkonzept. Diese berichten von eher schwachen Zusammenhängen zwischen Lehrerurteil und Schülerselbsteinschätzung (Bilz, 2014; Spinath, 2005), wobei sich Lehrkräfte in ihrem Urteil v. a. am Leistungsstatus zu orientieren scheinen (vgl. Schrader, 2006). Zusammenfassend kann auf der Grundlage weniger internationaler Studien von einer geringen Vorhersagegenauigkeit des Lehrerurteils bei Schüler-Mobbing ausgegangen werden. Lehrkräfte überschätzen vermutlich das Täterverhalten und nehmen weniger opferbezogene Erfahrungen wahr. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass ihnen die Identifikation von Tätern besser gelingt als die Benennung der Opfer. Ihr Urteil dürfte darüber hinaus genauer bei jüngeren im Vergleich zu älteren Schülerinnen und Schülern sein. Keinerlei Befunde liegen über die differenzielle Genauigkeit der Lehrerurteile für unterschiedliche Mobbingformen vor. Auf der Grundlage der Erkenntnisse über stärker negative Auswirkungen von relationalem Mobbing auf die Entwicklung von Opfern (vgl. z. B. Baldry & Winkel, 2004) stellt sich hier die Frage, wie derartige Mobbingformen im Vergleich mit offeneren, direkteren Formen im Schulalltag wahrgenommen werden. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, die Genauigkeit der Wahrnehmung schulischen Mobbings bei deutschen Lehrkräften zu untersuchen und Moderatoren des Zusammenhangs zwischen Lehrer- und Schülereinschätzung zu identifizieren. Wir wollen die Güte des Lehrerurteils zu Schüler-Mobbing als wichtigen Bestandteil der Interventionskompetenz erstmals an einer deutschen Stichprobe überprüfen und hierbei die Selbstangaben der Schülerinnen und Schüler als Kriterium heranziehen. Untersucht werden zwei der drei von Schrader und Helmke (1987) beschriebenen Komponenten des Lehrerurteils. Zum einen wollen wir die Niveaukomponente als Maß der mittleren Tendenz zur Überbzw. Unterschätzung von Täter- und Opfererfahrungen ergründen. Zum anderen soll die Vergleichskomponente als Genauigkeitsmaß der Lehrerangaben bei der Identifikation des Täter- und Opferstatus bei unterschiedlichen Mobbingformen analysiert werden. Wir vermuten, dass Lehrkräfte die Prävalenz des Täterstatus eher überschätzen und die des Opferstatus unterschätzen (Hypothese 1). Mit Blick auf die Genauigkeit des Lehrerurteils zur Involviertheit einzelner Schülerinnen und Schüler erwarten wir generell eine geringe Übereinstimmung zwischen Lehrerurteil und den von den Schülerinnen und Schülern selbst berichteten Mobbingerfahrungen. Hierbei dürfte die Urteilsgüte beim Täterstatus höher ausfallen als beim Opferstatus (Hypothese 2). Darüber hinaus sollen Moderatoren dieses Zusammenhangs auf ihre Wirksamkeit hin untersucht werden. Auf Schülerseite wollen wir den Einfluss des Leistungsstatus und der Art des selbstberichteten Mobbings überprüfen. Aufgrund der starken Ausrichtung der Lehrerwahrnehmung auf leistungsbezogene Aspekte der Schülerpersönlichkeit (s. o.) erwarten wir bei der Wahrnehmung des Täterstatus eine höhere Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdbericht bei leistungsschwächeren verglichen mit leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern. Bisher nicht untersucht wurde der Einfluss der Mobbingart auf die Lehrerwahrnehmung. Angesichts der höheren Sichtbarkeit direkter Mobbingformen (z. B. mit körperlicher und verbaler Gewalt) und einer höheren Bereitschaft von 126 Ludwig Bilz, Jette Steger, Saskia M. Fischer Lehrkräften, diese auch als Gewalt zu definieren (s. o.), erwarten wir bei diesen ein genaueres Lehrerurteil im Vergleich zu indirekten Formen (z. B. soziale Ausgrenzung oder Cyber-Mobbing) des Mobbings (Hypothese 3). Auf Lehrerseite soll der Einfluss des Gewaltverständnisses, der Einstellungen zu Mobbing, der Empathie für die Opfer sowie der Selbstwirksamkeit im Umgang mit Gewalt und Mobbing betrachtet werden. Angesichts der Bedeutung von Einstellungen für die Wahrnehmung gehen wir von einem genaueren Urteil bei Lehrkräften aus, die über ein weiter gefasstes Verständnis von Gewalt verfügen. Ebenso erwarten wir eine höhere Vorhersagegenauigkeit bei Lehrpersonen mit stärker ablehnenden Einstellungen gegenüber Mobbing und Mobbing-Tätern, mit stärkerer Empathie für die Opfer und mit einer höheren Selbstwirksamkeit im Sinne einer individuellen Überzeugung, in schulischen Mobbing-Situationen kompetent reagieren zu können (Hypothese 4). Mit Blick auf das schulische Umfeld erwarten wir höhere Übereinstimmungen zwischen selbstberichteten Mobbingerfahrungen und Lehrerurteil an Förder- und Oberschulen als an Gymnasien (Hypothese 5). Da Mobbing an den erstgenannten Schulformen verbreiteter ist (vgl. Klewin & Tillmann, 2006), verfügen dortige Lehrkräfte vermutlich über mehr Erfahrungen im Umgang mit und in der Identifikation von Tätern und