Psychologie in Erziehung und Unterricht
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0342-183X
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/peu2019.art05d
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2019
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Diskussion: Veränderung von Schule und Unterricht
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2019
Martin Bonsen
Die in dem Themenheft „Implementation von Veränderung in Schulen“ veröffentlichten Beiträge befassen sich mit einem für die schulische Qualitätsdiskussion zentralen Thema. Die Fragen, wie Neuerungen in die Schule gelangen und wie die pädagogische Praxis innoviert und verbessert werden kann, sind seit Jahrzehnten Gegenstand der bildungspolitischen Diskussion. Als Ratgeber dienen sich verschiedene Disziplinen mit je unterschiedlichen Perspektiven an. Einen Schwerpunkt der Diskussion um Schulreform und schulpädagogisch-didaktische Innovationen bildet im deutschsprachigen Raum traditionell die bildungs- und organisationssoziologische Perspektive, welche in der letzten Dekade um politikwissenschaftliche Begriffe (z.B. dem der Governance) ergänzt wurde. [...]
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Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2019, 66, 69 -71 DOI 10.2378/ peu2019.art05d © Ernst Reinhardt Verlag München Basel n Diskussion Veränderung von Schule und Unterricht - Eine psychologische Perspektive Martin Bonsen Westfälische Wilhelms-Universität Münster Die in dem Themenheft „Implementation von Veränderung in Schulen“ veröffentlichten Beiträge befassen sich mit einem für die schulische Qualitätsdiskussion zentralen Thema. Die Fragen, wie Neuerungen in die Schule gelangen und wie die pädagogische Praxis innoviert und verbessert werden kann, sind seit Jahrzehnten Gegenstand der bildungspolitischen Diskussion. Als Ratgeber dienen sich verschiedene Disziplinen mit je unterschiedlichen Perspektiven an. Einen Schwerpunkt der Diskussion um Schulreform und schulpädagogisch-didaktische Innovationen bildet im deutschsprachigen Raum traditionell die bildungs- und organisationssoziologische Perspektive, welche in der letzten Dekade um politikwissenschaftliche Begriffe (z. B. dem der Governance) ergänzt wurde. Die Beiträge des hier vorliegenden Themenheftes betrachten das Phänomen der Veränderung von Schule und Unterricht hingegen aus einer genuin psychologischen Perspektive. Die hier präsentierten Analysen setzen am Erleben der zentralen Akteure von Innovationsprozessen, nämlich den Lehrpersonen, an und untersuchen deren multifaktoriell bedingte Handlungsbereitschaft. Alle Beiträge nutzen empirisch-quantitative Zugänge. Die realisierten Stichproben der vier Studien lassen erahnen, dass das Forschungsfeld sensibel ist: Je mehr die Datenerhebung die freiwillige Beteiligung von Lehrerinnen und Lehrern erfordert, desto geringer ist der Rücklauf. Während Thoren, Hannover und Brunner (in diesem Heft) zentral verfügbare Testdaten und schulstatistische Daten nutzen können und somit Aussagen über alle Berliner Schulen in öffentlicher Trägerschaft mit mindestens einer Klasse der Schuleingangsphase treffen können, müssen die drei anderen Studien mit unterschiedlich großen Stichprobenausfällen umgehen. Kaum problematisch ist dies offenbar bei der Befragung von Schulleitungen (Böse, Neumann, Becker, Maaz & Baumert, in diesem Heft), größere Probleme bereiten aber freiwillige und anonyme Lehrkräftebefragungen. So können Fischer, Rieck und Döring (in diesem Heft) trotz großer Fallzahlen in ihren zwei Erhebungen nur 336 Personen für einen echten Längsschnitt identifizieren, der ein größeres wissenschaftliches Erkenntnispotenzial hat als Querschnittsdaten. Schließlich geben die Autorinnen die längsschnittliche Betrachtung auf und analysieren ihre Daten als die zweier Kohorten aus zwei Erhebungsjahren. Teerling et al. (in diesem Heft) können lediglich die Daten aus der Befragung von 66 Lehrkräften und Schulleitungsmitgliedern auswerten und müssen zusätzlich mit vielen fehlenden Werten im Datensatz arbeiten (ca. 24 %). Hier zeigt sich, wie herausfordernd schulische Innovationsforschung ist, wenn die individuelle Lehrerperspektive auf der Grundlage einer (notwendigerweise) anonymen und freiwilligen Befragungsteilnahme untersucht werden soll. Indes: Die Perspektive der Lehrkräfte, die als zentrale Akteure des Innovationsprozesses schließlich die pädagogischen Innovationen durch ihre Handlungen realisieren, ist, bei aller Herausforderung in der Datenerhebung, unerlässlich. Mit Blick auf die Untersuchungen sowohl von Teerling et al. (in diesem Heft) als auch von Fischer, Rieck und Döring (in diesem Heft) wären hinsichtlich der methodischen Weiterentwicklung Untersuchungen zum Effekt digitaler versus paper-pencil-Befragungen auf die Teilnahmebereitschaft und Zuverlässigkeit freiwillig teilnehmender Lehrkräfte sinnvoll. Nach derzeitigem Kenntnisstand bleibt es spekulativ, inwieweit die Datenbasis beider Studien durch mindestens parallel eingesetzte konventionelle Erhebungsmethoden hätte verbessert werden können. 