eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht 63/3

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2016.art17d
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2016
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Unterricht als komplexes Problem erfahren im Planspiel "Schulalltag"

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2016
Elena Spaude
Ulrike Starker
Margarete Imhof
Unterrichten kann strukturell als komplexes Problem im Sinne der Problemlöseforschung angesehen werden. In einer konkreten Situation treten Anforderungen auf mehreren Ebenen simultan auf, es gibt eine Reihe von Einfluss- und Wirkfaktoren und Lösungsversuche haben kurz- und langfristige Effekte, die es zu beachten gilt. Zusätzlich nehmen situativ aufkommende Emotionen Einfluss auf die Qualität der Informationsverarbeitung und der Lösungsentscheidungen. Um Komplexität zu erfahren und zu reflektieren, bieten sich Planspiele an. Diese stellen eine möglichst authentische Simulation realer Probleme dar und bieten Raum zur Exploration von Problemlösungsoptionen. Das Planspiel Schulalltag macht Kommunikation und Interaktion im Unterricht praktisch erlebbar. In der vorliegenden Studie wurden N = 32 Teilnehmende vor und nach ihrer Teilnahme am Planspiel Schulalltag sowie eine Kontrollgruppe mithilfe der Fallvignetten-Methode befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Planspiel-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer nach dem Planspiel signifikant weniger strafende Verhaltensweisen einsetzten als vorher. Sollten sich die Lerneffekte des Planspiels auch in weiteren Studien bestätigen, könnte ein Planspiel als Baustein in der Lernumgebung für Lehramtsstudierende zur Entwicklung von Kompetenzen der Klassenführung sinnvoll sein.
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n Empirische Arbeit Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2016, 63, 193 -203 DOI 10.2378/ peu2016.art17d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Unterricht als komplexes Problem erfahren im Planspiel „Schulalltag“ Elena Spaude 1 , Ulrike Starker 2 , Margarete Imhof 1 1 Universität Mainz 2 Hochschule Harz Zusammenfassung: Unterrichten kann strukturell als komplexes Problem im Sinne der Problemlöseforschung angesehen werden. In einer konkreten Situation treten Anforderungen auf mehreren Ebenen simultan auf, es gibt eine Reihe von Einfluss- und Wirkfaktoren und Lösungsversuche haben kurz- und langfristige Effekte, die es zu beachten gilt. Zusätzlich nehmen situativ aufkommende Emotionen Einfluss auf die Qualität der Informationsverarbeitung und der Lösungsentscheidungen. Um Komplexität zu erfahren und zu reflektieren, bieten sich Planspiele an. Diese stellen eine möglichst authentische Simulation realer Probleme dar und bieten Raum zur Exploration von Problemlösungsoptionen. Das Planspiel Schulalltag macht Kommunikation und Interaktion im Unterricht praktisch erlebbar. In der vorliegenden Studie wurden N = 32 Teilnehmende vor und nach ihrer Teilnahme am Planspiel Schulalltag sowie eine Kontrollgruppe mithilfe der Fallvignetten-Methode befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Planspiel-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer nach dem Planspiel signifikant weniger strafende Verhaltensweisen einsetzten als vorher. Sollten sich die Lerneffekte des Planspiels auch in weiteren Studien bestätigen, könnte ein Planspiel als Baustein in der Lernumgebung für Lehramtsstudierende zur Entwicklung von Kompetenzen der Klassenführung sinnvoll sein. Schlüsselbegriffe: Planspiel, Fallvignetten-Methode, Lehrerausbildung, Klassenmanagement Teaching as a Complex Problem: Learning in a Simulation Game “Everyday Life in the Classroom” Summary: Classroomteaching can be considered as structurally equivalent to complex problem solving. In a given situation, a person faces multiple challenges on different levels, is exposed to a variety of factors, and needs to make behavioral choices with competing short-term and long-term effects. In addition, situational emotions have an impact on the quality of both information processing and decision making. Simulation games try to instantiate real life problems as authentically as possible and allow learners to experience and to reflect on the complexity of a task, and to explore behavioral options and their effects. This study investigates learning effects through participation in this simulation game. N = 32 participants responded to vignettes from everyday school life before the simulation game and after. Results indicate that participants used significantly less punitive behavior (threat, punishment, degradation) after the simulation game experience than before and in contrast to the control group. If further studies support the effects of our simulation game, a regular implementation of simulation games in student teachers’ education should be discussed. Keywords: Simulation game, vignette method, student teacher education, classroom management Ein Großteil des Lehrerhandelns in der Klasse findet typischerweise unter Bedingungen statt, die man neutral als Mehrfachtätigkeit bezeichnen könnte (vgl. Good & Brophy, 2002), und die subjektiv oft als zeitlicher und emotionaler Druck erlebt werden. Eine Handlungsentscheidung kann kaum abgewogen werden, denn oft ist im Klassenmanagement eine schnelle Reaktion der Lehrkraft gerade in komplexen und unsicheren Situationen erforderlich (Dann, 2008). 