Opfern. Methode Stichprobe und Datenerhebung Im Rahmen der Studie Lehrerhandeln bei Gewalt und Mobbing (Bilz et al., 2015) wurden von Juni bis Oktober 2014 schriftliche Befragungen an 24 sächsischen Schulen (7 Gymnasien, 13 Oberschulen und 4 Förderschulen) durchgeführt. Insgesamt nahmen 2071 Schülerinnen und Schüler (48,7 % weiblich) der Klassenstufen 6 und 8 sowie ihre 93 Klassenlehrerinnen und -lehrer (81,7 % weiblich) an der Studie teil. Die Rücklaufquoten betrugen für die Schülerinnen und Schüler 78,1 % und für die Lehrkräfte 80,9 %. Bei Erreichen einer Mindest-Rücklaufquote der Lehrerbefragung pro Schule erhielten die Schulen eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 250 Euro. Die befragten Klassenleiterinnen und -leiter unterrichteten ihre Klassen seit durchschnittlich 2,6 Schuljahren (SD = 1.3) und sind zwischen 29 und 63 Jahren alt (M = 52.8, SD = 6.0). Die Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die verschiedenen Schulformen in der Stichprobe (Gymnasium, Oberschule, Förderschule) entspricht der Verteilung in der Grund-gesamtheit. Die Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern wurden vorab über die Ziele der Studie informiert und um ihr Einverständnis gebeten. Die Befragung erfolgte anonym, wurde von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Forschungsgruppe in den Schulklassen durchgeführt und dauerte maximal eine Unterrichtsstunde. Die Lehrkräfte erhielten einen separaten Fragebogen, den sie entweder parallel mit den Schülerinnen und Schülern bearbeiteten oder - falls sie nicht anwesend waren - in einem verschlossenen Umschlag übergaben. Mithilfe eines Codierverfahrens wurden Lehrerangaben zu einzelnen Schülerinnen und Schülern mit den Schülerdaten verknüpft, ohne dass hierbei die Namen der Befragten erfasst werden mussten. Von den insgesamt 2071 Schülerangaben gelang für n = 1401 Schülerinnen und Schüler eine Verknüpfung der Selbstberichte mit den Fremdberichten von n = 85 Klassenleiterinnen und -leitern. Diese Schüler-Substichprobe unterscheidet sich nicht signifikant von der Gesamtstichprobe hinsichtlich Geschlecht ( χ 2 = 0.65, df = 1, p = .420), Alter (t = 1.33, df = 2069, p = .184) und dem berichteten Ausmaß an Erfahrungen als Mobbing-Täter (t = 1.57, df = 1994, p = .117) oder Mobbing-Opfer (t = 0.12, df = 1938, p = .903). Die Verknüpfung gelang jedoch signifikant häufiger ( χ 2 =28.01, df=2, p <.001) für Schülerinnen und Schüler an Förderschulen (88,6%) verglichen mit Oberschülerinnen und -schülern (67,6%) sowie Gymnasiastinnen und Gymnasiasten (64,8%). Der Anteil der Förderschülerinnen und -schüler in der Substichprobe beträgt 7,8%. Messinstrumente Selbstberichtete Mobbingerfahrungen und Art des Mobbings Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler als Opfer oder Täter von Mobbing wurden mit dem Revised Olweus Bully/ Victim Questionnaire (OBVQ) erhoben Die Identifikation von an Mobbing beteiligten Schülerinnen und Schülern 127 (Olweus, 1996). Dieser erfragt nach einer kurzen, altersgemäß formulierten Erläuterung des Mobbing- Konzepts mit je einem Item die allgemeine Häufigkeit des Mobbings in den letzten Monaten aus Täter- und Opfersicht. Schülerinnen und Schüler werden dann als Opfer bzw. als Täter betrachtet, wenn Häufigkeiten von mindestens zwei bis dreimal im Monat angegeben wurden. Schülerinnen und Schüler, die sowohl Opferals auch Tätererfahrungen in diesem Ausmaß berichten, werden als kombinierte Täter/ Opfer gewertet. Zusätzlich werden mit je neun Items spezifische Mobbingerfahrungen aus Opferbzw. Täterperspektive erfragt (z. B. Ich wurde beschimpft, man hat sich über mich lustig gemacht und ich wurde in gemeiner Weise gehänselt, Antwortskala von 1 = Das ist in den letzten Monaten nicht passiert bis 5 = mehrmals pro Woche). Die interne Konsistenz der Skala zu Tätererfahrungen beträgt Cronbachs α = .77, die der Skala zu Opfererfahrungen α = .75. Weiterhin werden beide Skalen in Subskalen zu direkter und indirekter Gewalt unterteilt. Dies erfolgt theoriegeleitet, da eine empirische Extraktion zu keinem interpretierbaren und mit anderen Studien vergleichbaren Ergebnis führt. Zwar können durch Hauptachsenanalyse sowohl nach dem Kaiser- Kriterium als auch nach der Parallelanalyse nach Horn (1965) jeweils zwei Faktoren aus den Daten extrahiert werden (Täterskala: Eigenwert F1 = 3.66, Eigenwert F2 = 1.11; Opferskala: Eigenwert F1 = 3.10, Eigenwert F2 = 1.19); die nach einer Varimax-Rotation (Einfachstrukturkriterium) resultierenden Ladungen der Items lassen sich jedoch inhaltlich nicht sinnvoll interpretieren. Die theoriegeleitete Extraktion der Subskalen erfolgt in Anlehnung an Archer und Coyne (2005). Hierbei fassen wir verbale und physische Aggressionen als direktes Mobbing zusammen. Indirektes Mobbing (auch als