eJournals Psychologie in Erziehung und Unterricht65/4

Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2018.art14d
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Editorial

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Annett Wolgast
Der European Youth Pact (EUR-Lex, 2005) und das Europäische Parlament (2006) bewerten soziale Kompetenzen als wesentlich für die Bildungs- und Berufslaufbahn. Zu den sozialen Kompetenzen (Kanning, 2002, 2009) zählen beispielsweise soziale Orientierung, Perspektivübernahme, Selbststeuerung und Reflexibilität (Jurkowski & Hänze, 2014). Diagnostik und Förderung dieser Kompetenzen besitzen daher eine besondere Relevanz. Rechnung getragen wird dieser Bedeutung unter anderem mit der Entwicklung von verschiedenen Instrumenten zur Erfassung von sozialen Kompetenzen (z.B. Jurkowski & Hänze, 2014). Auch die Entwicklung von Trainingsprogrammen zur Förderung dieser Kompetenzen weist auf die Bedeutung hin.
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2018, 65, 241 -243 DOI 10.2378/ peu2018.art14d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel Editorial Der European Youth Pact (EUR-Lex, 2005) und das Europäische Parlament (2006) bewerten soziale Kompetenzen als wesentlich für die Bildungs- und Berufslaufbahn. Zu den sozialen Kompetenzen (Kanning, 2002, 2009) zählen beispielsweise soziale Orientierung, Perspektivübernahme, Selbststeuerung und Reflexibilität (Jurkowski & Hänze, 2014). Diagnostik und Förderung dieser Kompetenzen besitzen daher eine besondere Relevanz. Rechnung getragen wird dieser Bedeutung unter anderem mit der Entwicklung von verschiedenen Instrumenten zur Erfassung von sozialen Kompetenzen (z. B. Jurkowski & Hänze, 2014). Auch die Entwicklung von Trainingsprogrammen zur Förderung dieser Kompetenzen weist auf die Bedeutung hin. Von den Trainingsprogrammen ist eine Mehrheit auf die Prävention im Grundschulbereich (z. B. Petermann, Natzke, Gerken & Walter, 2016) oder auf Kinder und Jugendliche mit Verhaltensproblemen ausgerichtet (z. B. Petermann & Petermann, 2010). Ein Vorteil dieser Trainingsprogramme ist die wissenschaftlich geprüfte Wirksamkeit bei der jeweils einbezogenen Zielgruppe. Gut integriert werden können die Trainingsprogramme an Ganztagsschulen in regelmäßigen außerunterrichtlichen Förderangeboten. Als problematisch erweist sich dagegen die oftmals eingeschränkt mögliche Integration eines Förderprogramms in den Unterricht oder in den Schulalltag an Sekundarschulen ohne Ganztagsangebote. Dieser Nachteil war eine Anregung für die folgenden Fragen: Wie viel „sozial“ steckt in schulischen Leistungssituationen? Beinhaltet Lernmaterial, das gezielt im Unterricht eingesetzt werden könnte, viel mehr „sozial“ als bisher angenommen? Geht es beim Lehren und Lernen vielleicht auch um Vorstellungen, was andere über eine Unterrichtssituation denken? Können soziale Bedrohungen in der Schule als Chance zur Selbststeuerung verstanden werden? Ist es eigentlich sozial oder nur leistungsrelevant, wenn Lehrende individuelle Lernvoraussetzungen bei Lernenden erkennen? Die daraus abgeleitete Fragestellung für das Themenheft war, ob im regulären Unterricht Beziehungen zwischen sozial-kognitiven oder sozialen Prozessen und Leistungssituationen bestehen. Die Anregung sozialer Prozesse (z. B. „Was meint sie mit der Frage zum Text? “) könnte auch soziale Kompetenzen betreffen (z. B. Perspektivübernahme). Es wurde angenommen, dass bereits soziale Hinweisreize in Lernmaterialien, der Umgang mit Lernmaterialien, Instruktionen oder sogar Aussagen während des Unterrichts mit sozialen Kompetenzen einhergehen. Primäres Ziel von Unterrichtsaktivitäten ist zunächst, dass Kinder und Jugendliche die in den Bildungsstandards formulierten fachbezogenen Kompetenzen erwerben. Wenn es dabei bislang unterschätzte Möglichkeiten gibt, bei Lernenden nicht nur fachliche, sondern gezielt sozial-kognitive oder soziale Prozesse anzuregen, wäre das ein Beitrag für soziales Lernen in der Schule. In vier Artikeln aus verschiedenen Themenbereichen mit Bezug auf Schule werden die Fragestellungen aufgegriffen. Schulische Leistungssituationen erfordern die effektive Nutzung verschiedener Medien (z. B. die Nutzung von Strategien im Umgang mit Textmaterial) durch Lernende. Im ersten Beitrag