194 Elena Spaude, Ulrike Starker, Margarete Imhof Diese Situation enthält die Merkmale eines komplexen Problems, zu dessen Lösung im Prinzip viele verschiedene Informationsquellen berücksichtigt sowie kurz- und langfristige Effekte gegeneinander abgewogen werden müssten (Dörner, 1976; Starker, 2012). Dennoch erfolgen spontane Reaktionen von Lehrerinnen und Lehrern oft als einfache Automatismen und dienen eher der kurzfristigen Problembeseitigung, während sie sich mittel- oder langfristig eher nicht bewähren, z. B. Überreaktionen durch zu schnelles oder heftiges Handeln (Humpert & Dann, 2001). Klassenführung als Beispiel für komplexes Problemlösen Nach dem Modell der Professionellen Handlungskompetenz von Baumert und Kunter (2006) ist Klassenführung eine wichtige Facette des Pädagogischen Wissens und Könnens. Zur Klassenführung gehören „alle Handlungen und Strategien, die dazu dienen, Ordnungsstrukturen im Klassenzimmer herzustellen und aufrechtzuerhalten“ (Kunter & Trautwein, 2013, S. 78); somit ist Klassenführung eine zentrale Voraussetzung für Unterrichtsqualität (vgl. Helmke, 2014). Grundlage für effektive Klassenführung ist der angemessene Umgang mit der Komplexität der Lehrsituation und der Unmittelbarkeit der Interaktion im Klassenzimmer (Martin, 2004; Stoiber, 1991). Effiziente Klassenführung beinhaltet zum einen Störungsprävention und effektive Zeitnutzung (Walberg & Paik, 2000; Wang, Haertel & Walberg, 1993) und zum anderen die Gestaltung von Lernumgebungen, die von den Schülerinnen und Schülern aktivierend und konstruktivunterstützend erlebt werden. Mit dieser Beschreibung der Anforderungen wird bereits die Multiperspektivität deutlich, die zentrales Merkmal des professionellen Lehrerhandelns ist. Folgerichtig besteht die Herausforderung beim Erwerb der entsprechenden Kompetenzen darin, in der Unterrichtssituation die diversen Anforderungen wahrzunehmen, z. B. unterschiedlichen Lernbedarf, motivationale Orientierungen, soziale Prozesse und nicht zuletzt die eigenen Emotionen sowie die Emotionen der Schülerinnen und Schüler. Humpert und Dann (2001) haben auf der Basis von Unterrichtsbeobachtung herausgearbeitet, dass Lehrerinnen und Lehrer unter Druck dazu neigen, stereotype Entscheidungen zu treffen, z. B. Verhalten von Schülerinnen und Schülern schematisch als mutwillig aggressiv interpretieren und darauf reagieren, indem sie den Unterrichtsfluss unterbrechen und durch Drohen und Strafen versuchen, unerwünschtes Verhalten zu unterbinden. Dabei enden sie selten beim erhofften Ergebnis und verfangen sich häufiger in Schleifen des Mahnens und Bestrafens, die die Lehr- Lernsituation nachhaltig stören, wenn nicht ganz unterbrechen. Auf der Basis empirischer Arbeiten lassen sich günstige Strategien der Klassenführung von ungünstigen durchaus unterscheiden. Anhand von Beobachtungsstudien konnten Humpert und Dann (2001) zeigen, dass häufige Strafen für ein positives Klassenklima und für offenen Unterricht mit eigenständiger Arbeit der Schülerinnen und Schüler hinderlich sind. Besonders Herabsetzungen, die von der Lehrperson selbst oft gar nicht bemerkt werden, sind schädlich für das Unterrichtsklima und können die Situation leicht eskalieren lassen. Lewis, Romi, Katz und Qui (2008) fanden, dass die Anerkennung und Belohnung von verantwortungsbewusstem Verhalten förderlich für die Einstellung der Schülerinnen und Schüler zu den schulischen Aufgaben und zur Lehrkraft sind, ebenso wie gemeinsame Absprachen, bei denen zufriedenstellende Lösungen für beide Parteien gefunden werden. Negative Auswirkungen auf die Einstellung der Schülerinnen und Schüler gegenüber der Lehrkraft und den Schulaufgaben hatten aggressives Verhalten wie Schreien, Sarkasmus und Bestrafung. Mainhard, Brekelmans und Wubbels (2011) sowie Romi, Lewis, Roache und Riley (2011) kommen in ihren Untersuchungen zu dem Schluss, dass aggressives Verhalten der Lehrkraft, z. B. Sarkasmus, herabsetzende Kommentare, Schreien oder Bestrafen, die Beziehung zur Klasse stört. Unterricht als komplexes Problem 195 Die Schwierigkeit in der Entwicklung von Kompetenzen zur Klassenführung besteht darin, dass allein das Wissen um diese Zusammenhänge noch nicht dazu führt, dass Lehrerinnen und Lehrer in konkreten Situationen die angemessene Entscheidung treffen. Im Gegenteil gibt es Grund zur Annahme, dass Lehrerinnen und Lehrer unter Druck besonders ungünstige Problemlösestrategien an den Tag legen und ihr theoretisches Wissen nicht nutzen (vgl. Hofer & Dobrick, 1981; Renkl, 1996; Wahl, 2013), weil sie Informationen nur selektiv verarbeiten, Wahrnehmungsgewohnheiten erliegen, unter Stress in Automatismen verfallen, die kurzfristig