relationales oder soziales Mobbing bezeichnet) schließt im Gegensatz dazu alle Gewaltarten ein, die die Instrumentalisierung anderer Personen, das Verbreiten von Gerüchten sowie sozialen Ausschluss und Ignorieren umfassen (Archer & Coyne, 2005). Das in der revidierten Form des OBVQ enthaltene Item zum durch Handy oder Internet vermittelten Mobbing (Cyber-Mobbing) wird dem indirekten Mobbing zugeordnet, da Cyber-Mobbing nicht mit direkten Face-to-Face- Interaktionen zwischen Täter(n) und Opfer(n) einhergeht. Die Subskalen zu direkten Mobbingerfahrungen enthalten demnach jeweils aus Täter- und Opferperspektive sechs Items (Beschimpfen, Schlagen, Diebstahl, Zwang, Beschimpfungen aufgrund der Nationalität, Mobbing mit sexuellem Hintergrund; Täter: α = .68; Opfer: α = .62). Indirekte Mobbingerfahrungen werden durch drei Items (Nicht beachten, Lügen und Gerüchte verbreiten, Mobbing über Handy oder Internet; Täter: α = .49; Opfer: α = .67) erfasst. Lehrerurteil zu Mobbingerfahrungen Die Lehrkräfte sollten für jede Schülerin und jeden Schüler ihrer Klasse einschätzen, wie häufig diese Erfahrungen als Täter bzw. Opfer von Mobbing machen. Die Antwortskala erfasst wie im Schüler-Fragebogen Häufigkeiten; die einzelnen Kategorien sind jedoch allgemeiner formuliert (von 1 = nie bis 5 = immer). Analog zum Schülerselbstbericht werden hierbei die Ratings gelegentlich, oft und immer im Sinne einer Nominierung als Opfer bzw. Täter gewertet. Die Gruppe der kombinierten Täter/ Opfer wird durch Schülerinnen und Schüler mit sowohl Täterals auch Opfernominierungen repräsentiert. Leistungsstatus Als Indikator für die schulischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler wurden die selbstberichteten letzten Zeugnisnoten in den Fächern Deutsch sowie Mathematik erhoben und für jede Schülerin und jeden Schüler die Durchschnittsnote gebildet. Empathie der Lehrkräfte Zur Erhebung der subjektiven Fähigkeit, sich in Opfer schulischen Mobbings einzufühlen, wurde eine 3-Item-Skala des Münchner Zivilcourage-Instruments von Kastenmüller, Greitemeyer, Fischer und Frey (2007) eingesetzt (z. B. Ich kann innerlich gut nachvollziehen, wie es Menschen geht, die ungerecht behandelt werden, α = .88). Die vierstufige Antwortskala reicht von 1 = trifft gar nicht zu bis 4 = trifft voll zu. Selbstwirksamkeit der Lehrkräfte im Umgang mit Gewalt und Mobbing Bereichsspezifische Erwartungen in Bezug auf eigene Kompetenzen für den Umgang mit Gewalt und Mobbing und ihre Effektivität wurden mit fünf Items erhoben (z. B. Ich traue mir zu, Gewalt und 128 Ludwig Bilz, Jette Steger, Saskia M. Fischer Mobbing zwischen Schülern zu beenden, Antwortskala von 1 = stimmt nicht bis 4 = stimmt genau). Die postulierte Ein-Faktor-Lösung wird durch eine Hauptachsenanalyse und Parallelanalyse nach Horn (1965) bestätigt (Eigenwert = 2.86; Varianzaufklärung durch den Faktor 57,19 %). Die Itemladungen auf den Faktor liegen zwischen .48 und .86. Die interne Konsistenz der Skala beträgt Cronbachs α = .81. Bei den folgenden drei Skalen handelt es sich um deutsche Übersetzungen der Skalen von Boulton (1997). Die englischen Original-Items wurden in einem iterativen Übersetzungs-/ Rückübersetzungsverfahren ins Deutsche übertragen. Gewaltbegriff der Lehrkräfte Die Lehrerinnen und Lehrer beurteilten für neun beispielhafte Verhaltensweisen (z. B. Beschimpfen oder Menschen ausschließen), inwiefern es sich aus ihrer Sicht um Gewalt handelt. Sie schätzten dies auf einer fünfstufigen Antwortskala von 1 = überhaupt nicht zutreffend (ist keine Gewalt) bis 5 = sehr zutreffend (ist Gewalt) ein. Aufgrund geringer Varianz wurde ein Item (Schlagen, Stoßen und Treten) nicht in die Bildung der Skala einbezogen. Die interne Konsistenz der verbleibenden 8-Item-Skala beträgt Cronbachs α = .85. Hohe Werte stehen für einen breiteren Gewaltbegriff. Einstellung der Lehrkräfte zu Mobbing Eine befürwortende Haltung von Lehrkräften gegenüber dem Phänomen Mobbing wurde mit drei Items gemessen (z. B. Mobbing hilft, den Charakter von Schülern zu formen, fünfstufige Antwortskala von 1 = überhaupt nicht zutreffend bis 5 = sehr zutreffend, α = .65). Einstellung der Lehrkräfte zu Mobbing-Tätern Drei Items erfassen ablehnende Einstellungen von Lehrkräften gegenüber Mobbing-Tätern (z. B. Einmal ein Mobbing-Täter, immer ein Mobbing-Täter; Mobbing-Täter haben Gefallen daran, andere Leute zu kränken, fünfstufige Antwortskala von 1 = überhaupt nicht zutreffend bis 5 = sehr zutreffend, α = .58.). Nach Umkodierung der Items repräsentieren dabei hohe Ausprägungen der Skala weniger ablehnende Einstellungen gegenüber Tätern. Ergebnisse Zur Überprüfung der Überbzw. Unterschätzung von Täter- und Opfererfahrungen durch Lehrkräfte (Niveaukomponente nach Schrader & Helmke, 1987; Hypothese 1) werden die dichotomisierten