70 Martin Bonsen Inhaltlich ergibt sich über die vier Beiträge hinweg ein durchaus kohärentes Bild. Die Begleitforschung zum Programm „SINUS an Grundschulen“ bietet Gelegenheit, anhand einer großen Stichprobe Lehrkräfte als Adressaten einer Innovation zu beforschen und somit Hinweise auf psychologische Bedingungen innovativer Unterrichtsentwicklung zu erhalten. Aufgrund der großen Stichprobe (3599 Lehrkräfte aus 600 Grundschulen) bietet der Praxisbeitrag einen umfassenden explorativen Einblick in die Thematik des Themenheftes. Im Hinblick auf die anderen Beiträge in diesem Heft gehören vor allem die Relevanz der Programminhalte, zustimmungsfähige Entwicklungsziele sowie ein erkennbarer Bezug zum Unterricht und dem eigenen Handeln zu den zentralen Faktoren der Akzeptanz bei den Lehrkräften des SINUS-Programms. Als gut funktionierend wird auch die kollegiale Zusammenarbeit bewertet. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die befragten Lehrkräfte das Bedürfnis hatten, sich laufend über Unterrichtsmaterial und konkrete didaktische Fragen zu beraten. Thoren, Hannover und Brunner (in diesem Heft) können dann in ihrem empirischen Beitrag zeigen, dass die Umsetzung einer Innovation auf Schulebene davon abhängt, inwieweit die Reform als passend zu den vor Ort erlebten pädagogischen Herausforderungen bewertet wird. So werden systemweite top-down-initiierte Reformen auf Schulebene unterschiedlich verarbeitet. Hier zeigt sich, dass Schulen, die durch stärkere Heterogenität der Schülerschaft gefordert sind, sich eher auf die Suche nach Lösungen (im Sinne der hier top-down-implementierten Systemreform) machen als weniger pädagogisch herausgeforderte Schulen. Dies ist motivationstheoretisch plausibel, da der vorgegebenen Reformmaßnahme ein höherer instrumenteller Wert zugemessen wird. Das Ergebnis fügt sich zudem schlüssig in die theoretische Diskussion um Führung und von Bildungseinrichtungen - vereinfacht und frei an Fullan und Miles (1992) angelehnt - auf den Punkt gebracht: „What works, depends on where you work“. Auch Teerling et al. (in diesem Heft) nehmen in ihrem empirischen Beitrag an, dass das Arbeitsumfeld die Auseinandersetzung der Lehrkräfte mit einer Neuerung bedingt, wobei sie jedoch kommunikative Aspekte wie die Kooperation in den Blick nehmen. Die Autorinnen und Autoren gehen davon aus, dass pädagogisch-didaktische Innovationsprozesse im ersten Schritt auf die Professionalisierung der Lehrkräfte fokussieren und die Innovation von Unterricht die Veränderung von Einstellungen und Verhaltensweisen erfordert. Ihre Ergebnisse zeigen, dass kollegiale Kooperation Lehrkräfte darin unterstützt, sich stärker von der Neuerung betroffen zu fühlen, sich vermehrt mit den Konsequenzen der Innovation und den Arbeitsmöglichkeiten mit anderen im Rahmen derselben auseinanderzusetzen. Interessant ist hierbei die differenzielle Bedeutung von Quantität und Qualität der Kooperation: Lehrkräfte, die häufiger kooperieren, setzen sich intensiver mit ihrer eigenen Rolle im Hinblick auf die Neuerung auseinander und fühlen sich in der Tendenz persönlich eher bedroht; gute Kommunikation im Kollegium vermittelt Sicherheit im Umgang mit Neuerungen. Teerling et al. (in diesem Heft) nutzen den theoretischen Ansatz der Stages of Concern nach Hall und Hord (2006). Die Operationalisierung dieses Entwicklungsstufen-Modells wurde mittlerweile mehrfach im deutschsprachigen Kontext eingesetzt und führt hier zu keinesfalls klaren und eindeutigen Ergebnissen. Vergleichsweise klar erscheint jedoch in verschiedenen Studien die Nichtpassung der Annahme von stages, d. h. nacheinander zu durchlaufenden Entwicklungsstufen. In einigen Studien wird diese fundamentale Modellannahme daher mittlerweile infrage gestellt und es wird nach Alternativen gesucht (z. B. durch die Bildung von Profiltypen oder die Postulierung eines multidimensionalen Konstrukts mit korrelierenden Sub-Dimensionen). Diese methodisch gut begründeten Versuche