Lösungen, aber mittel- und langfristig neue Probleme schaffen, oder unkontrolliert und wenig effektiv nachregulieren und somit wenig nachhaltige Strategien einsetzen (vgl. Dörner, 1976, 1989; Starker, 2012). Um angehende Lehrkräfte bereits im Studium auf die Komplexität des Schulalltags, insbesondere auf die Herausforderungen der Klassenführung, vorzubereiten, bietet die Johannes Gutenberg-Universität Mainz das Planspiel Schulalltag an (vgl. Imhof, Starker & Spaude, 2016; Starker & Imhof, 2014). Planspiele Nach Knogler und Lewalter (2014) beruht das Konzept von Planspielen darauf, dass Themen in fiktive Szenarien überführt werden, die eine möglichst authentische Simulation realer Probleme darstellen. Diese Probleme werden dann im Spielverlauf bearbeitet. Planspiele zum Training und zur Reflexion von Handlungsspielräumen und Verhaltensfolgenabschätzung werden in vielen Bereichen eingesetzt, z. B. im Planspiel Bundestag, beim Börsenplanspiel, aber auch beim Training von Ersthelfern und Einsatzkräften im Katastrophenschutz. Das Planspiel bildet einerseits die Komplexität der realen Situation nach, reduziert jedoch andererseits die Tragweite der Entscheidungen. Ein Planspiel unterstützt Lernende dabei, die theoretische Ebene zu verlassen und ins Handeln überzugehen. Die Lernenden nehmen eine Identität innerhalb eines konkreten Szenarios an, entwickeln aus verschiedenen Rollenpositionen heraus komplexe Prozesse in diesem Szenario (Knogler & Lewalter, 2014) und erproben Handlungsoptionen, deren Konsequenzen sie beobachten. Reusser (2005) ordnet Planspiele dem problemlösenden Lernen zu. Die Reflexion über das Erfahrene im Anschluss an das Planspiel leitet den entscheidenden Lernschritt ein (Hmelo-Silver, 2004), denn erst durch die Reflexion werden Erfahrungen explizit gemacht, Strukturen offengelegt und der Transfer auf neue Situationen vorbereitet (Hartinger, Fölling-Albers, Lankes, Marenbach & Molfenter, 2001; Hmelo-Silver, 2004; Schell & Black, 1997). Walker und Leary (2009) gehen mit dem closed-loop-Ansatz noch einen Schritt weiter und schlagen vor, dass Lernende ein Problem bzw. den gewählten Problemlösungsansatz im Nachhinein erneut überdenken, um Erklärungsalternativen und weitere Verbesserungsmöglichkeiten im Argumentationsprozess zu ermitteln. Das Planspiel Schulalltag Da Unterricht als komplexes Problem aufgefasst werden kann, wurden die Prinzipien des Planspiels auf den Kontext Schule übertragen. Konkret wird im Planspiel Schulalltag der Universität Mainz einen Tag lang Schule gespielt. Den Teilnehmenden werden nach dem Zufallsprinzip Rollen als Lehrkräfte oder Schülerinnen bzw. Schüler zugeteilt. Die Rollenbeschreibungen sind sehr kurz und offen gehalten und beziehen sich auf Aspekte wie familiäre Hintergründe, Überzeugungen, Interessen oder Beziehungen zu den anderen Rollen im Planspiel. Die Entwicklung der Rolle im Planspiel hängt davon ab, wie die Teilnehmenden ihre jeweilige Rolle interpretieren und ausleben. Die Lernumgebung ist authentisch nachgebaut: es gibt Klassenzimmer, Lehrerzimmer und einen Pausenhof. Der Schultag folgt einem vorgegebenen Stundenplan und die Lehrkräfte bekommen Unterrichtsmaterialien an die Hand. Der eigentliche Planspieltag ist eingebettet in Veranstaltungen zur Vor- und Nachbereitung. Am 196 Elena Spaude, Ulrike Starker, Margarete Imhof Vorbereitungstag erhalten die Studierenden Informationen über Emotionen in komplexen Situationen bezogen auf das Beispiel Schulalltag. Vor dem Hintergrund des Modells des Komplexen Problemlösens nach Dörner (vgl. Starker, 2012) wird der Einfluss von Emotionen auf die Qualität der Problemlösungen in komplexen Situationen thematisiert. Dabei werden auch Befunde zu Möglichkeiten und Effekten von Emotionsregulation vorgestellt. Die Studierenden werden darüber hinaus über das Prinzip von Planspielen informiert und darüber, was beim Planspiel-Tag konkret auf sie zukommt. Am Tag des Planspiels selbst findet im Anschluss an das Planspiel eine kurze Reflexionsrunde statt, in der sich die Teilnehmenden aus ihrer Rolle lösen und über ihre Eindrücke austauschen können. Die ausführliche Reflexion findet am Nachbereitungstag statt, an dem sich die ehemaligen Lehrkräfte und Schülerinnen bzw. Schüler gegenseitig und strukturiert Rückmeldung geben. Danach wird die Erfahrung des Planspiels in einen theoretischen Kontext gebracht, indem die Teilnehmenden an Workshops zu den Themen Kommunikation, Emotionen im Schulalltag und Klassenmanagement teilnehmen. Dabei werden konkrete Situationen aus dem Planspiel aufgegriffen und mithilfe theoretischer Grundlagen analysiert. Parallel zu diesen Veranstaltungen vertiefen die Studierenden ihr neu erworbenes Wissen durch schriftliche Reflexionsaufgaben, bei denen sie praktische Fallbeispiele, auch unter Heranziehung theoretischer Literatur, bearbeiten. Ziel des Planspiels ist es, dass die Studierenden Situationen erleben, in denen Entscheidungen unter Druck entstehen, z. B. wenn widersprüchliche Anforderungen gemeinsam auftreten und Informationen aus verschiedenen Quellen