Schüler- und Lehrerurteile betrachtet. Die prozentualen Verteilungen des selbst- und fremdberichteten Täter-, Opfer- und Täter/ Opfer-Status sowie ihre Differenzen (Lehrerinnen bzw. Lehrer minus Schülerinnen bzw. Schüler) werden zunächst klassenweise bestimmt. Ein positiver Differenzwert steht hierbei für eine Überschätzung der selbstberichteten Täter-/ Opferprävalenz in der jeweiligen Klasse durch die Lehrkraft, während ein negativer Wert eine Unterschätzung repräsentiert. Diese Berechnungen werden für alle Klassen bzw. Klassenlehrkräfte durchgeführt, für die mindestens fünf korrespondierende Schüler- und Lehrereinschätzungen (2 SD unter dem Mittelwert) vorliegen. Tabelle 1 berichtet die mittleren Differenzen, die Prozentränge der Differenzwerte und informiert zusätzlich über die Prävalenzen im Selbst- und Fremdbericht auf Individualebene. Der Mittelwert aller Differenzwerte liegt für die Tätererfahrungen bei M = 6.7. Demzufolge wird die Prävalenz des Täterstatus von den Lehrkräften leicht überschätzt. Im Schnitt nominieren sie 6,7 % mehr Mobbing-Täter als dies die Schülerinnen und Schüler im Selbstbericht tun. Bei den Opfererfahrungen beträgt die mittlere Differenz M = 4.6, d. h. es besteht eine geringfügige Überschätzung durch die Lehrkräfte von im Schnitt 4,6 %. Die Prävalenzen aus dem Selbst- und Fremdbericht liegen demnach für den Opferstatus etwas näher zusammen als für Tätererfahrungen, wobei diese Differenz keine statistische Signifikanz erreicht (t = 0.99, df = 73, p = .326). Auch der Anteil der kombinierten Täter/ Opfer wird leicht überschätzt (M = 3.6), wobei an dieser Stelle die geringe Gesamtprävalenz kombinierter Täter/ Opfer- Erfahrungen (1,7 %) im Selbstbericht berücksichtigt werden muss. Alle drei Differenzwerte sind signifikant von Null verschieden (Tätersta- Die Identifikation von an Mobbing beteiligten Schülerinnen und Schülern 129 tus: t = 3.95, df = 73, p < .001; Opferstatus: t = 3.27, df = 73, p = .002; Täter/ Opferstatus: t = 3.93, df = 73, p < .001). Die Prozentränge zeigen zudem, dass die mittlere Differenz zwischen Lehrkraft- und Schülereinschätzungen bei kombinierten Täter/ Opfer-Erfahrungen v. a. auf positive Ausreißerwerte zurückzuführen ist. Im Bereich zwischen dem 25 %-Perzentil und dem 50 %- Perzentil gibt es viele Klassen, in denen die Häufigkeitsangaben aus Lehrer- und Schülersicht übereinstimmen. Die Genauigkeit der Lehrereinschätzungen hinsichtlich individueller, selbstberichteter Opfer- und Tätererfahrungen einzelner Schülerinnen und Schüler (Hypothese 2) wird klassenweise mittels Rangkorrelationen (Spearmans ρ ) geprüft. Auf Schülerseite werden die Summenwerte der Mehr-Item-Skalen nach Olweus (1996) verwendet, auf Lehrkraftseite alle fünf Antwortkategorien des Lehrerurteils zu Täterbzw. Opfererfahrungen. Rangkorrelationen werden wiederum nur für jene Klassen berechnet, für die mindestens fünf korrespondierende Schüler- und Lehrerurteile vorliegen. Um Unterschiede in der Genauigkeit des Lehrerurteils bei Opfer- und Tätereinschätzungen auf Signifikanz zu testen, werden (nach Fisher-z-Transformation) Korrelationsmittelwerte und die entsprechenden Konfidenzintervalle berechnet. Der Median (Md ) der Rangkorrelationen zwischen Schüler- und Lehrereinschätzung bei den Tätererfahrungen beträgt Md r = .25, bei den Opfererfahrungen Md r = .27. Werden die nach Fisher-z-Transformation berechneten mittleren Korrelationen wieder rücktransformiert, so resultieren für die Genauigkeit der Täterwahrnehmung folgende Werte: r = .25 (95 %-Konfidenzintervall [KI]: .18 bis .33), und für die Opferwahrnehmung: r = .28 (95 %-KI: .20 bis .35). Es zeigen sich keine Unterschiede zwischen der Genauigkeit des Lehrerurteils bei der Erkennung des Täter- und des Opferstatus von Schülerinnen und Schülern (z = 0.19, p = .848; Signifikanzprüfung nach Steiger, 1980). Die Ähnlichkeit von Mittelwerten und Medianen verweist außerdem darauf, dass keine Verfälschung der Ergebnisse durch Ausreißer vorliegt. Werden die mittleren Korrelationen einer (einseitigen) Minderungskorrektur unterzogen, resultiert für die Täterwahrnehmung r Att = .28 und für die Opferwahrnehmung r Att = .32. Diese Werte stehen nach Cohen (1988) für einen schwachen bis mittleren Effekt. Korreliert man die Schüler- und Lehrereinschätzungen zu Opfer- und Tätererfahrungen über alle vorliegenden Angaben hinweg (ohne Beachtung der Klassenebene und unter Einbezug aller Daten), ergeben sich leicht geringere Zusammenhänge (Tätererfahrungen: r = .21, p < .001, r Att = .24; Opfererfahrungen: r = .23, p < .001, r Att = .27). Prävalenz (%) (aufIndividualebene) Differenz (klassenweise, Lehrerurteil minus Selbstbericht, n = 74) Selbstbericht (n = 2002) Lehrerurteil (n = 1340) M Prozentränge 0 25 50 75 100 Mobbing-Täter Mobbing-Opfer