alternativer Modellierung entfernen sich auffallend von den Grundannahmen der Originalautoren Hall und Hord, was in weiterer Forschung offensiv und konstruktiv bearbeitet werden sollte. Die Nichtpassung der empirischen Daten zu den theoretischen Modellannahmen muss zu einem Überdenken und zur Weiterentwicklung der Veränderung von Schule und Unterricht - Eine psychologische Perspektive 71 theoretischen Annahmen genutzt werden. Teerling et al. (in diesem Heft) leisten diesbezüglich einen ersten fruchtbaren Beitrag: Die Integration der Stages of Concern in Wagners Modell (Change Management und Kommunikation; Wagner, Fries, Gerndt, Schaefer & Schüppel, 2010) erscheint schlüssig und könnte tatsächlich theoretisch und empirisch weiterführen. In dem empirischen Beitrag von Böse et al. (in diesem Heft), der ebenfalls mit dem Stagesof-Concern-Ansatz arbeitet, wird eine weitere interessante Forschungsperspektive deutlich. In diesem Beitrag werden Schulleitungen mithilfe der eigentlich für Lehrkräfte konzipierten Operationalisierung befragt. Für die Zukunft wäre hier die Übertragung des in englischer Sprache vorliegenden CFSoCQ (Change Facilitator Stages of Concern Questionaire) für Leitungspersonen in Betracht zu ziehen. Der Einsatz des CFSoCQ bei der Befragung von Schulleitungen wäre sicherlich ein methodischer und inhaltlicher Fortschritt innerhalb der schulischen Innovationsforschung. Böse et al. (in diesem Heft) untersuchen, inwieweit sich die oft postulierten Zusammenhänge zwischen Reformakzeptanz und Reformhandeln tatsächlich empirisch abbilden lassen. Unterschiede zeigen sich dabei zwischen den unterschiedlich von der Berliner Schulstruktur- Reform betroffenen Schulformen Integrierte Sekundarschule (ISS) und Gymnasium: Während die Herausforderung für die ISS größer ausfällt und diese Schulform tatsächlich Pionierarbeit leisten muss, können die Schulleitungen an etablierten Gymnasien ruhiger, gegebenenfalls abwartender an die erforderlichen schulorganisatorischen Veränderungen herangehen. Dieses zeigt sich dann auch in den zwischen den beiden Schulformen differenzierenden Bewertungen und Einstellungen. Die Studie liefert empirische Argumente dafür, dass Schulleitungen sich vor dem Hintergrund ihrer individuellen Werthaltungen, Überzeugungen und Erfahrungen mit größeren Reformmaßnahmen auseinandersetzen müssen. Weder ist per se eine von allen geteilte Zielvorstellung noch eine homogene Bewertung entsprechender Innovationen anzunehmen. Wie das vorliegende Themenheft verdeutlicht, sind die Perspektive der Lehrkräfte als zentrale Akteure sowie die Gegebenheiten vor Ort in den Schulen relevante Faktoren bei schulischen Innovationsprozessen (vgl. dazu auch Teerling & Köller, in diesem Heft). Bei deren Erforschung erweist sich dabei unter anderem die freiwillige Beteiligung von Lehrerinnen und Lehrern an der Datenerhebung als Herausforderung, deren Bewältigung bereits weiterer Forschung bedarf. So erscheinen beispielsweise Untersuchungen zum Effekt digitaler versus paperpencil-Befragungen auf die Teilnahmebereitschaft sinnvoll. Wie das Themenheft weiter verdeutlicht, lassen sich im Rahmen der schulischen Innovationsforschung unterschiedliche Perspektiven einnehmen, wobei jede für sich einen Beitrag zum Verstehen dieser komplexen Prozesse leistet (vgl. dazu auch Teerling & Köller, in diesem Heft). Die Aufgabe künftiger Forschung kann entsprechend darin liegen, die bestehenden Erkenntnisse zu verbinden. Auch methodisch können unterschiedliche Zugänge gewählt werden, wobei vor allem die Erweiterung und Überarbeitung von vorhandenen Modellen und Instrumenten - wie der Stages of Concern von Hall und Hord (2006) oder dem CFSoCQ - die Forschung bereichern und gleichzeitig Aufgabe künftiger Vorhaben darstellen können. Die Beiträge des Themenheftes „Implementation von Veränderung in Schulen“ können für künftige Forschungsvorhaben als Ausgangsbasis dienen und somit einen bedeutsamen Beitrag zur schulischen Innovationsforschung leisten. Literatur Fullan, M. G. & Miles, M. B. (1992). Getting reform right: What works and what doesn’t. Phi Delta Kappan, 73, 745 - 752. Hall, G. E. & Hord, S. M. (2006). Implementing change. Patterns, principles, and potholes. Boston: Allyn & Bacon. Wagner, E., Fries, S., Gerndt, U., Schaefer, H. & Schüppel, J. (2010). Wie erfolgreiche Veränderungskommunikation wirklich funktioniert? ! Berlin: Pro Business. Prof. Dr. Martin Bonsen Westfälische Wilhelms-Universität Münster Bispinghof 5/ 6 D-48143 Münster E-Mail: martin.bonsen@uni-muenster.de