zugleich verarbeitet werden müssen. Die Studierenden erfahren die (Selbst-)Wahrnehmungen dieser Situation, sie schärfen die Situationswahrnehmung und lernen, Handlungsalternativen zu erkennen. Ein erster Indikator könnte sein, dass Studierende eine spontan oft gezeigte Lehrerverhaltensweise, nämlich das Drohen und Strafen, als nicht zielführend erkennen und alternative Interventionsmöglichkeiten entwickeln können. Es wird erwartet, dass auch Studierende, die im Planspiel Schülerinnen und Schüler spielen (und das betrifft die Mehrzahl), verstehen, dass es für Lehrerinnen und Lehrer mehr als eine Möglichkeit gibt, auf eine Situation zu reagieren, und jeweils unterschiedliche Effekte damit verbunden sind. Das Erfolgskriterium ist daher nicht, ob Studierende normative Vorgaben verinnerlichen, sondern ob ihnen Emotionsregulation und Entwicklung von Handlungsalternativen gegenüber der ersten, spontanen Reaktion gelingen (vgl. Starker, 2012). Erste Hinweise darauf, dass das Planspiel Schulalltag die Sensibilität für die Komplexität sowie einen reflektierteren Umgang mit Problemsituationen fördert, bietet eine Untersuchung von Starker und Imhof (2014) mithilfe der Fallvignetten-Methode: Die Lösungsvorschläge für die Fallvignetten von Studierenden, die am Planspiel Schulalltag teilgenommen hatten, beinhalteten nach der Teilnahme signifikant weniger Strafen und Ermahnungen als vorher. Da es in dieser Untersuchung keine Kontrollgruppe gab, wird in der aktuellen Replikation eine Kontrollgruppe, die ein Parallelseminar besucht hat, mit einbezogen. Fragestellung Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Frage, ob Studierende, die am Planspiel Schulalltag teilnehmen, einen Zuwachs in der Kompetenz, Probleme der Klassenführung konstruktiv zu lösen, verzeichnen können und ob sie sich im Lernfortschritt von Studierenden, die ein klassisches Seminar besuchen, unterscheiden. Der Kompetenzzuwachs wird daran festgemacht, ob die Studierenden mehr verschiedene bzw. mehr förderliche und weniger strafende Lösungsvorschläge für Strategien der Klassenführung entwickeln. Im Anschluss an die Befunde aus Studien zur effektiven Klassenführung (Lewis et al., 2008; Mainhard et al., 2011; Romi et al., 2011) sowie den Erkenntnissen von Humpert und Dann (2001) werden folgende Hypothesen aufgestellt: Unterricht als komplexes Problem 197 1. Bei den Studierenden aus der Planspielgruppe sind mehr Änderungen der Strategien im Umgang mit schwierigen Unterrichtssituationen feststellbar als bei den Studierenden, die ein klassisches Seminar besucht haben. 2. Studierende aus der Planspielgruppe schlagen nach dem Planspiel in den Fallvignetten mehr förderliche Verhaltensweisen vor als vorher und als Studierende, die ein klassisches Seminar besucht haben. 3. Studierende aus der Planspielgruppe schlagen nach dem Planspiel weniger strafende Verhaltensweisen vor als vorher und als Studierende, die ein klassisches Seminar besucht haben. Als förderliche Strategien gelten im Rahmen dieser Studie die sozial-integrativen Verhaltensweisen des BAVIS-Systems (Beobachtungssystem zur Analyse von aggressionsbezogenen Interaktionen im Schulunterricht; Humpert & Dann, 2001) sowie die Kategorien nach der Stunde aufgreifen, Thema integrieren und kontern. Die strafenden Strategien sind analog der sogenannten punitiven Kategorien im BAVIS-System definiert. Methode Stichprobe Am Planspiel Schulalltag im Sommersemester 2014 nahmen 32 Lehramtsstudierende für gymnasiales Lehramt teil, von denen 19 weiblich sind. Die Teilnehmenden waren durchschnittlich 22.44 Jahre alt (SD = 1.73) und studierten größtenteils im vierten Fachsemester (n = 23). Das Planspiel ist eine alternative Form für eine Pflichtveranstaltung zum Thema Kommunikation und Interaktion. Die Kontrollgruppe ergab sich aus einer wöchentlich stattfindenden Parallelveranstaltung. Von N = 45 Teilnehmenden im Seminar nahmen n = 22 Studierende für gymnasiales Lehramt (21 davon weiblich) zu beiden Zeitpunkten an der Befragung teil. Das Durchschnittsalter lag bei 21.59 Jahren (SD = 2.72). Auch in der Kontrollgruppe studierten die Teilnehmenden größtenteils im vierten Fachsemester (n = 16). Anzumerken ist, dass die Studierenden bei der Anmeldung zum Seminar nicht wussten, dass es sich um ein Planspieltraining handelt, sondern nur, dass sie sich für ein Blockseminar zum Thema Kommunikation und Interaktion anmelden. Daher fand im Vorfeld keine Selbstselektion der Teilnehmenden statt, z. B. Studierende, die Rollenspiele mögen oder vom Konzept eines Planspiels überzeugt sind. Design Die Untersuchung fand im Prä-Post-Design statt: Die Studierenden, die am Planspiel teilnahmen, wurden am Vorbereitungstag (t1) sowie am Ende des Reflexionstags (t2) befragt. Die Kontrollgruppe bearbeitete die Fragebögen jeweils in derselben Woche. Versuchsmaterial Im Anschluss an Gijbels, Dochy, van den Bossche und Segers (2005) werden die Problemlösekompetenzen der Studierenden anhand repräsentativer Probleme gemessen, die zu den im Lernprozess bearbeiteten Problemen analog sind (vgl. auch Walker & Leary, 2009). Eine gängige Methode ist hier der Einsatz von Fallvignetten, die eine möglichst handlungsnahe und situationsbezogene Erhebung des Professionswissens von Lehrkräften gewährleisten soll (Brovelli, Bölsterli, Rehm & Wilhelm, 2013; Riese & Reinhold, 2010). Fallvignetten beinhalten konkrete Situationsbeschreibungen (Auspurg, Hinz & Liebig, 2009), die es dem Befragten ermöglichen, sich in die beschriebenen Situationen hineinzudenken. Der hier verwendete Fragebogen beinhaltet vier Fallvignetten zu Situationen im Unterricht (Anhang), z. B.: Sie haben mehrere Schülerbeiträge akustisch nicht verstanden. Daraufhin fragt ein Schüler: „Brauchen Sie vielleicht ein Hörgerät? “ Die Fallvignetten wurden auf Basis von Fallbeispielen, die Studierende aus ihren Praktika berichtet hatten, erstellt und danach ausgewählt, dass die Situation möglichst offen ist und somit unterschiedliche Lehrerreaktionen möglich sind. Die Befragten werden instruiert, sich in die Rolle der Lehrkraft zu versetzen und anzugeben, wie sie die Situation interpretieren und dementsprechend damit umgehen würden. In der Nachbefragung wurden dieselben Fallvignetten eingesetzt wie in der Vorbefragung. Durch die Angabe eines Codes wurde die Anonymität der Befragung sichergestellt. Die Planspiel-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer erhielten den Fragebogen in Papierform, die Kontrollgruppe wurde online über Unipark befragt. 198 Elena Spaude, Ulrike Starker, Margarete Imhof Durchführung Das Planspiel-Training besteht aus drei Terminen: einem Vorbereitungstag, dem Planspieltag und einem Reflexionstag. Diese Termine fanden im Zwei-Wochen-Rhythmus statt. Die erste Befragung der vorliegenden Studie wurde zu Beginn des Vorbereitungstreffens durchgeführt. Zur Bearbeitung der Fallvignetten in Einzelarbeit hatten die Teilnehmenden ca. 20 Minuten Zeit. Die zweite Befragung fand unter den gleichen Bedingungen am Ende des Reflexionstags statt. Die Kontrollgruppe wurde in einem Proseminar angeworben. Die Online-Befragung fand jeweils in der gleichen Woche statt wie die beiden Planspiel-Befragungen und wurde im Seminartermin der Kontrollgruppe angekündigt. Zu t2 wurde der Kontrollgruppe im Anschluss an das Seminar ein Computerraum der Universität zur Verfügung gestellt, um eine möglichst hohe Teilnahmequote zu erreichen. Kodierung Zunächst wurden die offenen Antworten auf die Fallvignetten kategorisiert. Dazu wurden die BAVIS- Beobachtungskategorien von Humpert und Dann (2001) herangezogen, welche zehn Kategorien für Lehrerreaktionen beinhalten zuzüglich einer Kategorie für Sonstige Lehrermaßnahmen. Die zehn aufgeführten Kategorien decken das Verhaltensspektrum von Lehrkräften im Unterricht zu einem großen Teil ab (Humpert & Dann, 2001) und wurden durch die Kategorien 12) Kontern, 13) Thema integrieren und 14) Aufgreifen nach der Stunde ergänzt. In Tabelle 1 ist ein Überblick über die Kategorien mit entsprechenden Ankerbeispielen zu finden. Pro Antwort konnten mehrere Kategorien vergeben werden, wobei jeweils die erste Kategorie als zentrale Kategorie herausgestellt wurde. Die Sonstigen Lehrermaßnahmen wurden je nach Passung den übergeordneten Kategorien zugeordnet. Um die Güte der Kategorisierung zu bestimmen, wurden die Antworten jeweils von zwei Ratern kategorisiert und die Interrater-Reliabilität bestimmt. Die Übereinstimmungen fallen mit k = .37 bis .62 bei der Kategorisierung der ersten Reaktion sowie mit r = .58 bis .79 bei der Anzahl der vergebenen Kategorien sehr schwankend und nicht vollständig zufriedenstellend aus, was bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden muss. Aus den kategorisierten Daten wurden fünf neue Variablen zur Überprüfung der Hypothesen gebildet. Die Variable Änderung der ersten Reaktion beschreibt, wie oft eine Teilnehmerin bzw. ein Teilnehmer die erste Reaktion in den Fallvignetten zu t2 im Vergleich zu t1 geändert hat. Da in der Befragung vier Fallvignetten eingesetzt wurden, kann die Variable also Ausprägungen zwischen 0 und 4 annehmen. Auch die Variablen Förderliches Verhalten als erste Reaktion und Strafendes Verhalten als erste Reaktion können Ausprägungen zwischen 0 und 4 annehmen. Sie wurden jeweils für t1 sowie t2 gebildet. Die vierte und fünfte Variable Anteil an förderlichem Verhalten BAVIS-Kategorien Ankerbeispiele Übergeordnete Kategorien Beobachten/ Ignorieren, Abbrechen, Mahnen Ich würde die Schülerinnen und Schüler darauf hinweisen, dass sie doch bitte deutlicher sprechen sollten, dann bräuchte ich auch nicht ständig nachfragen. Neutral Drohen, Bestrafen, Herabsetzen Sollte der Schüler sein Fehlverhalten einsehen und sich entschuldigen, würde ich ihn mit einer Verwarnung davonkommen lassen. Sollte er jedoch uneinsichtig sein, würde ich nach einem geeigneten Strafmaß suchen. Strafend Kompromiss vorschlagen, Integrieren, Ermutigen, Einfühlen, Kontern, Thema integrieren, nach der Stunde aufgreifen Für den Fall, dass ich wirklich Gehörprobleme haben sollte, werde ich mir ein Hörgerät kaufen. Für den Fall, dass die Schülerbeiträge leise waren