Mobbing-Täter/ Opfer 7.5 9.7 1.7 15.4 13.6 5.6 6.7 4.6 3.6 -22.2 -16.7 -15.4 -4.7 -4.6 0.0 6.7 2.2 0.0 16.9 11.5 8.2 42.9 36.0 28.6 Tab. 1: Prävalenzen sowie Kennwerte der Differenzmaße zur Täter-, Opfer- und Täter/ Opfer-Einschätzung für die Schüler- und Lehrerperspektive Anmerkungen: Bei den Prävalenzangaben handelt es sich um Häufigkeiten auf der Individualebene ohne Beachtung der Klassenebene. Grundlage der Differenzen sind die korrespondierenden Schüler- und Lehrerberichte aus n = 74 Klassen. Für jede Klasse wurde die Prävalenz aus Schülersicht von der Prävalenz aus Lehrersicht abgezogen. Angegeben sind die mittleren Differenzen und die Prozentränge dieser Differenzen auf Klassenebene. Positive Werte repräsentieren eine Überschätzung, negative Werte eine Unterschätzung auf Lehrerseite. 130 Ludwig Bilz, Jette Steger, Saskia M. Fischer Um den Einfluss von Moderatorvariablen auf den Zusammenhang zwischen Lehrerurteil und selbstberichteten Mobbingerfahrungen der Schülerinnen und Schüler zu untersuchen, werden mehrebenenanalytische Regressionsanalysen (Random-Intercept-Modelle mit Klassen- und Schülerebene, Software: MLWiN Version 2.31; Rasbash, Charlton, Browne, Healy & Cameron, 2009) berechnet. Als Kriteriumsvariablen dienen jeweils die selbstberichteten Mobbingerfahrungen der Schülerinnen und Schüler als Täter bzw. Opfer (grand mean centering + Standardisierung) auf Individualebene. Die Intraklassenkorrelation im Nullmodell beträgt auf Klassenebene für die Tätererfahrungen ICC(1) = .034 und für die Opfererfahrungen ICC(1) = .022 (Berechnung nach Lüdtke, Trautwein, Kunter & Baumert, 2006). Die Varianz dieser Variablen ist demnach hauptsächlich auf der Individualebene zu verorten. Im nächsten Schritt gehen neben den Kontrollvariablen Geschlecht, Klassenstufe (6 und 8) und Schulform (Gymnasium, Oberschule, Förderschule) das Lehrerurteil (dichotom für Täter und Opfer - s. o.), der Haupteffekt des jeweiligen Moderators und die Interaktion Lehrerurteil × Moderator in das Regressionsmodell ein. Hierbei fungieren die Klassenstufenzugehörigkeit und die Schulform als Merkmale auf Klassenebene. Da der Schwerpunkt dieser Analysen auf den Faktoren liegt, die Einfluss auf die Lehrerwahrnehmung nehmen, sind die Haupteffekte von sekundärem Interesse. 1 Bei den Schülermerkmalen (Hypothese 3) ergibt sich ein signifikanter Moderator-Effekt für den Leistungsstatus. Das Beta-Gewicht für den Interaktionsterm Lehrerurteil × (standardisierter) Notendurchschnitt in Deutsch und Mathematik beträgt bei der Wahrnehmung von Tätererfahrungen β = .16 (SE = .08, p = .036). Um die Natur des Interaktionseffekts zu untersuchen, wird die Stichprobe anhand der Durchschnittsnoten in drei Gruppen unterteilt (bis -1 SD, Mittelwert, ab +1 SD) und jeweils eine separate Regressionsanalyse berechnet. Die resultierenden Beta-Gewichte für das Lehrerurteil offenbaren einen U-förmigen Moderatoreffekt: β = .88 (SE = .32, p = .005), β = .32 (SE = .08, p < .001) und β = .78 (SE = .20, p < .001). Demnach ist die Übereinstimmung zwischen selbstberichtetem Täterverhalten und Lehrerurteil höher bei Schülerinnen und Schülern mit sehr guten und sehr schlechten Leistungen. Kein signifikanter Moderatoreffekt des Leistungsstatus ergibt sich bei den Opfererfahrungen. Um die Wirkung der Mobbingart auf die Genauigkeit des Lehrerurteils zu prüfen, werden die Mehrebenenanalysen mit vier verschiedenen Kriteriumsvariablen gerechnet: den Subskalen für indirekte und direkte Mobbingerfahrungen jeweils aus Täter- und Opferperspektive. Die Aufnahme von Interaktionstermen ist hierbei nicht erforderlich. Die Intraklassenkorrelationen im Nullmodell betragen auf Klassenebene für die direkten Tätererfahrungen ICC(1) = .047, für die indirekten Tätererfahrungen ICC(1) = .021, für die direkten Opfererfahrungen ICC(1) = .038 und für die indirekten Opfererfahrungen ICC(1) = .006. Die resultierenden Regressionsgewichte für das Lehrerurteil betragen bei Opfererfahrungen mit direktem Mobbing β = .53 (SE = .07, p < .001) und bei indirektem Mobbing β = .43 (SE = .07, p < .001). Bei den Tätererfahrungen mit direktem Mobbing resultiert β = .44 (SE = .07, p < .001) und bei indirektem Mobbing β = .44 (SE = .07, p < .001). Bei den Opfererfahrungen unterscheidet sich das augenscheinlich höhere Beta-Gewicht für die Lehrerwahrnehmung direkter Gewalt nicht signifikant von dem Beta- Gewicht für indirekte Gewalt (z = .96, p = .337; Signifikanzprüfung nach Paternoster, Brame, Mazerolle & Piquero, 1998). In den Analysen zu Hypothese 4 wird die Bedeutung von Lehrkraftmerkmalen (auf Klassenebene) als Moderatoren für die Genauigkeit des Lehrerurteils geprüft. Hierfür wird für jeden Moderator und getrennt für Täter- und Opfererfahrungen als Kriteriumsvariable ein 1 Ausführliche Tabellen mit