wird vorgeschlagen, kognitive Lerntheorien um soziale Prozesse beim Lernen mit digital präsentierten Lernmaterialien zu erweitern. Schneider, Beege, Nebel und Rey verfolgen in Bezug darauf die Fragen, inwieweit bisherige empirische Befunde die Kognitiv-Affektiv-Soziale Theorie des Lernens mit Medien abdecken und welche Konsequenzen aus diesen Befunden für das Erstellen digital präsentierter Lernmaterialien entstehen. Soziale Effekte wurden schon im Hinblick auf statische Medien beschrieben (z. B. Text-Bild-Kombinationen). Dazu zählen kulturelle Hinweiszeichen, wie die Nutzung von Höflichkeitsformen in Instruk- 242 Editorial tionen, eine angemessene persönliche Ansprache der Lernenden oder das Auslösen sozialer Reaktionen durch emotionale Bilder. Darüber hinaus können soziale Effekte bei der Verwendung von dynamischen Medien auftreten. Beispiele dynamischer Medien und der Hinweisreize für soziale Effekte sind Töne, Animationen oder Lernvideos aus der Perspektive von Lernenden. Die Berücksichtigung sozialer Prozesse bei der Gestaltung von digitalen Lernmaterialien kann ein genaueres Verständnis von Lernvorgängen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ermöglichen. Beim Umgang mit Textmaterial ist die Beachtung mehrerer Perspektiven erforderlich, nämlich die Textform, formale Struktur (z. B. Gliederung mit Überschriften), inhaltliche Struktur (z. B. Schlüsselbegriffe) und die inhaltliche Bedeutung eines Textes. Im zweiten Beitrag wird deshalb die Annahme geprüft, inwieweit die berichtete Strategiennutzung beim Umgang mit Texten im Unterricht einen Beitrag für die spätere Bereitschaft zur sozialen Perspektivübernahme bei Lernenden leistet (Wolgast). Bei der sozialen Perspektivübernahme wird neben der eigenen Sichtweise die Perspektive einer anderen Person berücksichtigt. Um die Annahme zu prüfen, wurden Daten von Kindern der fünften Jahrgangsstufe aus der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) analysiert. Für die Kinder war die berichtete Nutzung von Strategien im Umgang mit Textmaterial im Unterricht während des ersten Halbjahres bedeutsam für ihre spätere Bereitschaft zur sozialen Perspektivübernahme. Im zweiten Halbjahr zeigten sich zudem reziproke Beziehungen zwischen diesen Strategien und der Bereitschaft zur sozialen Perspektivübernahme. Die Bereitschaft zur sozialen Perspektivübernahme gilt als Voraussetzung für das Verständnis für andere Personen (als soziale Kompetenz) und somit für die Stärkung sozialer Kontakte im Leben und für gesellschaftliche Teilhabe. Gesellschaftliche Teilhabe kann mit negativen Beziehungen zwischen sozialen Faktoren und schulischen Leistungen verbunden sein. So sollten Stereotype, die als bedrohlich wahrgenommen werden, im besten Fall mit gleichbleibenden schulischen Leistungen, statt mit einem Leistungsabfall, einhergehen. Hermann und Rumrich gehen der Annahme nach, dass Lernzielorientierung vor einer Beeinträchtigung durch Stereotype-Threat im Sportunterricht (Jungen sprinten schneller als Mädchen) schützt. Während Stereotype-Threat die Sprintleistung der Mädchen beeinträchtigte, verbesserte die Lernzielorientierung die Sprintleistung der Experimental- und Vergleichsgruppe gleichermaßen. Für die schulische Praxis ist dabei relevant, dass Lehrende Konzepte kennen und erkennen können, die als Lernvoraussetzung bei Schülerinnen und Schülern gelten. Dazu gehören beispielsweise die Einschätzung der eigenen schulischen Fähigkeiten, die Bedrohung durch bekannte Stereotype anderer oder die Lernzielorientierung. Ein drohender Leistungsabfall ist auch bekannt bei Kindern, die ihre schulischen Fähigkeiten zeitlich stabil niedrig einschätzen und damit ein niedriges Niveau des akademischen Fähigkeitsselbstkonzeptes aufweisen. Im Rahmen von Unterrichtsgestaltung mit verschiedenen Medien sind Lehrende oft mit der Beurteilung von Lernvoraussetzungen oder Leistungen der Lernenden befasst. Das Erkennen und zutreffende Beurteilen individueller Lernvoraussetzungen (z. B. die Lernzielorientierung) bei Schülerinnen und Schülern ist für eine schülerorientierte Unterrichtsgestaltung relevant. Zudem ist das Erkennen von Lernvoraussetzungen in zwei Kompetenzbereichen der Lehrerbildungsstandards (KMK, 2004) verankert. In sozialen Interaktionen, wie Fragen der Lehrperson und Antworten