oder die Akustik in dem Raum schlecht ist, würde ich mit der Klasse darüber sprechen, wie wir die gegenseitige Kommunikation verbessern können. Förderlich Tab. 1: Übersicht der Kategorisierung der Lehrerreaktionen und Ankerbeispiele Anmerkungen: BAVIS = Beobachtungssystem zur Analyse von aggressionsbezogenen Interaktionen im Schulunterricht. Die Ankerbeispiele beziehen sich auf die Fallvignette Sie haben mehrere Schülerbeiträge akustisch nicht verstanden. Daraufhin fragt ein Schüler: „Brauchen Sie vielleicht ein Hörgerät? “ und sind Original-Antworten der Teilnehmenden. Unterricht als komplexes Problem 199 bzw. Anteil an strafendem Verhalten werden nicht nur aus der jeweils ersten Reaktion, sondern aus allen vergebenen Kategorien über alle vier Fallvignetten hinweg gebildet. Dazu wurden die aufgreifenden bzw. strafenden Verhaltensweisen pro Person gezählt und durch die jeweilige Anzahl aller vergebenen Kategorien dividiert. Diese beiden Variablen können somit Werte zwischen 0 und 1 annehmen und wurden ebenfalls jeweils für t1 sowie t2 gebildet. Ergebnisse Für einen Überblick über die Datenlage sind die Daten der Experimentalgruppe (Planspiel) sowie der Kontrollgruppe (klassisches Seminar) zu den zwei Befragungszeitpunkten in Tabelle 2 dargestellt. Hypothese 1: Bei den Studierenden aus der Planspielgruppe sind mehr Änderungen der Strategien im Umgang mit schwierigen Unterrichtssituationen feststellbar als bei den Studierenden, die ein klassisches Seminar besucht haben. Im t-Test für unabhängige Stichproben ergab sich für die Änderung der ersten Reaktion mit t(52) = 0.64, p > .05, d = .17 kein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Die Teilnehmenden änderten ihre Strategien in den Fallvignetten nach dem Planspiel im Vergleich zu vorher nicht signifikant häufiger als die Kontrollgruppe. Hypothese 2: Studierende aus der Planspielgruppe schlagen nach dem Planspiel in den Fallvignetten mehr förderliche Verhaltensweisen vor als vorher und als Studierende, die ein klassisches Seminar besucht haben. Zur statistischen Überprüfung der Hypothese wurde eine zweifaktorielle Varianzanalyse mit Messwiederholung auf dem Faktor Erhebungszeitpunkt berechnet. Die Zugehörigkeit der Probandinnen und Probanden zur Experimentalbzw. Kontrollgruppe diente als Gruppenfaktor. Für die förderlichen Strategien als erste Reaktion ergab sich weder für die Gruppe, F(1, 52) = 0.11, p > .05, h p² = .00, noch für die Zeit, F(1, 52) = 0.54, p > .05, h p² = .01, noch für die Interaktion der beiden Faktoren, F(1, 52) = 0.54, p > .05, h p² = .01, ein signifikanter Effekt. Auch für den Anteil förderlicher Strategien ergaben sich keine signifikanten Effekte für Gruppe, F(1, 50) = 0.02, p > .05, h p² = .00, Zeit, F(1, 50) = 0.79, p > .05, h p² = .02, oder Interaktion, F(1, 50) = 0.10, p > .05, h p² = .00, der beiden Faktoren. Hypothese 3: Studierende aus der Planspielgruppe schlagen nach dem Planspiel weniger strafende Verhaltensweisen vor als vorher und als Studierende, die ein klassisches Seminar besucht haben. Wie aus Tabelle 2 ersichtlich, setzten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kontrollgruppe weder zu t1 noch zu t2 strafende Strate- Planspielteilnehmer (N = 32) Kontrollgruppe (N = 22) Variable Max. * M SD Max. M SD t1 Anzahl förderlicher Verhaltensweisen als erste Reaktion Anzahl strafender Verhaltensweisen als erste Reaktion Anteil förderlicher Verhaltensweisen Anteil strafender Verhaltensweisen 3 2 0.50 0.50 1.25 0.19 0.23 0.20 0.87 0.46 0.15 0.13 3 0 0.56 0.38 1.09 0 0.21 0.15 0.67 0 0.13 0.09 t2 Anzahl förderlicher Verhaltensweisen als erste Reaktion Anzahl strafender Verhaltensweisen als erste Reaktion Anteil förderlicher Verhaltensweisen Anteil strafender Verhaltensweisen Anzahl der Änderungen der ersten Reaktion 4 2 0.57 0.44 4 1.25 0.09 0.24 0.09 1.75 0.97 0.38 0.14 0.11 1.17 3 0 0.63 0.38 3 1.27 0 0.24 0.13 1.55 0.86 0 0.17 0.11 1.08 Tab. 2: Deskriptive Daten der Befragung zur ersten Reaktion auf die Fallvignetten sowie zum Anteil an förderlichem sowie strafendem Verhalten bei wiederholter Messung bzw. vor und nach dem Planspiel (t1 und t2) Anmerkung: * das Minium für alle Werte ist jeweils 0. 200 Elena Spaude, Ulrike Starker, Margarete Imhof gien als erste Reaktion ein, weshalb die Kontrollgruppe hier zur Überprüfung nicht herangezogen werden kann. Stattdessen wird mithilfe eines t-Tests berechnet, ob Studierende aus der Planspielgruppe nach dem Planspiel weniger strafende Verhaltensweisen als erste Reaktion vorschlagen als vorher. Der t-Test für abhängige Stichproben zeigt mit t(31) = 1.79, p < .05 (einseitig), d = .34, dass die Planspiel-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer nach dem Planspiel signifikant weniger strafende Verhaltensweisen als erste Reaktion vorschlugen als vorher. Zur statistischen Überprüfung der Hypothese hinsichtlich des Anteils strafender Verhaltensweisen wurde eine zweifaktorielle Varianzanalyse mit Messwiederholung auf dem Faktor Erhebungszeitpunkt berechnet. Die Zugehörigkeit der Probandinnen und Probanden zur