den statistischen Angaben zu den Haupteffekten und den Effekten der Kontrollvariablen können bei Interesse vom Erst-Autor zur Verfügung gestellt werden. Die Identifikation von an Mobbing beteiligten Schülerinnen und Schülern 131 separates Random-Intercept-Random-Slope- Modell gerechnet, d. h. die Beta-Gewichte des Lehrerurteils werden als variable Zufallskoeffizienten betrachtet. Die Interaktionseffekte bilden folglich Cross-Level-Interaktionen zwischen einem Merkmal auf Individualebene (Lehrerurteil) und einem Merkmal auf Klassenebene (Lehrkraftmerkmal) ab. Weiterhin werden in die Modelle die Haupteffekte des Moderators, die Klassenstufe und die Schulform als Prädiktoren auf Klassenebene sowie das Geschlecht als individuelles Merkmal aufgenommen. Es ergeben sich keine signifikanten Interaktionseffekte für die auf Klassenebene standardisierten Lehrkraftmerkmale (group mean centering + Standardisierung) Breite des Gewaltbegriffs (Täterstatus: β = .05, SE = .13, p = .701; Opferstatus: β = .03, SE = .10, p = .802), Einstellung zu Mobbing (Täterstatus: β = -.11, SE = .12, p = .384; Opferstatus: β = .04, SE = .10, p = .692), Einstellung zu Mobbing-Tätern (Täterstatus: β = -.03, SE = .12, p = .812; Opferstatus: β = -.10, SE = .10, p = .288), Empathie (Täterstatus: β = .11, SE = .12, p = .355; Opferstatus: β = .04, SE = .10, p = .719) sowie Selbstwirksamkeit im Umgang mit Gewalt und Mobbing (Täterstatus: β = .03, SE = .11, p = .774; Opferstatus: β = -.01, SE = .10, p = .960). Die Bedeutung der Schulform für die Genauigkeit des Lehrerurteils (Hypothese 5) wird durch den Interaktionsterm Lehrerurteil × Schulform ebenfalls in einem Random-Intercept- Random-Slope-Modell geprüft. Diese Cross- Level-Interaktion erreicht weder bei der Wahrnehmung täterbezogener Mobbingerfahrungen (Oberschule × Lehrerurteil: β = .37, SE = .26, p = .150; Förderschule × Lehrerurteil: β = .57, SE = .41, p = .169; das Gymnasium bildet die Referenzgruppe) noch bei der Wahrnehmung opferbezogener Mobbingerfahrungen (Oberschule × Lehrerurteil: β = .02, SE = .23, p = .941; Förderschule × Lehrerurteil: β = .09, SE = .35, p = .806) statistische Signifikanz. Die Übereinstimmung zwischen Lehrerurteil und selbstberichtetem Mobbing-Verhalten unterscheidet sich demnach nicht signifikant zwischen den Schulformen. Diskussion Die Befunde dieser Studie erlauben erstmals Aussagen über die Kompetenzen deutscher Lehrkräfte bei der Wahrnehmung von Mobbing-Verhaltensweisen ihrer Schülerinnen und Schüler. Hierbei bestätigen sich einige Annahmen, die aus internationalen Forschungen abgeleitet wurden, es gibt jedoch auch deutliche Abweichungen. Die Niveaukomponente des Lehrerurteils: Über- oder Unterschätzung von Mobbing? Auch die deutschen Lehrkräfte in unserer Studie neigen zu einer Überschätzung der Zahl der Schülerinnen und Schüler, die als Mobbing- Täter in Erscheinung treten. Die Annahme, dass eine Tendenz zur Unterschätzung des Opferanteils vorliegt, bestätigt sich hingegen nicht. Hier weisen die Ergebnisse in eine andere Richtung als die internationalen Studien (vgl. Bradshaw et al., 2007; Demaray et al., 2013; Ronning et al., 2009; Wienke Totura et al., 2009). Möglicherweise hat dies mit der auch in Deutschland intensivierten Beschäftigung mit dem Thema Mobbing an Schulen zu tun. Viele Lehrkräfte wissen vermutlich, dass nicht nur vereinzelte Schülerinnen und Schüler pro Klasse betroffen sind, sondern eine Vielzahl von ihnen im Laufe ihrer Schulzeit Erfahrungen als Opfer von Mobbing machen. Auch bei den kombinierten Täter/ Opfer-Erfahrungen überschätzen die Lehrkräfte den Anteil der betroffenen Schülerinnen und Schüler in ihren Klassen. Für die meisten Pädagoginnen und Pädagogen scheint es nicht abwegig zu sein, dass Schülerinnen und Schüler gleichzeitig Erfahrungen sowohl als Täter als auch als Opfer schulischen Mobbings machen. Dass die Prävalenzen aus Schülerperspektive niedriger ausfallen als aus Lehrersicht könnte auch darauf zurückzuführen sein, dass sich der verfälschende Einfluss sozial erwünschten Antwortverhaltens eher auf die Schüler- und weniger auf die Lehrerangaben ausgewirkt hat. So 132 Ludwig Bilz, Jette Steger, Saskia M. Fischer könnte es den Schülerinnen und Schülern schwer gefallen sein, Auskunft über die eigene Beteiligung am Mobbinggeschehen zu geben. Auch Unterschiede im Gewaltverständnis zwischen Lehrkräften und Lernenden könnten an dieser Stelle eine Rolle gespielt haben. Die Genauigkeit des Lehrerurteils bei der Identifizierung von Tätern und Opfern schulischen Mobbings Werden Lehrkräfte gebeten, konkret diejenigen Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse zu benennen, die ihrer Meinung nach Erfahrungen als Opfer oder Täter machen, erweist sich ihr Urteil als wenig genau. Die mittleren Korrelationen mit den