von Lernenden, können Lehrende Lernvoraussetzungen in Aussagen von Schülerinnen und Schülern bereits im Unterrichtsprozess erkennen. Wolgast, Stiensmeier- Pelster, Möller, Kaiser und von Aufschnaiter haben untersucht, inwiefern Lehramtsstudierende niedrige oder hohe Niveaus des akademischen Fähigkeitsselbstkonzeptes in Aussagen von Kindern in der fünften Jahrgangsstufe erkennen können. Zwar erkannten Lehramtsstudierende vor und nach einer Seminarsitzung zu individuellen Editorial 243 Lernvoraussetzungen das akademische Fähigkeitsselbstkonzept in den Aussagen der Kinder. Nach der Seminarsitzung waren die Einschätzungen jedoch genauer als vorher oder als bei einer Vergleichsgruppe. Zum Einsatz kam der Simulierte Klassenraum, der eine systematische Darbietung der Aussagen von Kindern für das Erkennen von Lernvoraussetzungen erlaubt. Weitere Faktoren können im Simulierten Klassenraum kontrolliert oder ausgeschlossen werden. Das ist ein Vorteil gegenüber realen Unterrichtssituationen, in denen Aussagen, die niedrige oder hohe Niveaus des akademischen Fähigkeitsselbstkonzeptes repräsentieren, unsystematisch auftreten. Es ist anzunehmen, dass Lehrende nach einem Training im Rahmen einer simulierten Unterrichtssequenz das akademische Fähigkeitsselbstkonzept in realen Aussagen von Kindern beim Unterrichten zutreffender beurteilen als ohne dieses Training. Diese Untersuchung steht jedoch noch aus und würde in der Zukunft eine praxisnahe Forschungslücke schließen. Zusammenfassend lassen die Beiträge annehmen, dass schulische Leistungen eine Funktion aus individuellen Lernvoraussetzungen, situativ fördernden oder hindernden sozialen Faktoren und Lernen im Unterricht sein können. Inwiefern Kinder und Jugendliche über soziale Hinweisreize in Medien und in virtuellen Umgebungen nicht nur den Umgang mit verschiedenen Medien, sondern auch den Umgang mit sozialen Situationen lernen, könnte in Längsschnittstudien erforscht werden. Insgesamt zeigen die vier Beiträge aus verschiedenen thematischen Bereichen, dass bereits der Umgang mit Lernmaterial (Schneider et al., in diesem Heft; Wolgast, in diesem Heft) oder Informationen aus sozialen Interaktionen (Herrmann & Rumrich, in diesem Heft; Wolgast et al., in diesem Heft) soziale Prozesse anregen können. Darüber hinaus ist den Beiträgen gemeinsam, dass sie jeweils Möglichkeiten des sozialen Lernens in Kontexten bieten, die bisher mit Leistungsmessungen assoziiert werden. Auch mögliche Anwendungen im Schulalltag werden in allen Beiträgen berücksichtigt und diskutiert. Literatur EUR-Lex (2005). European Youth Pact. Verfügbar unter http: / / eur-lex.europa.eu/ legal-content/ EN/ TXT/ ? uri =LEGISSUM%3Ac11081 Europäisches Parlament (2006). Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zu Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen. Amtsblatt der Europäischen Union, 49, 10 - 18. Verfügbar unter https: / / www.agenda-erwachsenenbil dung.de/ fileadmin/ user_upload/ agenda-erwachsenen bildung.de/ PDF/ Schluesselkompetenzen_fuer_lebens begleitendes_Lernen.pdf Jurkowski, S. & Hänze, M. (2014). Diagnostik sozialer Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen. Diagnostica, 60, 167 - 180. https: / / dx.doi.org/ 10.1026/ 0012- 1924/ a000104 Kanning, U. P. (2002). Soziale Kompetenz - Definition, Strukturen und Prozesse. Zeitschrift für Psychologie, 210, 154 - 163. https: / / dx.doi.org/ 10.1026/ / 0044-34 09.210.4.154 Kanning, U. P. (2009). Diagnostik sozialer Kompetenzen. Göttingen: Hogrefe. KMK (2014). Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16. 12. 2004 i. d. F. vom 12.06.2014, Anlage IV. Berlin: Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. Verfügbar unter https: / / www.kmk.org/ themen/ allgemeinbildende-schulen/ lehrkraefte/ lehrerbildung. html Petermann, F., Natzke, H., Gerken, N. & Walter, H. J. (2016). Verhaltenstraining für Schulanfänger: Ein Programm zur Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen. Göttingen: Hogrefe. Petermann, F. & Petermann, U. (2010). Training mit Jugendlichen: Aufbau von Arbeits- und Sozialverhalten. Göttingen: Hogrefe. Prof. Dr. Anett Wolgast Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Pädagogische Psychologie Franckepl. 1, Haus 5 06110 Halle (Saale) E-Mail: anett.wolgast@paedagogik.uni-halle.de