Experimentalbzw. Kontrollgruppe diente als Gruppenfaktor. Hier ergab sich ein Haupteffekt des Messzeitpunktes mit großer Effektstärke, F(1, 50) = 10.86, p = .002, h p² = .18, sowie ein Interaktionseffekt von Gruppe × Messzeitpunkt mit mittlerer Effektstärke, F(1,50) = 5.17, p = .027, h p² = .09. Für die Gruppenzugehörigkeit ergab sich kein signifikanter Haupteffekt, F(1,50) = 0.05, p > .05, h p² = .00. Anhand der Mittelwerte aus Tabelle 2 wird ersichtlich, dass Studierende aus der Planspielgruppe nach dem Planspiel im Vergleich zur Kontrollgruppe einen geringeren Anteil strafender Verhaltensweisen vorschlagen als vorher. Diskussion In der vorliegenden Studie wurde untersucht, ob die Teilnahme am Planspiel Schulalltag zur Entwicklung reflektierter Problemlösestrategien am Beispiel förderlicher Strategien der Klassenführung führt. Anhand eines Vignettentests zu störenden Verhaltensweisen im Unterricht wurden die Problemlösevorschläge der Studierenden vor und nach dem Besuch einer als Planspiel angelegten Lehrveranstaltung abgefragt und kodiert. Dabei zeigte sich, dass die Strategien der Planspiel-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer zum Umgang mit schwierigen Unterrichtssituationen im Vergleich zur Kontrollgruppe nach dem Planspiel signifikant weniger strafende Reaktionen beinhalteten als vorher. Das deutet darauf hin, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Planspiel aufgrund der dabei gemachten Erfahrungen zu dem Schluss kommen, dass strafende Verhaltensweisen häufig nicht zur gewünschten Lösung einer konflikthaften Unterrichtssituation führen. Da beide Seminarformen auf der gleichen theoretischen Grundlage basieren, scheint beim Erwerb von Kompetenzen zur Klassenführung die persönliche Erfahrung von Auswirkungen verschiedener Klassenführungsstrategien von Vorteil zu sein. Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen von Starker und Imhof (2014), die ebenfalls feststellten, dass die Lösungsvorschläge der Planspielteilnehmer für die Fallvignetten nach dem Planspiel signifikant weniger Strafen und Ermahnungen beinhalteten. Die Abnahme von strafendem Verhalten ist als wichtiger Lerneffekt des Planspiels zu verbuchen, wenn man bedenkt, dass Verhaltensweisen wie Sarkasmus, aus Ärger schreien oder das Blamieren und Bestrafen von Schülerinnen und Schülern eine geringere Motivation, einen Anstieg an Fehlverhalten sowie eine deutlich negativere Einstellung gegenüber der Lehrkraft zur Folge haben (Lewis et al., 2008; Mainhard et al., 2011; Romi et al., 2011). Ein Anstieg förderlicher Strategien durch die Teilnahme am Planspiel war in der Fallvignetten-Befragung entgegen unserer Erwartungen nicht zu verzeichnen. Ebenso wenig unterschied sich die Häufigkeit der Verhaltensänderung zwischen den zwei Messzeitpunkten in der Planspielgruppe von der in einer Kontrollgruppe von Studierenden, die an einer regelmäßigen Seminarveranstaltung teilgenommen hatten. Grenzen der Studie Grundsätzlich ist die Aussagekraft der Studie dadurch begrenzt, dass die Stichprobe der vorliegenden Untersuchung relativ klein war und dass mit dem Vignettentest das gewählte Kriterium nicht ausreichend Varianz erzeugt hat. In Unterricht als komplexes Problem 201 weiteren Studien ist es daher vordringlich, dass dieses Problem besser gelöst wird. Sicher müsste die Kontrollgruppe, die das übliche Seminar als alternatives Treatment besucht, besser kontrolliert werden; eine freiwillige Teilnahme an der Kontrollbefragung kann zu unerwünschten Selektionseffekten führen. Darüber hinaus müsste eine Vergleichsgruppe gewonnen werden, die ebenfalls im Format des Blockseminars arbeitet, denn unterschiedliche Präferenzen könnten Einfluss auf das Lernen haben. Da die Studierenden zwar auf das Format des Blockseminars, jedoch nicht auf die Methode des Planspiels hingewiesen wurden, sollte zumindest der Effekt einer mehr oder weniger großen Vorliebe für Planspiele kontrolliert gewesen sein. Außerdem ist zu prüfen, ob und wie der Vignettentest optimiert werden kann und ob mit den Vignetten zu Unterrichtsstörungen die relevanten Indikatoren untersucht worden sind. Abgesehen von der generellen Debatte über die Eignung von Fallvignetten (vgl. Lindmeier, Heinze & Reiss, 2013; Riese & Reinhold, 2010) kann der in dieser Studie verwendete Test inhaltlich sowie hinsichtlich des Befragungszeitpunktes optimiert werden. Inhaltlich sollten die Fallvignetten auf eine größere Bandbreite von Zielvariablen abgestimmt werden, die den Lerneffekt im Planspiel abbilden. Methodisch wäre auf jeden Fall der Einsatz von mehreren Fallvignetten empfehlenswert, die randomisiert vergeben werden, sodass jede Probandin und jeder Proband bei der zweiten Befragung andere Vignetten bearbeitet als bei der ersten Befragung. Auch der Zeitpunkt der Nachbefragung ist zu überdenken. Anstatt die Teilnehmenden am Ende des Reflexionstags zu befragen, wäre eine Nachbefragung nach Abschluss der Gesamtveranstaltung sinnvoll. Denn zum einen ist im Anschluss an den sechsstündigen Reflexionstag gegebenenfalls die nötige Motivation nicht