Schülerselbstberichten fallen mit r = .28 (Täter) bzw. r = .32 (Opfer) niedrig aus und zeigen, dass auch deutsche Lehrkräfte Schwierigkeiten haben, Mobbing-Täter und -Opfer in ihren Klassen zu identifizieren. Dieser Befund fügt sich in das bestehende Bild der internationalen Forschung ein (vgl. Ahn et al., 2013; Bradshaw et al., 2007; Demaray et al., 2013; Liau et al., 2004; Lohre et al., 2011; Monks & Smith, 2010; Ronning et al., 2009; Wienke Totura et al., 2009). Zur Einordnung dieser Werte sei darauf verwiesen, dass Lehrereinschätzungen im Leistungsbereich sehr viel genauer ausfallen (r = .66 für die Einstufung von Schülerinnen und Schülern hinsichtlich ihrer Ergebnisse in standardisierten Leistungstests laut einer Metaanalyse von Hoge & Coladarci, 1989). Nicht bestätigt hat sich die Vermutung, dass der Täterstatus genauer erkannt wird als der Opferstatus. Hierbei muss allerdings die generell niedrige Genauigkeit des Lehrerurteils berücksichtigt werden. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Gefährdungen von Schülerinnen und Schülern durch schulisches Mobbing von Lehrkräften häufig nicht bemerkt werden. Die Analyse potenzieller Moderatoren der Urteilsgüte kann Hinweise darauf geben, welche Faktoren möglicherweise für diese geringe Übereinstimmung zwischen Lehrkrafturteil und Schülerselbstbericht verantwortlich sind. In der vorliegenden Studie hat sich nur einer der untersuchten Moderatoren - der Leistungsstatus der Schülerinnen und Schüler - als relevant erwiesen. Erwartungsgemäß gelingt es Lehrkräften bei Lernenden im mittleren Leistungsbereich weniger gut, Mobbing-Täter zu benennen. Allerdings finden sich die höchsten Übereinstimmungen zwischen Lehrerurteil und Selbstbericht nicht allein bei den leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern, sondern auch bei den leistungsstarken. Ein Ignorieren von Beobachtungen, die gängigen Verhaltenserwartungen widersprechen - so wie Höhn (1980) es beschreibt -, zeigt sich in unseren Daten bzgl. dieses Schülermerkmals nicht in dieser Deutlichkeit. Auch dies könnte eine Folge der größer gewordenen Aufmerksamkeit für das Thema Mobbing an Schulen sein, was möglicherweise zum Abbau stereotyper Vorstellungen (nur leistungsschwache Schüler mobben) beigetragen hat. Was dieser Befund aber ganz klar aufzeigt, ist die starke Ausrichtung der Lehrerwahrnehmung auf leistungsbezogene Schülermerkmale (vgl. Schrader, 2006; Spinath, 2005), wodurch offenbar der Blick auf andere Aspekte der Schülerpersönlichkeit verstellt wird. Die Wahrnehmung direkter vs. indirekter Mobbing-Verhaltensweisen gelingt Lehrkräften gleich gut bzw. gleich schlecht. Dass sich die hier vermutete Differenz zugunsten des direkten Mobbings in unseren Daten nicht zeigt, könnte mit der auf Personenebene hohen Korrelation beider Gewaltformen zu tun haben (direkte/ indirekte Tätererfahrungen: r = .64, p < .001; direkte/ indirekte Opfererfahrungen: r = .54, p < .001). Schülerinnen und Schüler, die an Mobbing beteiligt sind, verüben bzw. erfahren meist direkte und indirekte Gewalt gleichzeitig. Denkbar wäre aber auch hier, dass eine insgesamt gestiegene Aufmerksamkeit für das Thema Mobbing zu einer Verbreiterung des Gewaltbegriffs von Lehrerinnen und Lehrern beigetragen hat. Immer mehr von ihnen wissen vermutlich, dass indirekte Gewaltformen (z. B. soziale Ausgrenzung) beim Schüler-Mobbing eine wichtige Rolle spielen und mit besonders negativen Die Identifikation von an Mobbing beteiligten Schülerinnen und Schülern 133 Folgen für die Opfer einhergehen können (vgl. Forero, McLellan, Rissel & Bauman, 1999). Auch die Überzeugungen der Lehrkräfte scheinen für die Genauigkeit des Lehrerurteils ohne Bedeutung zu sein. Unsere Annahme, dass empathische Lehrkräfte mit einem breiten Gewaltbegriff, einer hohen Selbstwirksamkeitsüberzeugung und einer ablehnenden Haltung gegenüber Mobbing besser darin sind, Opfer und Täter zu identifizieren, hat sich nicht bestätigt. Gegenstand zukünftiger Forschungen könnte die Rolle der Lehrer-Schüler-Beziehung für die Akkuratheit der Lehrerurteile bei Mobbing sein. Ebenfalls nicht bestätigt hat sich die Hypothese, dass sich die Wahrnehmungskompetenzen der Lehrkräfte zwischen den Schulformen unterscheiden. Zwar zeigen sich wie erwartet bei der Identifizierung der Mobbing-Täter in der Tendenz die höchsten Übereinstimmungswerte bei den Lehrkräften an Förderschulen, gefolgt von den Lehrkräften an Oberschulen und den Gymnasiallehrkräften; diese Unterschiede erreichen jedoch keine statistische Signifikanz. Hierfür dürfte u. a. die geringe Anzahl befragter Lehrkräfte an den einzelnen Schulformen (insbesondere an den Förderschulen) verantwortlich sein. Limitationen Die Aussagekraft dieser Studie wird dadurch begrenzt, dass nur ein Teil des komplexen Rollengefüges beim schulischen Mobbing (vgl. Monks & Smith, 2010) erfasst wurde. Bei der Erfassung von Verhaltensweisen, die z. B. die billigende Verstärkung des Geschehens durch nicht direkt beteiligte Zuschauer umfassen, stoßen quantitative Erhebungsmethoden an ihre Grenzen. Mit der hier erhobenen Opfer- und Täterperspektive haben wir jedoch diejenigen Rollen in den Blick genommen, die unter dem Gesichtspunkt kompetenten Lehrerhandelns bei Mobbing im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen sollten (vgl. Bilz et al., 2015). Bei der Erfassung der Mobbingerfahrungen aus Selbst- und Fremdsicht haben wir unterschiedliche Antwortkategorien vorgegeben, was die Vergleichbarkeit beeinflusst haben könnte. Während die Schülerinnen und Schüler die sehr konkreten Antwortkategorien des OBVQ verwendeten (z. B. einmal pro Woche), haben die Lehrkräfte ihre Einschätzungen mit einem geringeren Auflösungsgrad abgegeben (z. B. selten). Da die Angaben auf der gleichen Dimension (Häufigkeiten) erfolgten, sehen wir die Vergleichbarkeit der Angaben von Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern in hinreichendem Maße als gegeben an. Die Aufteilung des Revised Olweus Bully/ Victim Questionnaire in zwei Subskalen zu direktem und indirektem Mobbing erfolgte theoriegeleitet, da eine empirische Extraktion nicht gelang. Dieses Vorgehen könnte für die niedrige Reliabilität der Subskalen verantwortlich sein, insondere bei den täterbezogenen indirekten Mobbingerfahrungen. Es stellt sich die Frage, aus welchem Grund eine empirische Extraktion von Subskalen nicht gelang und somit Ergebnisse wie jene von Kyriakides, Kaloyirou und Lindsay (2006) empirisch nicht repliziert werden konnten. Bei der Abfrage der Zeugnisnoten waren wir auf die Selbstberichte der Schülerinnen und Schüler angewiesen. Auch wenn diese hoch mit den erhaltenen Zeugnisnoten korrelieren (vgl. Sparfeldt, Buch, Rost & Lehmann, 2008), können mögliche Verzerrungen nicht ausgeschlossen werden. Weitere Einschränkungen ergeben sich aufgrund der niedrigen Reliabilität einzelner Skalen (insbesondere beim indirekten Mobbing aus Täterperspektive und den Einstellungen der Lehrkräfte zu Mobbing-Tätern), was sich insbesondere auf die Prüfung der Moderatoren und die Interaktionseffekte ausgewirkt haben dürfte. Da uns die Verknüpfung von Lehrer- und Schülerdaten an den Förderschulen häufiger gelang als an den Oberschulen und Gymnasien, sind die Förderschülerinnen und -schüler in der untersuchten Substichprobe leicht überrepräsentiert (7,8 % in der Substichprobe; 5,9 % in der Gesamtstichprobe). 134 Ludwig Bilz, Jette Steger, Saskia M. Fischer Implikationen für die schulische Praxis Aus dieser Studie ergeben sich wichtige Implikationen für die schulische Praxis sowie die Lehreraus- und -fortbildung. Lehrkräfte dürfen sich beim Thema Mobbing nicht darauf verlassen, dass sie Gefährdungen ihrer Schülerinnen und Schüler von allein bemerken. Die geringe Genauigkeit des Lehrerurteils lässt uns für ein proaktives Vorgehen der Lehrkräfte plädieren. Hierzu können schriftliche Befragungen gehören, wie sie z. B. Olweus (2002) als Teil seines Interventionsprogramms empfiehlt. Auch eine offene, vertrauensvolle Lehrer-Schüler-Beziehung und eine Thematisierung von Mobbing im Unterricht kann es Mobbing-Opfern leichter machen, sich Lehrerinnen und Lehrern gegenüber zu offenbaren. Einige Ergebnisse lassen sich als Anzeichen für eine zunehmende Sensibilisierung der deutschen Lehrerschaft für das Thema Mobbing interpretieren. Hierzu gehört, dass der Anteil der Opfer und auch der Täter/ Opfer in den Klassen von den meisten Lehrkräften nicht unterschätzt wird. Obwohl ihnen die individuelle Identifizierung der Opfer dann deutlich schwerer fällt, spricht dieser Befund nicht dafür, dass Schüler-Mobbing an deutschen Schulen verharmlost wird. In diese Richtung lässt sich auch das Ergebnis interpretieren, dass Lehrerinnen und Lehrer indirekte Gewaltformen - allerdings auf niedrigem Niveau - genauso gut wahrnehmen wie direkte Gewaltformen. Über die Frage, inwieweit Wahrnehmungs- und Interventionskompetenzen von Lehrkräften trainierbar sind, können wir bislang nur spekulieren. Zwar gibt es inzwischen eine Vielzahl an Ratgeber-Literatur für den Umgang mit Gewalt und Mobbing an Schulen, die empirische Basis dieser Interventionsvorschläge ist jedoch äußerst dünn (vgl. Bilz et al., 2015). Wir sind jedoch zuversichtlich, dass eine stärkere Aufmerksamkeit für nicht-leistungsbezogene Merkmale der Schülerpersönlichkeit und eine höhere Sensibilisierung für das Thema Mobbing dazu beitragen können, betroffene Schülerinnen und Schüler besser wahrzunehmen und sie stärker als bisher zu unterstützen. Literatur Ahn, H. J., Rodkin, P. C. & Gest, S. (2013). 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