mehr vorhanden und zum anderen würde dadurch auch der Forderung des closed-loop-Ansatzes (Walker & Leary, 2009) Genüge getan, denn erst in der abschließenden schriftlichen Reflexion konnten die Planspiel-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer ihre eigenen Erfahrungen aus dem Planspiel mit den Informationen aus den besuchten Workshops in Verbindung bringen. Letztlich ist auch zu fragen, ob die Lerneffekte stabil und nachhaltig sind oder überhaupt erst später auftreten. Die Untersuchung hat sich bislang auf die Veränderung unmittelbar nach der Lehrveranstaltung beschränkt. In weiteren Untersuchungen sollten alle Gruppen mit demselben Verfahren befragt werden - also entweder online oder mit einem Paper-Pencil-Test. Kritisch zu sehen ist auch die schwache und stark schwankende Interrater- Reliabilität bei der Kodierung der Antworten auf die Fallvignetten. Bei der nächsten Untersuchung wird es nötig sein, die Kategorien zu schärfen und eine ausführlichere Schulung bzw. eine Nachschulung der Codierer durchzuführen. Kritisch bleibt zudem, ob bei schriftlichen Einschätzungen und Ratingverfahren die Unmittelbarkeit der Situation abgebildet werden kann, da die Spontaneität nicht wie in der Realsituation gegeben ist (Lindmeier et al., 2013). Von daher wäre auch zu überlegen, ob die Befragung anhand der Fallvignetten durch eine direkte Beobachtung ersetzt oder ergänzt werden könnte. Forschungsausblick Das Planspiel Schulalltag als Lernumgebung wird noch ausführlicher zu erforschen sein. So stellt die Entwicklung von Verfahren zur Erfassung von Problemlösefähigkeiten in unterschiedlichen Dimensionen aus dem Bereich Unterrichten (z. B. neben der Klassenführung weitere Aspekte wie kognitive Unterstützung oder Rückmeldung) eine Herausforderung dar. Im Anschluss an die Forschungsarbeiten aus dem komplexen Problemlösen scheint es sinnvoll, auch im Planspiel Schulalltag den Versuch zu unternehmen, nicht zuerst oder ausschließlich auf die Merkmale der Problemlösungskompetenz zu achten, sondern auch die vermittelnden Prozesse und Verhaltensmechanismen zu überprüfen, z. B. die Qualität der Informationsverarbeitung oder die Emotionsregulation (vgl. Starker, 2012). 202 Elena Spaude, Ulrike Starker, Margarete Imhof Es ist zudem zu überprüfen, ob durch die Kategorisierung einzelner Verhaltensweisen, die die Studierenden in ihren Antworten auf die Vignetten notiert haben, die Qualität der Reaktion angemessen repräsentiert ist. Statt der Betrachtung von Einzelverhalten wäre die Bildung eines Expertenurteils zu den Fallvignetten gut vorstellbar. Man könnte beispielsweise erfahrenen Lehrkräften verschiedene Fallvignetten vorlegen und Kriterien zusammenstellen, die eine angemessene Reaktion auf jeden Fall bzw. auf keinen Fall beinhalten sollte. Neben der Untersuchung der Lehrerreaktionen sind auch Untersuchungen mit anderen Zielvariablen denkbar. Denn im Planspiel werden vermutlich auch andere Kompetenzen erworben, wie beispielsweise der Umgang mit Emotionen (vgl. Imhof et al., 2016; Starker & Imhof, 2014). Betrachtet man das Modell der Professionellen Handlungskompetenz nach Baumert und Kunter (2006) wäre es durchaus denkbar, dass sich die Planspiel-Teilnahme auch auf die Überzeugungen der Lehramtsstudierenden zu Unterricht und Klassenführung auswirkt. Fazit Die Studie bietet erste Anhaltspunkte dafür, dass das Planspiel Schulalltag als Seminarform für das Thema Kommunikation und Interaktion im Unterricht geeignet ist. Es bietet eine Lernumgebung, in der Studierende auf der Basis von Erfahrungen, die sie im Spiel machen, Unterricht als komplexes Problemlösen erfahren und reflektieren. Sollten auch weitere Studien relevante Lerneffekte des Planspiels zeigen, könnte man ein Planspiel als Seminarform fest in die Lehrerausbildung integrieren, um Lehramtsstudierende praxisnah auf die Komplexität des Unterrichts und dessen Reflexion vorzubereiten. Danksagung Die Autoren danken dem Gutenberg Lehrkolleg der Johannes Gutenberg-Universität Mainz für die Unterstützung der Entwicklung des Planspiels Schulalltag im Sommersemester 2013. Literatur Auspurg, K., Hinz, T. & Liebig, S. (2009). Komplexität von Vignetten, Lerneffekte und Plausibilität im Faktoriellen Survey. Methoden - Daten - Analysen, 3, 59 - 96. Baumert, J. & Kunter, M. (2006). Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9, 469 - 520. http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ s11618-006-0165-2 Brovelli, D., Bölsterli, K., Rehm, M. & Wilhelm, M. (2013). Erfassen professioneller Kompetenzen für den naturwissenschaftlichen Unterricht: Ein Vignettentest mit authentisch komplexen Unterrichtssituationen und offenem Antwortformat. Unterrichtswissenschaft, 41, 306 - 329. Dann, H.-D. (2008). Lehrerkognitionen und Handlungsentscheidungen. In M. K. W. Schweer (Hrsg.), Lehrer- Schüler-Interaktion. 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Mitten im Unterricht packt eine Schülerin, die in der ersten Reihe sitzt und für ihre lebhafte Art bekannt ist, ein Kondom aus. Sie hält es hoch und ruft laut: „Igitt! “